Psychologie

Früher warst du mein Superheld!

Entfremdung in der Familie: Wie du den Kontakt zu deinen Eltern verlieren kannst – und wie du ihn vielleicht wiederfindest. 

„Bei dir bin ich geborgen, egal wie sehr die Welt um mich herum tobt und schreit“, dachte ich im Alter von 3 oder 4 Jahren, wenn ich eng an meinen Vater gekuschelt einschlief. Ich war ein Papakind. Die Betonung liegt auf war. Wie kam es, dass ich ihn heute immer weniger häufig besuche? Ausreden finde? Innerlich genervt aufstöhne, wenn seine Nummer auf dem Handy-Display erscheint? Kürzlich ertappte ich mich sogar bei dem Gedanken: War er eigentlich immer schon so wehleidig? Und schon habe ich mich dafür geschämt, so etwas auch nur zu denken. Ich undankbares Kind! Dabei bin ich nicht alleine. Viele Erwachsene kennen das Gefühl, ihren Eltern emotional fremd zu sein.  Oft beginnt es schleichend. Wir entwickeln uns in verschiedene Richtungen, und plötzlich haben wir die Nähe verloren. Aus einer einst engen Bindung wird eine Pflichtgeschichte. Jeder lebt in seiner eigenen Welt. So entsteht Distanz. Besonders betroffen sind die Väter. Prof Dr. Karsten Hank vom Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der WiSo-Fakultät sagt, dass jede fünfte Vater-Kind-Beziehung von Entfremdung betroffen ist. Gemeinsam mit Oliver Arránz Becker von der Martin-Luther Universität, Halle-Wittenberg sprach er mit  mehr als 10.000 Personen über das Verhältnis zu ihren Eltern. 

Die Zahlen hinter der Entfremdung: Wer ist besonders betroffen?

    Es geschieht schleichend über einen Zeitraum von 10 Jahren, erläutert Arránz Becker: „Wenn Kind und Elternteil weniger als einmal im Monat Kontakt haben und sich dann auch noch emotional nicht nahestehen, bezeichnen wir das als Entfremdung.“ Die Datenlage ist eindeutig. 20 Prozent der erwachsenen Kinder in Deutschland entfremden sich von ihrem Vater, während es bei den Müttern nur 9 Prozent sind. „Dies lässt sich damit erklären, dass die Bindung zur Mutter oft enger ist als zum Vater“, sagt Hank. „Ob es sich beim Kind um einen Sohn oder eine Tochter handelt, spielte dabei kaum eine Rolle.“ Und ja, ich passe vollkommen ins Schema. Zu meiner Mutter ist der Kontakt besser. Sie ruft häufiger an, interessiert sich mehr für mich, hat selbst mehr zu erzählen und vor allen Dingen, sie jammert nicht herum. 

    Wenn die Nähe schwindet: Warum sich Eltern und Kinder entfremden

      Die Daten der „pairfam“-Längsschnittstudie belegen:  Die Gründe dafür sind vielseitig. Trennungen, neue Partnerschaften und Stieffamilien können zu Rissen in der Beziehung führen. Faktoren, die Eltern und Kinder auseinandertreiben, sind aber vor allem einschneidendere Familienereignisse. Stirbt ein Elternteil, beeinträchtigt das häufig die Beziehung zum anderen. „Das ist durchaus überraschend. Man würde eigentlich vermuten, dass die Bindung nach einem solchen Ereignis enger wird“, so Arránz Becker.  Doch oft geschieht das Gegenteil. Nun leben bei mir beide Eltern. Stiefeltern habe ich auch keine – aber die Entfremdung ist trotzdem spürbar. Sie ist einfach im Laufe der letzten Jahre gewachsen. Bei meinem letzten Besuch saß ich meinem Vater gegenüber und wir beide fanden keine Worte und saßen dort. Stumm. 

      Entfremdung ist kein Dauerzustand: Die Chancen auf Versöhnung

        Doch es gibt Hoffnung, sagt Hank. Entfremdung muss nicht für immer sein. Laut der Studie nähern sich 62 Prozent der Kinder wieder ihren Müttern und 44 Prozent ihren Vätern an. Diese Erkenntnis zeigt, dass es immer einen Weg zurück geben kann, auch wenn die emotionale Kluft groß scheint. Vielleicht braucht es Zeit und Geduld – aber Beziehungen können heilen.

        Emotionale Nähe beginnt bei dir: Offen und authentisch kommunizieren

          Tiefe Gespräche und ehrliche Kommunikation schaffen nicht nur Vertrauen, sondern auch Verbundenheit. Doch bevor du diese Tiefe von deinen Eltern einfordern kannst, solltest du dich fragen: Wie gut stehe ich zu meinen eigenen Gefühlen? Ich muss gestehen, dass mir der Gedanke schwerfiel, mit meinem Vater meine innersten Gedanken und Gefühle zu teilen. Ich wollte für ihn stark sein, ich wollte, dass er stolz auf mich ist. Wahrscheinlich geht es ihm genauso. Und deshalb konnte ich das nicht und habe einen anderen Weg gefunden: einen Filmabend. Alle 14 Tage treffen wir uns und schauen uns Horrorfilme an. Das mögen wir beide – und es brachte sofort eine andere Dynamik in unsere Beziehung. Ich bekomme bereits Montags eine Übersicht über die neuesten Filme, die mein Vater gerne sehen will. Und wenn ich am Freitagabend vorbeikomme, stehen die Nachos für mich und die Erdnüsse für ihn auf dem Tisch, und ein guter Rotwein atmet auch schon seit Stunden in einer Karaffe vor sich hin. Wir gruseln uns an den gleichen Stellen, schütteln sogar auf eine ähnliche Weise mit dem Kopf, wenn wir skeptisch sind. Wir sind uns halt ähnlich, und das zu entdecken, verbindet uns wieder neu. Ich hätte nicht gedacht, wie gut mir das tut. Und meinem alten Herrn auch.
          Wenn du merkst, dass die Beziehung zu deinen Eltern abzukühlen droht, warte nicht zu lange. Ein ehrliches Gespräch, regelmäßiger Kontakt und gemeinsame Interessen können helfen, die emotionale Distanz zu überbrücken. Es ist nie zu spät, einen Schritt aufeinander zuzugehen!

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