„Meine Frau ist unheilbar krank, und ich habe sie verlassen…”
Erzähl mir dein Leben:
„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.
Jetzt wandere ich mit meiner neuen Freundin nach Peru aus.“
Tobias, 47 Jahre alt, entschloss sich, seine unheilbar kranke Frau zu verlassen und mit einer neuen Partnerin nach Peru auszuwandern.
Tobias, vielen Dank, dass du bereit bist, über deine Entscheidung zu sprechen. Wie kam es dazu, dass du deine Frau verlassen hast, obwohl sie unheilbar krank ist?
Tobias:
Es war mit Sicherheit die schwierigste Entscheidung meines Lebens, und ich weiß, dass es von außen betrachtet herzlos und egoistisch erscheint. Aber die Wahrheit ist, dass die letzten Jahre für mich und meine Frau, Lisa, unglaublich schwer waren. Vor zwei Jahren wurde bei ihr eine unheilbare Krankheit diagnostiziert. Seitdem hat sich unser Leben drastisch verändert.
Am Anfang wollte ich alles tun, um ihr zu helfen. Ich war immer an ihrer Seite, bin mit ihr zu den Arztterminen gegangen, habe mich um sie gekümmert. Aber je mehr die Krankheit fortschritt, desto mehr begann ich mich emotional und physisch ausgelaugt zu fühlen. Es war, als ob mein ganzes Leben sich nur noch um die Pflege und die Krankheit drehte. Ich habe kaum noch geschlafen, hatte keine Zeit mehr für mich selbst, und irgendwann fühlte ich mich, als ob ich in einem Käfig gefangen wäre.
In dieser Zeit habe ich meine neue Freundin, Sarah, kennengelernt. Sie kam in mein Leben, als ich am schwächsten war, und gab mir die Unterstützung und Zuneigung, die ich so lange vermisst hatte. Ich wusste, dass meine Gefühle für Sarah kompliziert waren, weil ich immer noch mit Lisa verheiratet war und sie krank war, aber gleichzeitig konnte ich nicht ignorieren, wie sehr ich mich nach einem anderen Leben sehnte.
Schließlich kam der Moment, an dem ich mich entscheiden musste. Lisa hatte es akzeptiert, dass ihre Krankheit unheilbar war, aber ich konnte nicht mehr die Kraft aufbringen, an ihrer Seite zu bleiben. Ich weiß, wie hart das klingt, und ich schäme mich dafür, aber ich fühlte, dass ich erstickte. Sarah und ich haben uns dann entschieden, ein neues Leben in Peru zu beginnen – weit weg von all dem Schmerz, den ich mit meiner alten Existenz verbunden habe.
Wie hat deine Frau reagiert, als du ihr gesagt hast, dass du sie verlässt?
Tobias:
Sie war natürlich schockiert und sehr verletzt. Ich hatte lange mit mir gerungen, wie ich ihr diese Entscheidung mitteilen sollte, und ich wusste, dass es keine „gute“ Art gab, so etwas zu sagen. Als ich es ihr schließlich gesagt habe, hat sie geweint und mich gefragt, warum ich sie in ihrer schwersten Zeit allein lasse. Das hat mich unglaublich getroffen, weil ich wusste, dass sie recht hatte. Aber gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass ich nicht länger in der Lage war, ihr der Partner zu sein, den sie brauchte.
Sie sagte mir, dass sie sich immer auf mich verlassen hat und dachte, dass ich bis zum Ende bei ihr bleiben würde. Das hat mir das Herz gebrochen. Sie war so stark in ihrem Schmerz und ihrer Krankheit, und ich war derjenige, der schwach war und davonlief. Aber ich hatte auch das Gefühl, dass ich mein eigenes Leben verloren hatte, und ich konnte diesen Weg nicht mehr weitergehen. Es war ein Moment voller Schuld und Trauer, und ich wusste, dass es etwas war, das unsere Beziehung unwiderruflich zerstören würde.
Was hat dich dazu bewogen, trotz der Schuldgefühle mit deiner neuen Freundin nach Peru auszuwandern?
Tobias:
Sarah und ich haben lange darüber gesprochen. Sie wusste, dass ich mich schuldig fühlte und dass es nicht einfach für mich war, Lisa zu verlassen. Aber sie hat mir auch klar gemacht, dass ich ein Recht auf mein eigenes Glück habe, und das war etwas, was ich lange nicht mehr gefühlt hatte. In den letzten Jahren hatte ich alles für Lisas Pflege gegeben und dabei völlig vergessen, wer ich selbst bin.
Sarah hat mir gezeigt, dass es noch ein Leben jenseits der Krankheit gibt, und dass es möglich ist, wieder zu träumen und neue Abenteuer zu erleben. Peru war für uns beide ein Symbol für einen Neuanfang – eine Möglichkeit, all das hinter uns zu lassen, was so schwer und bedrückend war. Es war eine Flucht, ja, aber auch eine Chance, wieder zu leben.
Ich weiß, dass viele Leute denken, dass ich egoistisch bin, weil ich Lisa in ihrer schlimmsten Zeit verlassen habe. Und vielleicht haben sie recht. Aber ich war an einem Punkt, an dem ich keine Zukunft mehr für mich gesehen habe, wenn ich so weitermachen würde. Sarah und ich haben beschlossen, das Risiko einzugehen, nach Peru zu gehen und dort ein neues Leben zu beginnen. Es war eine Entscheidung für mich, und vielleicht auch für meine eigene Rettung.
Wie gehst du mit den Schuldgefühlen um, die du angesprochen hast?
Tobias:
Die Schuldgefühle sind immer noch da, und ich glaube nicht, dass sie jemals ganz verschwinden werden. Ich habe Lisa in einer Zeit verlassen, in der sie mich am meisten gebraucht hätte, und das ist etwas, das ich mir wahrscheinlich nie verzeihen werde. Es gibt Nächte, in denen ich wachliege und mich frage, ob ich den falschen Weg gegangen bin – ob ich hätte bleiben sollen, um ihr bis zum Ende beizustehen.
Aber ich versuche auch, mir selbst zu vergeben. Ich bin nur ein Mensch, und ich hatte meine eigenen Grenzen erreicht. Ich weiß, dass es leicht ist, von außen zu urteilen, aber niemand außer mir weiß, wie schwer es war, in dieser Situation zu sein. Ich habe mein Bestes gegeben, aber irgendwann war ich am Ende meiner Kräfte. Ich versuche, mich daran zu erinnern, dass es nicht falsch ist, auch an sich selbst zu denken, auch wenn die Konsequenzen schmerzhaft sind.
Hast du noch Kontakt zu Lisa? Weißt du, wie es ihr jetzt geht?
Tobias:
Nein, wir haben keinen Kontakt mehr. Nachdem ich gegangen bin, hat sie mir klar gesagt, dass sie nicht möchte, dass ich weiter Teil ihres Lebens bin. Das habe ich respektiert, auch wenn es schmerzhaft war. Ich habe ab und zu über gemeinsame Freunde erfahren, wie es ihr geht, aber es ist schwer, diese Informationen zu hören, weil sie mich immer wieder an meine Entscheidung erinnern.
Ich weiß, dass sie jetzt von ihrer Familie unterstützt wird und dass sie gute Pflege bekommt, aber es gibt Tage, an denen ich mich frage, ob ich doch hätte bleiben sollen. Gleichzeitig weiß ich, dass ich nicht derjenige war, der ihr die Unterstützung geben konnte, die sie brauchte. Es tut weh, das zu akzeptieren, aber es ist die Wahrheit.
Wie sieht dein Leben jetzt aus, nachdem du mit Sarah nach Peru ausgewandert bist?
Tobias:
Es ist ein kompletter Neuanfang, und das war genau das, was ich gebraucht habe. Peru ist wunderschön und so anders als das Leben, das ich in Deutschland hatte. Hier fühle ich mich frei und habe das Gefühl, dass ich mich wieder auf mich selbst konzentrieren kann. Sarah und ich erkunden das Land, genießen die Kultur und die Natur, und es fühlt sich an, als ob ich endlich wieder atmen kann.
Natürlich ist nicht alles perfekt. Die Schuld und die Vergangenheit verfolgen mich manchmal noch, und ich weiß, dass ich nicht einfach davonlaufen kann. Aber ich arbeite daran, mit diesen Gefühlen umzugehen und sie zu akzeptieren. Sarah ist eine unglaubliche Unterstützung, und wir bauen uns hier gemeinsam etwas Neues auf. Es ist aufregend und beängstigend zugleich, aber ich weiß, dass es das Richtige für mich ist.
Was wünschst du dir für die Zukunft, und wie siehst du deine Entscheidung heute?
Tobias:
Ich wünsche mir, dass ich in der Zukunft Frieden mit meiner Entscheidung finden kann. Ich weiß, dass es eine schwierige und kontroverse Entscheidung war, und ich verstehe, wenn andere Menschen sie nicht nachvollziehen können. Aber ich hoffe, dass ich eines Tages in der Lage bin, mir selbst vollkommen zu vergeben und zu akzeptieren, dass ich das getan habe, was für mich notwendig war.
Für Sarah und mich hoffe ich, dass wir uns hier in Peru ein glückliches Leben aufbauen können. Es ist ein Abenteuer, das wir gemeinsam begonnen haben, und ich bin dankbar, dass sie an meiner Seite ist. Sie versteht mich und unterstützt mich auf eine Weise, die mir hilft, mit den komplexen Gefühlen umzugehen, die mich manchmal überwältigen.
Letztendlich hoffe ich auch, dass Lisa ihren Frieden findet. Sie hat es nicht verdient, dass ich sie verlassen habe, und ich weiß, dass ich ihr damit wehgetan habe. Aber ich wünsche ihr von Herzen, dass sie die letzten Jahre ihres Lebens in Würde und mit Unterstützung ihrer Familie verbringen kann. Ich werde sie nie vergessen, aber ich weiß, dass unser gemeinsamer Weg zu Ende ist.
Tobias, vielen Dank, dass du so offen über deine Gefühle und diese schwierige Entscheidung gesprochen hast.
Tobias:
Danke dir. Es war nicht leicht, darüber zu sprechen, aber ich hoffe, dass meine Geschichte anderen Menschen zeigt, dass wir manchmal schwierige Entscheidungen treffen müssen, um unser eigenes Leben wieder in den Griff zu bekommen.
Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:
Wenn Pflicht und der Drang nach Freiheit aufeinanderprallen
„In guten, wie in schlechten Zeiten“, das versprechen sich Partner im Rahmen einer Ehe. Ganz egal, ob standesamtlich oder kirchlich, wer heiratet gibt ein Versprechen ab. Das heißt: „Von nun an bist du nie wieder alleine, solange ich lebe. Wir beide rocken das Leben gemeinsam und stehen alles durch, ganz egal, was da kommen mag.“ Wer dieses Versprechen nicht leisten kann, der braucht ja auch nicht zu heiraten. Das muss man ja heutzutage nicht mehr. Tobias aber hat es getan und er fand sich auf einmal an dieses Versprechen gebunden wieder. Fatal, wenn man es zwar gesagt, aber nicht so gemeint hat. Wer denkt denn auch an einem so schönen Tag darüber nach, dass es so etwas wie Krankheiten geben könnte? Und wenn das eintrifft, dann entsteht bei den meisten Angehörigen ein Konflikt. Niemand ist so edel, hilfreich und gut, dass er sich mir nichts dir nichts mal eben vollkommen hinten anstellt und alleine die Last für das gemeinsame Leben trägt. Man braucht nur in eine Selbsthilfegruppe für pflegende Angehörige zu gehen und dann merkt man, wie sehr das Schicksal an den Menschen zehrt. Oft entsteht dann als Gegenpol bei den gesunden Partner der unbändige Wille nach Freiheit. Es ist eine Antwort auf die Fesseln des Schicksals, die einem das Leben anlegen will. Und es liegt an jedem selbst zu entscheiden, ob und inwieweit man diesem Willen nachgibt. Im Grunde genommen steht man vor der Frage: „Was für ein Mensch will ich sein?“ Vertrauenswürdig, auch wenn es mich etwas kostet? Oder achte ich lieber auf mich und trete von meinem Versprechen zurück? In einer solchen inneren Konfliktsituation kommt es ganz häufig dazu, dass eine dritte Person ins Spiel kommt. Eine Geliebte, ein Geliebter, die zufällig ganz genau den Bedürfnissen entsprechen, die man gerade hat. Sie verkörpern den Ausweg, versprechen Abenteuer, einen Neuanfang und Freiheit. Tobias hat die Chance ergriffen. Er hat nicht nur seine schwer kranke Frau verlassen, er wandert mit der neuen Freundin gleich bis nach Peru aus. Stärker kann man sich nicht distanzieren. Es ist ein totaler Bruch. Natürlich kann man argumentieren, dass jeder Mensch das Recht auf persönliches Glück hat, aber Tobias’ Entscheidung zeigt, dass dieses Recht nicht isoliert von Verantwortung und Verpflichtungen betrachtet werden kann. Sich für Freiheit und Abenteuer zu entscheiden, ist eine Sache – doch jemanden in einem Moment größter Verletzlichkeit und Schwäche zu verlassen, ist eine ganz andere. Kein Wunder, dass in ihm Schuldgefühle wirken. Er rechtfertigt sich ja im Laufe dieses Gesprächs andauernd. Und deshalb gibt es neben der Hoffnung auf einen Neuanfang einen dichten Schatten, den er mit sich nimmt. Meiner Erfahrung nach geht so etwas nicht gut aus. Ich kann zwar nur spekulieren, aber ich gehe davon aus, dass die neue Beziehung bald nicht mehr funktioniert. Hier, mit einer kranken Frau, fand Tobias seine neue Freundin spannend und verheißungsvoll. Sie bot ihm genau das, was er gerade in dieser Situation vermisste. In Peru stellt sich die Situation anders da. Dort gibt es nur Tobias und Sarah. Und dann kann Sarah auf einmal anstrengend sein. Ihre Abenteuerlust? Lästig. Ihr Wunsch nach Freiheit? Angsteinflößend. Und ist sie loyal, offen, vertrauenswürdig? Wie vertrauenswürdig ist jemand, der einer schwerkranken Frau den Mann ausspannt? Wie dem auch sei, vermutlich passen die beiden ganz gut zueinander und werden noch einiges aneinander lernen.
Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.