
Hobbys entdecken: Neue Leidenschaften finden
Warum wir nicht mehr leisten müssen, um lebendig zu sein, sondern uns manchmal einfach verlieren dürfen, in Farbe, Klang, Spiel oder Stille.
Von Melike Arslan
Wenn man Lea kennenlernt, denkt man: Wow, diese Frau hat’s im Griff. Klarer Blick, kluge Sätze, strukturierter Kalender. Sie ist die, die an alles denkt, die, die morgens läuft, mittags moderiert und abends für Freund:innen da ist, die keine E-Mails vergisst, die mit Excel ihren Urlaub plant, und zwar so, dass noch Zeit fürs Museum bleibt, aber auch für das perfekte Airbnb mit Meerblick.
Und doch lag sie vor ein paar Monaten auf meiner Couch, mit einer Wärmflasche auf dem Bauch, einem Blick irgendwo zwischen erschöpft und leer, und sagte:
„Ich glaube, ich hab vergessen, wie sich Leichtigkeit anfühlt.“
Nicht die Leichtigkeit in Form eines optimierten Yoga-Workouts oder eines durchgetakteten Wellnesstags, sondern die echte. Die, bei der man sich nicht fragt, ob sie sinnvoll ist. Die, bei der man einfach mal etwas macht, das keinen Zweck hat, kein Ziel, kein Output, kein „Ich kann das jetzt in meinem Profil ergänzen“.
Wie Lea sich selbst wiederentdeckte
Es war ein regnerischer Sonntag, an dem sie es zum ersten Mal ausprobierte. Ich hatte ihr vor Wochen einen Malkasten geschenkt, so ein günstiger aus dem Bastelladen, und sie hatte ihn wie alles andere in ihrem Leben ordentlich einsortiert, aber nie benutzt. Bis zu diesem Sonntag. Sie setzte sich hin, ohne Vorlage, ohne YouTube-Tutorial, ohne Ziel.
Und dann malte sie. Nicht schön, nicht perfekt, aber frei.
„Ich habe zum ersten Mal seit Jahren vergessen, wie spät es ist“, hat sie mir später gesagt. „Ich war einfach… da, ohne Funktion.“
Es war der Anfang. Kein spektakulärer Neuanfang, kein radikaler Wandel, sondern ein zartes Aufbrechen, ein Spalt, durch den Licht fiel.
Warum Hobbys keine Belohnung sein müssen, sondern ein Zuhause werden können
Wir haben verlernt, Dinge nur um ihrer selbst willen zu tun. Unsere Hobbys sind oft Projekte, unsere Freizeit durchgeplant, unsere Zeit ein Investment. Aber was, wenn nicht jedes Tun einen Zweck braucht? Was, wenn das Sinnvollste manchmal genau das ist, was nichts bringt?
Hobbys sind Spielplätze für Erwachsene, ohne Bewertung, ohne Zielvereinbarung, ohne Likes. Und: Sie helfen uns, uns selbst wieder zu spüren, abseits der Rollen, die wir sonst so gut erfüllen. Sie sind Begegnungsorte mit der eigenen Weichheit.
Wie du deine neue Leidenschaft findest – Schritt für Schritt, ohne Druck
1. Lass dein inneres Kind mitentscheiden
Was hast du als Kind geliebt? Basteln, tanzen, Dinge auseinanderbauen, Geschichten erfinden? Wenn du willst, mach eine kleine Liste: Was hat mich früher glücklich gemacht, ohne dass ich dafür gelobt wurde? Das ist oft der ehrlichste Wegweiser.
2. Spür dich durch die Welten – Drei Hobby-Profile zum Ausprobieren
Das kreative Ich
Für alle, die gerne fühlen, formen, sehen, gestalten
Malen – nicht für Ausstellungen, sondern fürs Herz
Fotografieren – mit dem Handy, auf Spaziergängen
Handlettering, Collagen, Töpfern, Bullet Journaling
Lea hat mit Aquarell angefangen. Heute macht sie jeden Samstag „Farbsamstage“. Keine Termine, keine Listen, nur Farbe, Papier, Musik.
Das forschende Ich
Für alle, die gerne denken, entdecken, verstehen
Podcasts hören und selber aufnehmen
Astronomie, Geschichte, Philosophie lesen
Sprachen lernen, ohne Prüfung am Ende
Ich selbst habe Japanisch angefangen, nicht, weil ich es brauche, sondern weil mich die Sprache berührt.
Das sinnliche Ich
Für alle, die spüren wollen, ohne Ziel
Tanzen zu Musik aus den 2000ern in der Küche
Gärtnern, auch auf dem Balkon
Kochen ohne Rezept, nur nach Lust
Yoga, Qi Gong, Waldbaden
Lea hat entdeckt, dass sie gerne Blumen bindet. Jeden Sonntag geht sie auf den Markt, sucht sich Farben aus, stellt einen Strauß für sich selbst zusammen. Ein Ritual nur für sie.
3. Erlaub dir, Anfänger:in zu sein
Du musst nicht gut sein. Du musst nicht durchhalten. Du darfst drei Hobbys ausprobieren und dann merken, keins passt. Auch das ist Selbstfürsorge.
4. Finde deinen Rhythmus, nicht deinen Plan
Vielleicht brauchst du einen Hobby-Abend. Vielleicht reicht dir eine Viertelstunde pro Woche. Vielleicht hast du mal Lust, mal nicht. Du darfst fluktuieren. Das ist kein Rückschritt, das ist Leben.
5. Frag dich: Was tut mir gut, ohne dass ich es leisten muss?
Wenn du auf diese Frage eine ehrliche Antwort findest, bist du deinem neuen Hobby näher als jeder Liste.
Zum Schluss
Lea hat keine To-do-Liste mehr für ihre Freizeit. Dafür eine „Vielleicht-Liste“. Darauf stehen Dinge wie:
„Mit Wasserfarben kritzeln“, „Einen Kuchen backen, nur für mich“, „Eine Tanzplaylist machen, die keiner außer mir hört“.
Und manchmal, wenn sie abends doch wieder zu lange an Präsentationen feilt, liest sie sich selbst einen Satz vor, den sie mittlerweile glaubt: „Ich darf sein. Einfach so. Auch wenn ich nichts dafür tue.“
Vielleicht willst du dir das auch sagen. Heute. Jetzt. Und dann einfach ausprobieren, was in dir Freude weckt.
Der Kommentar von Theo, unserem Fotografen: Ich male in meiner Freizeit.
Wir leben in einer Zeit, in der jede Handlung ein Ergebnis bringen soll. Jede Geste ein Zweck. Jede Bewegung ein Profil.
Das Problem dabei: Das Leben wird funktional. Und damit flach. Hobbys erlauben einem Menschen, sinnlos zu sein. Und damit lebendig.
Ich glaube, das Eigentliche beginnt da, wo das Zweckhafte aufhört. Wo etwas entsteht, das nicht erklärbar ist. Ein Farbklecks, ein Ton, ein Gedanke. Kein Ziel. Kein Produkt. Nur ein Moment.
Kunst hat das immer gewusst. Kunst, die ernst gemeint ist, versucht nicht, zu gefallen oder zu erfüllen. Sie fragt nicht nach ihrem Platz, sie ist einfach da.
Vielleicht ist das, was du hier beschreibst, eine Form von Alltagskunst. Eine Rückeroberung des Nicht-Ergebnisorientierten.
Und vielleicht ist das Wichtigste nicht, ob etwas schön ist oder bedeutend. Sondern, ob es etwas in uns zum Klingen bringt, das lange still war.
Farben. Klänge. Stille. Das alles kann dich zu dir selbst führen.
Der Kommentar von Jenny, unserer Spezialisten für Ernährung:
Wir müssen nicht mehr leisten, um wertvoll zu sein. Manchmal ist ein Pinselstrich, ein Kuchenduft oder ein improvisierter Tanz in der Küche genau das, was unsere Seele nährt.
Ich bin ein großer Fan davon, Räume zu schaffen, in denen Kreativität, Intuition und Freude gedeihen können. Und deine „Vielleicht-Liste“ ist genau so ein Raum. Sie ist wie ein Garten, der nicht auf Ertrag gepflanzt ist, sondern auf Genuss. Und das ist, ehrlich gesagt, oft die beste Grundlage für Wachstum.
Was mir besonders gefällt: Du gibst nicht nur Ideen, du gibst Erlaubnis. Du sagst: Probier aus, spiel, sei Anfänger:in. Und du machst deutlich: Ein Hobby muss nicht dekorativ sein, um einen Wert zu haben. Es reicht, wenn es uns gut tut. Das ist eine ganz wichtige Botschaft in einer Zeit, in der wir oft nur Dinge zeigen, wenn sie vorzeigbar sind.
Und seien wir ehrlich: Ein Strauß selbst gebundener Blumen, ein chaotisch-schöner Kuchen nur für uns selbst, ein Nachmittag mit Wasserfarben, das ist nicht nur Seelenpflege, das ist auch ein ganz konkretes Stück Lebenskunst.
Ich glaube fest daran: Wer sich erlaubt, absichtslos zu gestalten, gestaltet am Ende auch ein erfüllteres Leben.
Und falls ich etwas auf deine Liste setzen dürfte: „Einen Apfelkuchen backen, ihn warm essen – und keinen einzigen Gedanken an Kalorien verschwenden.“ Einfach, weil es schön ist. Und weil wir es uns wert sind.