
Wenn der Körper die Geschichte weiterschreibt
Wie sich alte Rollen in uns festsetzen
„Ich halte das nicht mehr aus. Mein Rücken tut ständig weh – und keiner findet etwas.“ Clara war 41, schlank, gepflegt, kontrolliert. Eine von diesen Frauen, die alles im Griff haben. Oder besser gesagt: alles im Griff haben müssen. Seit Jahren plagten sie chronische Verspannungen – Nacken, Schultern, Rücken, manchmal auch das Zwerchfell. Als sie mir das erste Mal gegenübersaß, hielt sie die Arme eng an den Körper gedrückt, als würde sie sich selbst zurückhalten. „Ich bin immer angespannt. Selbst im Schlaf. Ich wache mit Schmerzen auf und gehe mit Schmerzen ins Bett. Ich war bei der Orthopädin, beim Osteopathen, sogar beim Neurologen. Niemand findet etwas. Aber ich spüre es doch!“ Was sie beschrieb, war nicht nur eine Muskelverspannung. Es war ein Körper, der auf etwas reagierte, das kein Arzt sehen konnte – weil es nicht im Gewebe, sondern in der Geschichte lag.
Anfangs wollte Clara reden – über den Körper.
Über Magnesium. Über Fehlhaltungen. Über Faszien. Die Knirsch-Schiene des Zahnarztes, die sie beim Schlafen störte. Aber je mehr Raum sie bekam, desto mehr schoben sich andere Sätze nach vorn. Sätze wie:
- „Ich durfte nie krank sein, das hat meine Mutter nicht ausgehalten.“
- „Wenn ich geweint habe, hieß es: Reiß dich zusammen.“
- „Ich konnte zehn Sachen gleichzeitig machen – und hab trotzdem Ärger bekommen.“
Und dann, irgendwann, ganz leise: „Ich glaube, ich dufte nie einfach nur mal in Ruhe irgendwo sitzen.“
Clara war ein Spiegelkind.
Sie hatte früh verstanden: Ich muss funktionieren. Ich bin wertvoll, wenn ich nützlich bin. Ich muss arbeiten, arbeiten, arbeiten.
Sie war der Sündenbock. Das Kind, das half. Die, die mit sechs Jahren allein Brote schmierte, wenn die Mutter „ihre Tage hatte“. Die, die still wurde, wenn der Bruder tobte. Die, die ihrer klagenden Mutter zuhörte und immer verstand – aber nie verstanden wurde. Ihr Körper war ein Archiv. In ihren Verspannungen steckte eine Kindheit voller emotionaler Verantwortung, die sie nie hätte tragen dürfen. In ihrer chronischen Anspannung lag ein ganzes Leben auf Zehenspitzen. Bereit, Stimmung zu retten. Bereit, die Laune der Mutter auszubalancieren. Bereit, alles zu sein – außer ein echtes Kind.
Die Wende kam nicht plötzlich.
Aber sie kam leise. Die Wende bei Clara – und bei vielen Menschen mit ähnlicher Geschichte – beginnt nicht mit einer Technik. Nicht mit Sport, nicht mit Magnesium, nicht mit einer Lösung von außen. Sie beginnt mit einer Erkenntnis. Es ist der Moment, in dem ein Satz durch die Schutzschicht nach außen sickert. Das geschieht oft beinahe beiläufig und es ist für einen Therapeuten sehr, sehr wichtig, hier einzugreifen und nachzuhaken, weil er so entscheidend ist. Es sind Schlüssel. Sie öffnen Türen, die lange verschlossen waren – und zwar die Türen zur eigenen Identität. Sie verändern alles, weil sie das erste ehrliche Wort sind, das jemand sich selbst gegenüber ausspricht.
Clara saß zum dritten Mal vor mir, die Hände fest ineinander verschränkt. Sie hatte über ihren Rücken gesprochen, über die vielen Ärztebesuche, über die Erschöpfung. Und dann, ganz nebenbei, hatte sie gesagt: „Ich glaube, ich empfinde es als Schwäche, wenn ich Ruhe brauche.“ Es war still nach diesem Satz. Ich sah, wie er nachklang – in ihrem Atem, in ihrem Blick, in ihrer Haltung. Und ich sagte nicht sofort etwas. Weil manche Sätze nicht übertönt werden sollten. Sie nickte. Einmal. Langsam. „Ich kann nicht mal sagen, wann ich müde bin. Ich mache einfach weiter.“ Sie sah mich an. Zum ersten Mal nicht kontrolliert, sondern offen.
Und etwas in ihr schien zu bröckeln. „Ich hatte immer das Gefühl: Wenn ich stillhalte, passiert etwas Schlimmes. Wenn ich mich ausruhe, dann… bin ich nicht mehr stark. Und wer nicht stark ist, der geht unter.“
Ich fragte: „Ist das so?“ Clara schüttelte den Kopf. Nicht heftig, nicht trotzig – sondern zögerlich. Sie atmete tief ein. Und zum ersten Mal atmete sie nicht flach – sondern weit. Dann sah sie mich an. Und in ihrem Blick lag diese Mischung aus Angst und Mut, die ich bei vielen Menschen kenne, die beginnen, sich selbst zurückzuerobern. „Ich glaube, ich habe mich nie wirklich ausgeruht. Auch nicht in meiner Ehe.“ Sie sagte es fast wie eine Frage – als würde sie sich selbst dabei zuhören. Ich schwieg. Und das war das Ja, das sie brauchte.
„Mein Mann… er hat mich immer gelobt, wenn ich alles im Griff hatte. Wenn ich organisiert war, gut aussah, präsent. Aber wenn ich mal gesagt habe: Ich kann nicht mehr – dann hat er gesagt: Du übertreibst. Oder: Jetzt reiß dich zusammen. Und ich hab’s geglaubt. Ich hab gedacht, das ist Liebe. Wenn ich stark bin, bin ich liebenswert. Wenn nicht, nicht.“
Sie drehte den Ehering an ihrem Finger, langsam, nachdenklich. „Ich habe ihn nie gefragt, ob er mich wirklich sieht. Ich habe es gar nicht versucht. Ich wollte so sehr beweisen, dass ich keine Last bin… dass ich nie gezeigt habe, wie schwer es wirklich war.“ Ich sagte: „Manchmal leben wir mit jemandem zusammen – und sind trotzdem allein. Nicht, weil wir uns nicht lieben. Sondern weil wir uns nicht zeigen.“
Clara schluckte. Dann sagte sie leise: „Ich glaube, ich bin in dieser Beziehung genauso wie früher bei meiner Mutter: Ich funktioniere. Ich bin brav. Ich bin da. Aber ich bin nicht ich.“ Und dann:
„Wenn ich ganz ehrlich bin – ich weiß gar nicht, wie ich bin. Nur, wie ich sein soll.“ Sie lehnte sich zurück. Nicht mehr steif. Ein bisschen müde, aber nicht mehr erschöpft. Eher wie jemand, der einen alten Koffer abgestellt hat – und merkt, dass er überhaupt nicht wusste, wie schwer er war. Ich sagte nichts. Ich ließ es wirken. Und sie sagte zum ersten Mal selbst, ganz leise: „Ich glaube, ich will nicht mehr stark sein. Ich will echt sein.“
Wenn der Körper sprechen könnte
In der nächsten Stunde bat ich Clara, sich hinzulegen. Nur für einen Moment. Kein Muss, kein Ziel. Nur atmen. Nur da sein. Sie war still. Und in dieser Stille fragte ich sie: „Wenn dein Rücken sprechen könnte – was würde er dir sagen?“
Clara zuckte kaum sichtbar. Dann schloss sie die Augen. Und es dauerte einen Moment, bis etwas kam. Nicht als klare Antwort. Sondern wie ein Echo. Ein Hauch. „Er sagt… ich kann nicht mehr. Ich trage zuviel. “ Ihre Stimme war brüchig. „Er sagt… ich hab dich all die Jahre getragen. Ich hab dich gestützt, damit du nicht umfällst. Ich hab alles ausgehalten – die Tränen, die Worte, die Angst.
Und jetzt… bin ich fertig. Es wird zuviel.“
Ich bat sie, ihre Hand dort auf den Körper zu legen, wo sie es brauchte und sie legte sich die Hand auf den unteren Rücken. Ganz sacht. Tröstend. Wir blieben eine Weile so. Sie atmete. Tief. Flacher. Dann wieder tief. Es war nicht perfekt – aber es war echt. Kein Funktionieren. Kein Müssen. Nur Clara – und ihr Körper. Endlich miteinander im Gespräch. Eine Träne rollte über ihre Wange. Und ich wusste: Etwas war in Bewegung gekommen. Nicht nur in ihren Gedanken. Sondern tief in ihrem Gewebe. Dort, wo Heilung beginnt – wenn ein Mensch zu sich selbst zurückkehrt.
Es gibt Erinnerungen, die keinen Namen haben.
Keine Bilder, keine klaren Worte. Und doch sind sie da – in jeder Zelle, in jeder Muskelspannung, in jedem Atemzug. Wer als Kind nicht gesehen wurde, wer sich verbiegen musste, um zu überleben, der trägt seine Geschichte oft nicht im Kopf, sondern im Körper. Der Körper hat nicht vergessen. Auch wenn du dich heute an „nichts Schlimmes“ erinnerst. Auch wenn du sagst: „So schlimm war es doch nicht.“ Dein Körper weiß es besser. Er ist ehrlich. Er rechnet nicht schön. Er schützt nicht den Täter. Er relativiert nicht. Er erinnert sich – einfach so.
Spiegelkinder entwickeln oft früh körperliche Reaktionen auf das, was sie nicht ausdrücken durften:
- Spannung im Kiefer, weil sie zu viel geschluckt haben
- Magenschmerzen, weil sie Konflikte tragen mussten
- Migräne, weil sie ständig unter Druck standen
- chronische Erschöpfung, weil sie nie zur Ruhe kamen
- Atemprobleme, weil sie gelernt haben, sich klein zu machen
- Verspannungen, weil sie immer auf der Hut waren
Und das alles passiert oft unbemerkt – weil es das gewohnte Körpergefühl ist. Es fühlt sich „normal“ an, wenn man nie gelernt hat, sich sicher zu fühlen. Aber das Nervensystem ist im Daueralarm.
Das autonome Nervensystem hat zwei Hauptaufgaben:
1. Gefahr erkennen
2. Sicherheit ermöglichen
Wenn du als Kind nie wirklich sicher warst – emotional gemeint –, dann stellt sich dein Nervensystem auf Überleben ein:
- Du bist ständig wachsam
- Du reagierst überempfindlich auf Stimmungen anderer
- Du kannst schlecht abschalten oder schlafen
- Du fühlst dich schuldig, wenn du dich entspannst
Dein System hat gelernt: Wenn ich loslasse, passiert etwas Schlimmes. Dieser Alarmzustand wird zur Grundstimmung deines Körpers – auch wenn du längst erwachsen bist. Es ist ein Unterschied, ob du das goldene Kind warst oder der Sündenbock – beide Rollen hinterlassen Spuren im Körper.
Das goldene Kind
- steht unter Daueranspannung
- hält sich aufrecht, selbst wenn es innerlich erschöpft ist
- spürt seine Grenzen kaum – weil es immer drüber geht
- atmet flach, weil „Raum einnehmen“ gefährlich war
- hat oft Magen- oder Darmprobleme – weil es alles „halten“ musste
Der Sündenbock
- trägt eine schwere Last auf Schultern und Rücken
- neigt zu Verspannungen, Zähneknirschen, innerer Unruhe
- fühlt sich körperlich oft „fehl am Platz“ – wie ein Fremdkörper
- hat einen überaktiven Fluchtreflex oder fällt in Erstarrung
- kämpft mit chronischen Schmerzen oder diffusen Beschwerden
Beide Körper erzählen dieselbe Geschichte: Ich habe früh gelernt, mich selbst zu verlassen.
Was bedeutet das für dich heute?
Du kannst deinen Körper nicht überreden, sich sicher zu fühlen. Aber du kannst beginnen, ihm zuzuhören. Und das ist der Anfang jeder Heilung.
Heilung geschieht nicht nur durch Verstehen. Sie geschieht, wenn dein System endlich begreift:
Du bist jetzt sicher. Du darfst atmen. Du darfst dich zeigen. Du darfst dich entspannen, ohne dass etwas Schlimmes passiert.

Zum Weiterlesen: “Aschenkind” von Livia Brand. Viele Kinder narzisstischer Mütter wachsen äußerlich „gut“ auf. Sie sind gepflegt. Werden pünktlich zur Schule gebracht. Haben eine Brotdose mit geschnittenem Obst. Was fehlt, ist nicht das Sichtbare – es fehlt das Gesehenwerden. Betroffene wissen im Inneren, dass etwas nicht stimmt, haben aber keine Worte dafür. Ein Selbsthilfe-Ratgeber für alle, die glauben, nicht richtig zu sein. Es kann sein, dass die Ursache gar nicht in dir liegt.