Psychologie

„Ich bin arbeitslos – und möchte auch nicht mehr arbeiten.“

Erzähl mir dein Leben:

„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.

Man kann auch leben, ohne zu arbeiten. Oder?

Stefan, 46 Jahre alt, ist seit zwei Jahren ohne Job und hat sich entschieden, nicht mehr in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Wie ist seine neue Lebensphilosophie?


Stefan, danke, dass du bereit bist, über deine Entscheidung zu sprechen. Wie kam es dazu, dass du nicht mehr arbeiten möchtest?

Stefan:
Es war ein schleichender Prozess. Ich war über zwanzig Jahre in meinem Job, ein klassischer Bürojob. Lange Zeit dachte ich, das sei es, was man eben tut – arbeiten, sich anstrengen, für die Familie sorgen. Aber je älter ich wurde, desto mehr fühlte ich, wie sich in mir eine Art Widerstand aufbaute. Es war nicht nur die tägliche Routine, die mich zermürbt hat, sondern das ganze System: die Erwartung, dass man ständig produktiv sein muss, dass Erfolg über die Anzahl der Arbeitsstunden definiert wird.

Dann kam eine Umstrukturierung in der Firma, mein Job wurde gestrichen, und ich war plötzlich arbeitslos. Am Anfang dachte ich, ich müsste mich sofort um etwas Neues bemühen. Aber je länger ich darüber nachdachte, desto mehr wurde mir klar: Ich wollte gar nicht mehr zurück. Die Vorstellung, wieder in dieses Hamsterrad einzusteigen, erfüllte mich mit einer tiefen Abwehr.

War diese Entscheidung von Anfang an klar für dich, oder gab es Zweifel?

Stefan:
Zweifel gab es definitiv. Es ist ja nicht so, dass man von heute auf morgen sagt: „Ich höre auf zu arbeiten.“ Es gab viele schlaflose Nächte, in denen ich mich gefragt habe: „Was mache ich jetzt mit meinem Leben? Bin ich wirklich bereit, die Konsequenzen zu tragen?“ Die gesellschaftlichen Erwartungen sind riesig. Wenn du sagst, dass du nicht arbeiten möchtest, bist du sofort der Faulenzer, der Schmarotzer. Aber ich habe irgendwann gemerkt, dass mich diese Gedanken nur noch unglücklicher machen.

Es war ein langsamer Prozess der Befreiung, zu akzeptieren, dass mein Wert nicht an meine Arbeit gebunden ist. Ich habe mich gefragt: Was bringt mir das, wenn ich mein ganzes Leben für eine Karriere opfere, die mich leer und ausgebrannt zurücklässt? Was, wenn ich mich für etwas anderes entscheide – auch wenn es unkonventionell ist?

Wie haben deine Freunde und deine Familie auf diese Entscheidung reagiert?

Stefan:
Das war nicht leicht. Besonders meine Familie war schockiert. Meine Eltern gehören noch zu der Generation, in der Arbeit der zentrale Lebensinhalt ist. Sie konnten es nicht verstehen, warum ich mit 46 „aufgeben“ wollte. Es gab viele Diskussionen, viel Unverständnis. Aber ich kann ihnen das auch nicht verübeln. Sie haben mich ja nicht verstoßen oder so, aber es ist, als ob ich eine unsichtbare Linie überschritten habe. Diese ständige Frage: „Hast du schon etwas Neues gefunden?“ – das war schwer.

Meine Freunde waren geteilter Meinung. Einige haben es verstanden, weil sie selbst in einem ähnlichen Hamsterrad stecken, aber nicht den Mut haben, auszusteigen. Andere haben mich für verrückt erklärt. Aber im Endeffekt musste ich lernen, dass es meine Entscheidung ist. Niemand außer mir lebt mein Leben, und niemand außer mir spürt, wie sich dieses ewige Arbeiten auf meine Seele ausgewirkt hat.

Wie sieht dein Leben heute aus, ohne Arbeit?

Stefan:
Es ist ganz anders, als ich es mir früher vorgestellt hätte. Ich habe viel Zeit, und das war am Anfang eine Herausforderung. Man ist es gewohnt, dass der Tag durchstrukturiert ist, dass man sich nach der Arbeit richtet. Plötzlich ist da diese Leere, und die muss man füllen. Es hat eine Weile gedauert, bis ich herausgefunden habe, was mir wirklich wichtig ist.

Jetzt genieße ich meine Freiheit. Ich lese viel, ich gehe wandern, ich habe angefangen zu malen. Es gibt keine Deadlines, keinen Druck, keine ständigen Anforderungen. Natürlich ist es manchmal schwer, sich finanziell durchzuschlagen, aber ich habe gelernt, mit weniger zufrieden zu sein. Diese innere Ruhe, die ich gewonnen habe, ist unbezahlbar. Und das ist es, was zählt.

Viele Menschen würden sagen, dass Arbeit einen Sinn gibt. Wie stehst du dazu?

Stefan:
Das höre ich oft, ja. Arbeit gibt einem Sinn – aber nur, wenn man sich wirklich damit identifiziert. Für mich war Arbeit immer etwas, das ich tun musste, nicht etwas, das mich erfüllt hat. Ich habe nie diesen tiefen Sinn darin gesehen, für einen Konzern zu arbeiten und Zahlen zu schieben. Ich verstehe, dass manche Menschen darin aufgehen, und das ist gut für sie. Aber ich denke, der Sinn im Leben muss nicht zwangsläufig mit Erwerbsarbeit verbunden sein.

Ich finde meinen Sinn jetzt in den kleinen Dingen: in der Natur, in kreativen Prozessen, im Austausch mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Ich habe gelernt, dass es mehr als einen Weg gibt, sein Leben sinnvoll zu gestalten.

Wie gehst du mit dem gesellschaftlichen Druck um, der auf Menschen ohne Arbeit lastet?

Stefan:
Es ist nicht leicht, dem zu entkommen. Es gibt immer wieder Momente, in denen man sich fragt, ob man falsch liegt, ob man nicht doch „mitziehen“ sollte. Aber dann erinnere ich mich daran, wie ich mich früher gefühlt habe, als ich in einem Job gefangen war, der mich innerlich zerfressen hat. Dieser Druck ist nicht real – er wird von außen auf uns projiziert. Wenn man lernt, diesen Druck loszulassen, öffnet sich eine ganz neue Welt.

Ich versuche, mich auf das zu konzentrieren, was mir wichtig ist. Ich habe auch angefangen, Menschen zu suchen, die ähnliche Lebenswege gehen, die alternative Konzepte von Arbeit und Leben verfolgen. Es ist befreiend zu wissen, dass ich nicht allein bin und dass es viele gibt, die sich bewusst gegen die traditionelle Arbeitsweise entschieden haben.

Was würdest du anderen Menschen sagen, die sich ebenfalls in ihrer Arbeit gefangen fühlen?

Stefan:
Ich würde ihnen raten, tief in sich hineinzuhören. Es ist leicht, sich von den Erwartungen der Gesellschaft lenken zu lassen, aber am Ende des Tages muss man sich selbst fragen: „Bin ich glücklich? Erfüllt mich das, was ich tue?“ Wenn die Antwort „Nein“ lautet, dann ist es Zeit, darüber nachzudenken, was wirklich zählt.

Es gibt kein „richtig“ oder „falsch“, wenn es um den eigenen Lebensweg geht. Manche finden Erfüllung in der Arbeit, andere nicht. Wichtig ist, dass man sich selbst treu bleibt und den Mut hat, unkonventionelle Entscheidungen zu treffen, wenn das das Richtige für einen selbst ist.

Stefan, vielen Dank, dass du so offen über deinen Weg gesprochen hast.

Stefan:
Gern. Es ist wichtig, dass wir über solche Themen sprechen, damit auch andere Menschen erkennen, dass es alternative Lebenswege gibt – und dass es in Ordnung ist, diese zu gehen.

Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:

Leben ohne Arbeit geht nur auf Kosten anderer.
“Stefans Geschichte zeigt uns, dass der Wunsch, nicht mehr arbeiten zu wollen, oft nach einem Prozess entsteht. Man ist im falschen Job, arbeitet ständig unter zuviel Druck, als gut für einen wäre   oder fühlt sich einfach fehl am Platz. Dann kommt bei vielen Menschen manchmal der Punkt, ab dem nichts mehr geht. Wäre Stefan nicht arbeitslos geworden, hätte er wahrscheinlich weitergemacht und ich wage zu behaupten, dass er vermutlich in einem Burn-Out gelandet wäre. Es ist eine Vorstufe. Und leider, lieber Stefan, bleibt du in dieser Vorstufe stecken und richtest dich dort behaglich ein, anstatt zu heilen und eine neue Vision für dein Leben zu entwickeln. Das geht aber nur auf Kosten anderer. In unserem Land leben wir sicher. Für uns ist gesorgt, wenn wir krank sind, keine Arbeit haben oder kein Geld. Das beruht auf dem Gedanken unserer Solidaritäts-Gesellschaft. Wir Deutschen lassen keinen zurück. Niemand soll in Not geraten, dafür geben wir während unserer Arbeit einen Teil unseres Geldes ab. Damit die Kranken, die Armen und die Alten gut versorgt sind. Wenn nun aber gesunde Menschen sich dauerhaft ebenfalls von diesem „Kuchen“ ihren Teil nehmen, geht die Rechnung irgendwann nicht mehr auf. Denn das ist nicht der Grundgedanke dahinter. Und das, lieber Stefan, spürst du deutlich. Denn in deinem Gespräch rechtfertigst du deine Entscheidung permanent, unter anderem mit Hinweis auf dein Seelenwohl. Aber willst du mir ernsthaft erzählen, dass du nicht in der Lage bist, im Einklang mit deinem Seelenwohl eine Arbeitstätigkeit auszuüben? Was wäre, wenn du im sozialen Bereich arbeitest? Als Altenpfleger oder Erzieher? Du willst nicht mehr mit Menschen arbeiten? Dann arbeite mit Blumen und Bäumen und werde Gärtner. In jedem Bereich werden händeringend Arbeitskräfte gesucht, also bring dich ein. Nimm eine Halbtagsstelle, wenn dir das Geld reicht und du auch noch Zeit für deine Hobbys brauchst – aber wenn du Teil dieser Gemeinschaft sein willst und diese weiterhin funktionieren soll, musst du dich von dieser Niederlage erholen, heilen, und mit frischer Kraft und neuen Einsichten wieder durchstarten. Such dir notfalls Hilfe und lass dich von deinem Berater beim Arbeitsamt über Umschulungen informieren. Entfache das Feuer erneut, das in jedem Menschen brennt und treffe eine neue Entscheidung für den Beruf, die besser zu dir passt. Denn nur so stellst du sicher, dass es anderen Menschen, denen es vielleicht einmal genauso ergeht wie dir, auch finanziell von der Gesellschaft aufgefangen werden, bis sie wieder gesund werden. 

Du kannst dir einreden, dass es hier um Selbstverwirklichung geht, um das Streben nach einem erfüllteren Leben, das nicht von Karriere und Leistung bestimmt wird. Aber seien wir ehrlich: Wie viel davon ist wirklich der Wunsch nach Freiheit, und wie viel davon ist der einfache Drang, sich aus der Verantwortung zu stehlen? Es ist bequem, die Arbeitswelt als etwas Negatives abzustempeln, als Gefängnis, das dich einsperrt und deiner wahren Bestimmung beraubt. Doch oft ist diese “Freiheit” nur eine Ausrede, um der Anstrengung zu entkommen.

Die Wahrheit ist, dass Verantwortung unbequem ist. Sie zwingt uns, uns mit uns selbst auseinanderzusetzen, uns an Standards zu messen und durch Herausforderungen zu wachsen. Arbeit – sei es im beruflichen oder persönlichen Bereich – fordert von uns, dass wir uns einbringen, dass wir uns engagieren, dass wir uns manchmal aufreiben. Sie konfrontiert uns mit unseren Grenzen und zwingt uns, diese immer wieder zu hinterfragen. Aber genau darin liegt die Chance: die Möglichkeit, etwas zu schaffen, das über uns selbst hinausgeht. Dabei reift etwas in uns – unser Selbst, oder unsere Seele. Erst in der Auseinandersetzung mit der Welt erfahren wir, wer wir wirklich sind. Das ist wichtig. Das Loslassen von gesellschaftlichen Erwartungen wird oft als Akt der Rebellion gefeiert, als mutige Entscheidung, den eigenen Weg zu gehen. Aber was ist, wenn dieses “Loslassen” in Wahrheit nur eine Flucht ist? Eine Flucht vor der Herausforderung, etwas Konkretes zu schaffen, vor der Notwendigkeit, Kompromisse einzugehen, vor dem Risiko des Scheiterns? Es ist einfach, sich zurückzulehnen und zu sagen: “Ich lebe außerhalb dieser Normen.” Doch wo bleibt der Mut, sich mitten in diese Normen zu stürzen und sie vielleicht von innen heraus zu verändern? Die unbequeme Wahrheit ist, dass Wachstum oft aus dem entsteht, was uns am meisten fordert. Ein Leben ohne Arbeit, ohne Verantwortung mag verlockend klingen, aber es birgt auch die Gefahr, dass du am Ende stagnierst – dass du dich von den Herausforderungen des Lebens zurückziehst, anstatt dich ihnen zu stellen und daran zu wachsen.”

Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.

Teilen