Psychologie

“Ich war nie gut genug.”

Erzähl mir dein Leben:

„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.

„Mein Bruder war immer das Goldkind.“

Emotionale Misshandlung durch die eigene Mutter hinterlässt tiefe Wunden, die oft das gesamte Leben prägen. Miriam (33) versucht, mit ihrer Kindheit Frieden zu schließen.

Miriam, vielen Dank, dass du bereit bist, über deine schwierigen Erfahrungen zu sprechen. Wann hast du zum ersten Mal realisiert, dass deine Mutter dich anders behandelt als deinen Bruder?

Miriam:
Das war eigentlich schon sehr früh, obwohl ich als Kind natürlich nicht verstanden habe, was wirklich passiert. Ich habe einfach gemerkt, dass mein Bruder immer gelobt wurde, egal was er tat, während ich ständig kritisiert wurde. Wenn er etwas gut gemacht hat, gab es sofort Lob und manchmal sogar Belohnungen. Ich hingegen musste mich immer besonders anstrengen, und selbst dann war es nie genug.

Ich erinnere mich daran, dass ich es ungerecht fand. Es war, als ob meine Mutter ihn auf ein Podest stellte und ich immer im Schatten stand. Egal, was ich tat, sie fand immer etwas zu bemängeln. Das hat mich tief verunsichert und ich begann früh zu glauben, dass ich irgendwie „falsch“ war.

Wie hat sich diese Ungleichbehandlung im Alltag geäußert?

Miriam:
Es waren die alltäglichen Dinge, die mir klar machten, dass ich niemals in den Augen meiner Mutter gut genug sein würde. Wenn ich beispielsweise gute Noten nach Hause brachte, war ihre Reaktion eher gleichgültig oder sie fand etwas, das noch besser hätte sein können. Sie sagte oft: „Das hättest du noch besser machen können“ oder „Warum hast du hier keine Eins?“ – als ob meine Leistungen nie reichten.

Bei meinem Bruder war es das Gegenteil. Selbst kleine Erfolge wurden gefeiert. Er bekam Geschenke, Lob und Bewunderung, und ich habe oft daneben gestanden und hab mir ein Loch in den Bauch geärgert. Es war nicht nur der Mangel an Lob für mich, sondern auch die ständige Kritik. Wenn ich etwas falsch machte – selbst Kleinigkeiten – wurde ich ausgeschimpft oder ignoriert, während mein Bruder für die gleichen Fehler nicht einmal zurechtgewiesen wurde.

Besonders hart war es, wenn sie mich mit ihm verglichen hat. Sätze wie „Warum kannst du nicht so sein wie dein Bruder?“ oder „Wenn du wärst, wie dein Bruder, dann wäre ich glücklich“ haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Einmal hat sie mir ins Gesicht gezischt „Du bist schuld, dass ich so unglücklich bin. Niemand kann dich lieben“. 

Wie hast du dich als Kind in dieser Umgebung gefühlt?

Miriam:
Gar nicht. Rückblickend habe ich mich unsichtbar gemacht. Wenn meine Mutter mich wahrnahm, war das nie gut für mich. Es gab immer eine spitze Bemerkung, eine kleine Grausamkeit. Einmal kam ich mit einer eins nachhause, mein Bruder hatte eine vier. Dann hieß es „Deine vier ist doch für mich viel mehr wert, als ihre eins. Du weißt doch, wie schwierig sie ist, da ändert auch die Leistung nichts dran.“ Es war, als ob meine Mutter mich nicht wirklich sehen wollte. Egal, wie sehr ich versuchte, ihre Anerkennung zu bekommen, es reichte nie aus. Dieses Gefühl, nie zu genügen, hat sich tief in mir verankert. Als Kind versteht man ja nicht, dass das Verhalten der Eltern das Problem ist. Ich dachte, es müsse an mir liegen, dass meine Mutter mich nicht lieben konnte wie meinen Bruder. Ich zog mich immer mehr zurück, weil ich nicht wollte, dass andere Menschen merken, wie schlecht ich bin. Deshalb saß ich immer still im Unterricht und traute mich nicht, etwas zu sagen oder mich zu zeigen.

Hast du versucht, mit deiner Mutter darüber zu sprechen, als du älter wurdest?

Miriam:
Ja, als ich älter wurde, habe ich versucht, das Thema anzusprechen. Besonders in meiner Jugend, als ich anfing, die Situation besser zu verstehen, habe ich einige Male den Mut aufgebracht, mit ihr darüber zu reden. Ich fragte sie, warum sie mich immer kritisiert und warum sie meinen Bruder so viel besser behandelt. Aber jedes Mal, wenn ich das Thema ansprach, wurde sie aggressiv oder tat es einfach ab.

Sie sagte oft Dinge wie: „Du bildest dir das ein“ oder „Du bist einfach zu empfindlich.“ Es hatte keinen Sinn, das anzusprechen und es tat mir auch sehr weh. Oft brach ich in Tränen aus und dann hieß es gleich „Das Weib wird ja hysterisch!“. 

Wie hat dein Bruder auf die Situation reagiert? Hat er die Ungleichbehandlung bemerkt?

Miriam:
Das ist eine interessante Frage. Ich denke, er hat es sicherlich bemerkt. Für ihn war die Situation natürlich angenehm. Er bekam die volle Aufmerksamkeit und die Liebe meiner Mutter, und warum sollte er das hinterfragen? 

Es gab Momente, in denen ich versucht habe, mit ihm darüber zu reden, aber er hat es oft heruntergespielt. Er sagte Dinge wie: „Das bildest du dir ein, Mama liebt uns beide.“ Ich glaube, er wollte nicht erkennen, dass unsere Mutter so ungerecht war, weil das sein Bild von der perfekten Familie zerstört hätte. 

Wie hat sich diese Kindheit auf dein Erwachsenenleben ausgewirkt?

Miriam:
Es hat mein Leben lange Zeit stark beeinflusst, nicht unbedingt nur zum Schlechten allerdings. Das Gefühl, nicht gut genug zu sein, hat sich durch mein ganzes Erwachsenenleben gezogen. Ich hatte ständig das Bedürfnis, mich zu beweisen – in meiner Karriere, in Beziehungen, überall. Beruflich hat mir das also sehr genützt. Aber gleichzeitig hatte ich immer Angst vor Kritik oder Ablehnung. Es war, als ob ich ständig diesen inneren Kritiker in mir hatte, der mich daran erinnerte, dass ich nicht genüge.

Auch in meinen Beziehungen war es schwierig. Ich hatte lange das Gefühl, dass ich keine Liebe verdiene, oder ich habe mich zu sehr an Menschen gebunden, die mir ebenfalls nicht das Gefühl gegeben haben, wertvoll zu sein. Es hat viel Zeit und Therapie gebraucht, um zu erkennen, dass all das auf meiner Kindheit basiert – auf der ständigen Ablehnung durch meine Mutter.

Gab es einen Wendepunkt, an dem du dich entschieden hast, dich von dieser toxischen Beziehung zu lösen?

Miriam:
Ja, es kam der Punkt, an dem ich merkte, dass ich mich von dieser Beziehung distanzieren musste, um zu heilen. Es passierte nach der Geburt meiner Tochter. Meine Mutter war die stolze Oma und kam oft vorbei. Aber sie begann, über meine Tochter zu hetzen. Ich erinnere mich an ein gemeinsames Frühstück. Sie hatte ein halbes Brötchen in der Hand und hielt es meiner Tochter hin, die im Hochstuhl saß. Die Kleine öffnete das Mündchen, wollte abbeißen, da zog meine Mutter kichernd das Brötchen zurück und biss selbst hinein. Das war so ein Schlüsselmoment. Meine Mutter sah mir in die Augen, und das war das erste Mal, dass ich sie verunsichert sah. Ich glaube, meine Gefühle standen mir ins Gesicht geschrieben. Ich war so unsagbar wütend und in dem Moment hat sich in mir etwas geöffnet. Ich kann das nicht anders beschreiben. Ich habe in dem Moment geradezu körperlich begriffen, dass das, was ich erlebt hatte, falsch war und dass ich meine Tochter schützen  muss – selbst, wenn es bedeutete, Abstand von meiner eigenen Mutter zu nehmen. Es war wirklich dieser Moment. Innerlich habe ich das Band zerrissen, was ich für meine Mutter hatte. Ich glaube im Nachhinein, wir hatten dieses Band nie wirklich geknüpft, ich war da irgendwie solo unterwegs. 

Wie hast du es geschafft, dich emotional von deiner Mutter zu distanzieren?

Miriam:
Ich begann damit, weniger Kontakt zu meiner Mutter zu haben und mich nicht mehr in Situationen zu begeben, in denen sie mich emotional manipulieren konnte. Konkret hieß das, dass ich nie anrief. Wenn, dann rief sie an. Ich bin nie zu ihr hingefahren, weil sie da eher ausfällig wurde. 

Therapie war ein großer Teil meines Heilungsprozesses. Dort habe ich gelernt, dass die Art und Weise, wie sie mich behandelt hat, nicht meine Schuld war – dass es nichts mit meinem Wert als Mensch zu tun hatte. Das war eine unglaublich befreiende Erkenntnis. Ich musste lernen, mich selbst zu lieben. Es war anstrengend, dass gleichzeitig zu erleben, während ich meine Tochter aufzog und es tat auch weh. Aber es ging. 

Wie sieht deine Beziehung zu deiner Mutter heute aus?

Miriam:
Heute habe ich nur sehr wenig Kontakt zu meiner Mutter. Ich spreche nur gelegentlich mit ihr, meistens über oberflächliche Dinge. Ich habe das sogar eine Liste gemacht, mit Dingen, über die ich mit ihr reden will. Darauf stehen dann so Dinge wie das Wetter, der Garten, was es irgendwo im Angebot gibt oder solche Sachen. Es gibt keine tiefen Gespräche mehr, weil es nichts bringt. Ich stehe dann am Ende alleine mit meinen Gefühlen im Regen vor verschlossenen Toren. Und das will ich einfach nicht mehr. 

Es tut immer noch weh, dass ich nie die Mutter-Tochter-Beziehung haben werde, die ich mir immer gewünscht habe. Da ist noch ganz viel Trauer, ich finde es so schade, wie es war und wie es ist. Aber ich will  meinen Frieden damit schließen. Es ist noch ein Weg, aber es geht immer besser. Man bekommt halt nicht alles im Leben, was man sich wünscht. 

Was würdest du anderen Frauen raten, die sich in einer ähnlichen Situation befinden?

Miriam:
Zuerst einmal: Du bist nicht allein, und es ist nicht deine Schuld. Es ist so wichtig, das zu verstehen. Emotionale Misshandlung ist oft unsichtbar, aber sie kann tiefe Wunden hinterlassen. Wenn du das Gefühl hast, dass du in einer solchen Situation steckst, suche dir Unterstützung – sei es durch Therapie, Freunde oder Selbsthilfegruppen.

Setze klare Grenzen, auch wenn es schwer ist. Es ist dein Recht, dich selbst zu schützen, selbst wenn es bedeutet, den Kontakt zu deinen Eltern zu minimieren. Du bist wertvoll, und du verdienst es, respektiert und geliebt zu werden.

Und vergiss nicht: Heilung braucht Zeit. Sei geduldig mit dir selbst und erlaube dir, die Vergangenheit loszulassen. Es ist nicht leicht, aber es ist möglich, wieder Frieden und Selbstliebe zu finden.

Vielen Dank, Miriam, dass du deine Geschichte so offen mit uns geteilt hast.

Miriam:
Gern. Es war nicht einfach, aber ich hoffe, dass meine Geschichte anderen Mut macht, die vielleicht etwas Ähnliches durchmachen. Niemand sollte das Gefühl haben, nicht genug zu sein.

Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:

Emotionale Wunden sind unsichtbar und schmerzhaft 

    Geht es nur mir so? Mir lief im Laufe des Gesprächs ein Schauer über den Körper. Vor allem bei dem absoluten Killer-Satz „Niemand kann dich lieben!“ Das ist glasklare emotionale Gewalt und wir wissen heute, dass diese Form von Gewalt im Gehirn die gleichen Misshandlungsspuren hinterlässt, wie körperliche Gewalt. Sie ist sogar noch schlimmer. Ein Kind, das geschlagen wird weiß ganz genau, dass die Eltern das Problem haben. Aber bei emotionaler Gewalt geben die Täter den Kindern die Schuld und das sogar sehr erfolgreich. 

    Miriam, du bist für mich eine echte Heldin. Denn du hast nicht nur diese starke emotionale Gewalt überlebt, du kannst als Erwachsene sogar noch etwas Positives daraus gewinnen, indem du auf deinen beruflichen Erfolg verweist. Hut ab. Und auch dafür, dass du hinsehen konntest, als deine Mutter dies bei deiner Tochter fortführen wollte. Du glaubst gar nicht, wie sehr sich emotionale Gewalt durch eine Familiengeschichte hinweg über Generationen vererbt und immer weiter fortpflanzt, weil die betroffenen Töchter gemeinsam mit ihren Müttern die Enkelkinder misshandeln. Warum? Auf der Suche nach Nähe werden die eigenen Kinder geopfert. Es zeigt von einer gewissen Ich-Stärke, dass du das nicht gemacht hast. 

    Genau darin, Miriam, liegt deine größte Stärke: Du hast den Kreislauf durchbrochen. Es ist nicht einfach, aus den Fängen emotionaler Gewalt zu entkommen, weil sie so subtil ist. Während körperliche Gewalt sichtbare Narben hinterlässt, wirkt emotionale Gewalt wie ein unsichtbares Gift. Es dringt tief in die Psyche ein, vergiftet das Selbstbild und nagt an der eigenen Würde. Der Satz „Niemand kann dich lieben!“ ist nicht nur eine Behauptung, sondern eine perfide Manipulation, die darauf abzielt, dich innerlich zu zerbrechen und dir die Überzeugung einzupflanzen, dass du es nicht wert bist, geliebt zu werden. Es ist unsagbar boshaft und niederträchtig. Wenn jemand dir einredet, dass du nicht liebenswert bist, dass du falsch bist oder dass du immer die Schuld trägst, beginnt man, daran zu glauben. Es setzt sich fest und beeinflusst jede zukünftige Beziehung – sei es zu einem Partner, zu Freunden oder zu den eigenen Kindern. Viele Mütter, die selbst emotional missbraucht wurden, wiederholen dieses Muster unbewusst bei ihren eigenen Kindern. Es ist eine fatale Dynamik, die sich oft über Generationen hinweg wiederholt, weil diese Frauen die toxischen Botschaften, die ihnen selbst eingeimpft wurden, an ihre Kinder weitergeben.

    Aber du, Miriam, hast dieses Gift erkannt. Es erfordert immense innere Stärke, diesen Mechanismen auf die Spur zu kommen und zu sagen: „Nein, das endet hier. Nicht mit mir und schon gar nicht mit meiner Tochter.“ Das ist es, was dich zu einer Heldin macht. Du hast nicht nur die Kraft gefunden, für dich selbst zu kämpfen, sondern auch für die nächste Generation, für deine Tochter. Du hast verstanden, dass Nähe und Liebe nicht auf emotionaler Manipulation basieren dürfen. Dein beruflicher Erfolg ist ein Beweis dafür, dass du es geschafft hast, aus den Schatten der Vergangenheit herauszutreten und dir ein Leben aufzubauen, das auf deinen eigenen Werten basiert – nicht auf den verzerrten Vorstellungen, die dir einst eingetrichtert wurden.

    Miriam, du bist ein Vorbild. Nicht nur, weil du überlebt hast, sondern weil du es geschafft hast, aus der Dunkelheit etwas Positives zu schöpfen. Du hast bewiesen, dass es möglich ist, sich aus den Ketten emotionaler Gewalt zu befreien und eine neue Realität zu erschaffen – für dich und deine Tochter. Es ist wichtig, dass Menschen wie du ihre Geschichten erzählen. Denn durch dein Beispiel machst du anderen Mut, ihre eigenen Wunden zu heilen und den Kreislauf zu durchbrechen.

    Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.

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