Psychologie

“Können wir leichter lernen?” ABSOLUT, sagt der Neurobiologe

Wie es funktioniert!

Am Lernen führt kein Weg vorbei. Aber es gibt einen Trick, mit dem neu Gelerntes besser verinnerlicht wird. Im Gespräch mit dem Freiburger Forscher Jürgen Kornmeier erfahre ich, wie wir den Schlaf beeinflussen und nutzen können, um Wissen zu verankern.

Müheloses Lernen im Schlaf: Traum oder Realität?

Müheloses Lernen im Schlaf? Den Traum hatte ich als Schulkind vor jedem Vokabeltest. Wenn es funktioniert hätte, mit dem Kopf auf dem Buch zu schlafen, um die Vokabeln ins Hirn zu bekommen, würde ich heute mit plattem Hinterkopf durch die Weltgeschichte tänzeln und dabei perfekt in allen möglichen Fremdsprachen parlieren. Deshalb und ganz ehrlich gesagt, hätte ich normalerweise müde lächelnd abgewunken. Wahrscheinlich wieder so ein Psycho-Guru. Dieses Mal ist es anders. Es liegt am Namen, der darunter steht. Dr. Jürgen Kornmeier ist ein renommierter Wissenschaftler. Der Freiburger Neurobiologe forscht am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene und am Freiburger Universitätsklinikum, und ich merke, dass ich neugierig werde. Wenn ich mir das Lernen erleichtern kann, bin ich stets offen für erfolgsversprechende Wege. Kornmeier scheint einen gefunden zu haben.

Der Durchbruch in der Gedächtnisforschung: Patient Henry Molaison

„Die ganze Geschichte beginnt wie eine wunderbare Bilderbuchgeschichte für die Wissenschaft“, weiht Kornmeier mich, den medizinischen Laien, in die Anfänge der Forschung zu diesem Thema ein. „Sie fing an mit dem Patienten Henry Gustav Molaison. Der Mann litt in den 50er Jahren unter einer dramatischen, starken Epilepsie. Etwa einmal die Woche erlitt er einen unkontrollierbaren Anfall. Solche Anfälle können lebensbedrohlich sein, wenn Sie z.B. die Treppe runtergehen oder im Straßenverkehr unterwegs sind. Die Medizin der 50er Jahre konnte solch starke Epilepsien noch nicht so gut medikamentös behandeln …“ 1953 suchte der verzweifelte Molaison den Gehirnchirurgen William Scoville auf. Dieser konnte grob lokalisieren, an welcher Stelle im Gehirn die Krämpfe ausgelöst wurden und schlug eine beidseitige operative Entfernung des Hippocampus vor.

Die Operation erreichte ihr Ziel, die Anfälle ließen nach. Gleichzeitig zahlte Molaison dafür einen sehr hohen Preis. Er verlor seine Fähigkeit, Erinnerungen zu bilden. “Er unterhielt sich gerne, doch innerhalb von 15 Minuten erzählte er einem die gleiche Geschichte drei Mal, mit den gleichen Worten und der gleichen Intonation, ohne sich daran zu erinnern, dass er sie gerade erst erzählt hatte”, sagte seine behandelnde Ärztin Suzanne Corkin in der New York Times. So dramatisch wie es für diesen bedauernswerten Menschen auch war, der Gedächtnisforschung verhalf der Patient Molaison zum wissenschaftlichen Durchbruch. „Durch Molaison wissen wir, was der Hippocampus kann: Er ist maßgeblich beteiligt an der Aufnahme und Speicherung der Information und das bildet den ersten Schritt unserer Forschungen“, so Kornmeier.

Von Ratten und Menschen: Wie das Gehirn lernt

„Für den zweiten Schritt reisen wir in die 90er Jahre. Amerikanische Forscher setzten damals Ratten in einem Labyrinth aus. Die Tiere sollten dort Futter finden. Das Futter wurde über mehrere Wiederholungen dieser Aufgabe immer am gleichen Ort versteckt. Die Tiere konnten den Weg durchs Labyrinth ans Ziel also lernen und fanden das Futter mit jedem Durchgang schneller und zielgerichteter. Die Forscher implantierten Elektroden in den Hippocampus der Tiere und konnten so die Hirnaktivität beim Lernprozess aufnehmen. Es zeigte sich ein bestimmtes Muster an Hirnaktivität beim Lernen, wie eine Art „Melodie“ des Hirns während des Lernens, die über die Elektroden aufgezeichnet werden konnte. Und im anschließenden Schlaf nach den Lerneinheiten ist die gleiche Melodie nochmal aufgetreten. Deshalb schlussfolgerte man, dass im nächtlichen Schlaf eine Übertragung stattfindet, durch die kurzfristig gelernte Inhalte ins Langzeitgedächtnis wandern. Das war damals geradezu ein spektakulärer Befund. Dieselbe Arbeitsgruppe konnte dann 12 Jahre später mit besseren Messmethoden nachweisen, dass im Schlaf nicht nur der Hippocampus die „Melodie des Gelernten“ noch einmal abspielt, sondern zeitgleich bestimmte Areale im Neocortex. Würde man einen Vergleich ziehen, dann ist es so, als wäre der Hippocampus der Arbeitsspeicher des Computers, der die Arbeit des Tages kurzfristig abspeichert. Der Neocortex wäre dann die externe Festplatte, auf der eine Kopie des Tageswerks für die Ewigkeit erstellt wird. Auf diese Weise wandern also die Informationen, die man tagsüber sammelt, ins Langzeitgedächtnis und schaffen Erinnerungen.

Die Rolle der Düfte: Lernen mit allen Sinnen

Die entscheidende Frage, die viele Wissenschaftler seitdem beschäftigt, ist nun folgende: Während wir durch die Welt wandern, nehmen unsere Sinne viele Informationen auf. Nur ein Bruchteil davon landet im Langzeitgedächtnis.“ Ich muss an meine Englisch-Vokabeln denken und nicke seufzend. Kornmeier gerät in Schwung: „Die Frage aller Fragen lautet: Was ist es wert, dass es in den Langzeitspeicher kommt und ‚wer‘ entscheidet es? Und: Gibt es die Möglichkeit, dass ein Dritter diesen Entscheidungsprozess quasi von außen beeinflussen kann?“ Oha! Das wäre es doch!

Der Einfluss von Gerüchen auf das Gedächtnis

Nun kommt Geruch ins Spiel. Denn Düfte haben große Erinnerungsgewalt. Es ist der Duft eines Gebäckstückes, der den berühmten Schriftsteller Marcel Proust in die Kindheit zurückversetzt, während er sonntags in einem Pariser Café sitzt. „… Und mit einem Mal war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jenes kleinen Stücks einer Madeleine“, schreibt er in seinem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. „Ebenso stiegen jetzt alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von Swann und die Seerosen der Vivonne und all die Leute aus dem Dorf und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, all das, was nun Form und Festigkeit annahm“. Wie wir heute wissen, ist dies nicht unüblich. Die Nase verfügt über eine direkte Verbindung zur Emotionszentrale im Gehirn, der Geruch geht also direkt in die Großhirnrinde. Bei Augen und Ohren gibt es auf dem Weg „Umschaltstationen“ im Zwischenhirn – ein Grund, warum Duft so leicht konditioniert werden kann.

Experimentelles Lernen mit Rosenduft

Diese Erkenntnis machte sich der berühmte Tübinger Schlafforscher Jan Born zunutze. Er und sein Team versprühten Rosenduft, während er Menschen das uns allen vermutlich sehr bekannte Memory-Spiel spielen ließ. „Das Besondere an diesem Memory-Spiel war, dass alle Karten über Wiederholungen des Spiels immer denselben festen Platz hatten und so das räumliche Gedächtnis angesprochen wurde. Mit den Wiederholungen des Spiels wurde das entstehende räumliche Gedächtnis dann mit Rosenduft verknüpft. Die Versuchspersonen dieser Studie verbrachten dann die anschließende Nacht im Schlaflabor, wo bei ihnen während des Schlafs mittels Elektroenzephalogramm (EEG) die Gehirnströme gemessen wurden und so die Schlaftiefe bestimmt werden konnte. Sobald die Schlafenden in eine bestimmte Tiefschlafphase eintraten, wurden sie wieder mit dem Rosenduft des Memory-Spiels konfrontiert. Und es geschah das, was erwartet wurde: Das Muster an Hirnaktivität (die „Melodie“) zur gelernten räumlichen Information wurde durch den Duft reaktiviert und das daran gebundene räumlich Gelernte konnte so ins Langzeitgedächtnis transferiert werden.“ In der Tat waren jene Versuchspersonen erfolgreicher beim Lernen des Memorys, die beim Memory spielen und während des darauffolgenden Schlafens Rosenduft rochen. Man verknüpft also einen bestimmten Lernreiz mit Duft, präsentiert den Duft in einer speziellen Schlafphase wieder und kann so steuern, welche Informationen des Tages in den Langzeitspeicher des Gedächtnisses wandern.

Feldstudien: Rosenduft und Vokabellernen

Leider hat nicht jeder ein EEG neben seinem Bett stehen, sodass wenig Aussicht bestand, die Resultate für den normalen Alltag anzuwenden. Und genau das hat sich nun geändert. Kornmeier führte insgesamt zwei Studien zum Einsatz von Rosenduft beim Vokabellernen durch. Eine Besonderheit an diesen Studien war, dass sie nicht im Labor stattfanden, sondern im „Feld“: Eine Studie führte die Lehramtsstudentin Franziska Neumann mit Schülerinnen und Schülern zweier Schulklassen in der Schule und bei den Kindern zu Hause durch. Eine Hälfte der Kinder lernte, während auf ihrem Schreibtisch ein Rosenduftstäbchen liegen sollte. Die andere Hälfte lernte ohne jeden Duft. Je nach experimenteller Bedingung sollte das Duftstäbchen auch nachts auf dem Nachttisch und bei einem Vokabeltest am Ende der Studie wieder auf dem Schreibtisch deponiert werden. In einer zweiten Online-Studie während des Corona-Lockdowns, die von der Biologie-Masterstudentin Jessica Knötzele durchgeführt wurde, sollten Erwachsene Versuchspersonen ein ganz ähnliches Experiment bei sich zu Hause durchführen.

Drei Tage Duft: Ergebnisse und Erkenntnisse

„Das Ganze wurde drei Tage hintereinander durchgeführt, denn die Fragen waren: Funktioniert das Ganze auch, wenn man den Duft die ganze Nacht hindurch riecht, also nicht nur während der sensiblen Tiefschlafphase? Und: Ist das System nach einem Tag vielleicht schon in Sättigung? Oder bringt es mehr nach mehreren Tagen? Und schließlich: Kann der Duft vielleicht sogar das Vergessen verlangsamen oder vielleicht sogar verhindern?

Die Studie lieferte folgende Ergebnisse:

  1. Es steigert den Erfolg, wenn man es drei Tage lang macht. Der Lernerfolg wird mit jedem Tag größer.
  2. Hat man den Duft sowohl beim Lernen, im Schlaf und bei einem finalen Test dabei, ist die Leistung am besten.
  3. Der Duft hilft, schneller mehr zu lernen, aber das anschließende schleichende Vergessen wird anscheinend weder verlangsamt noch verhindert.

„Ein zentrales Ergebnis dieser Feld-Studien ist also, dass wir kein Schlaflabor und nicht die klare Identifizierung der Tiefschlafphase mit Hilfe von EEG brauchen. Es reicht, wenn der Duft die ganze Nacht im Schlafzimmer vorhanden ist …“ fasst Kornmeier zusammen.

Duft als Lernhilfe für Kinder und Erwachsene

Und können Eltern nun ihren Kindern helfen, leichter zu lernen? Wenn sie ihnen während des Unterrichts einen Duft ins Federmäppchen packen und ihn später während des Schlafens auf den Nachttisch legen?“ Kornmeier nickt heftig. „Absolut. Wenn Sie den Duft mit auf den Nachttisch legen, dann könnten Sie den Wiedererkennungseffekt stärken. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass das Kind sich während des Schlafens an die Zeit erinnert, in der es gelernt hat und auf diese Weise die gelernte Information in den Langzeitspeicher seines Gedächtnisses überspielt. So dürfte es schneller und effektiver lernen als ohne den Duft.“

Im Ernstfall-Einsatz, also bei einer Klassenarbeit, wird der Duft ebenfalls eingesetzt und sollte das Kind sofort in die optimale Leistungsbereitschaft bringen – es ist weder zu nervös noch zu entspannt. Das könnte bedeuten, dass auch ADHS-Kinder, die in ungewohnter Umgebung schnell aus dem Fokus geraten, mit dem Duft bessere Leistungen bringen. Einfach, weil die für die abgerufene Leistung nötige Datenautobahn in ihrem Gehirn durch den zusätzlichen Einsatz von Duft heller leuchtet oder, um mit den Gehirnforschern zu sprechen, die Melodie des Gehirns lauter spielt und die ablenkenden Faktoren, wie Nervosität oder Erwartungsspannung, übertönt und im Dunkel verblassen lässt. Indem wir unseren Kindern und auch uns helfen, einen Duft mit den Lerninhalten zu verknüpfen, fördern wir möglicherweise ihr spezifisches Wissen nachhaltig. Dadurch könnten wir dazu beitragen, dass sie leichter lernen, schneller und sich aufgrund ihrer Erfolge wohlfühlen. Denn alle Menschen wollen verstehen und verstanden werden – das macht sie glücklich. Bisher beschäftigen wir uns noch kaum mit unserem Geruchssinn. Zeit, das zu ändern. Der Erfolg könnte unter Umständen wirklich bahnbrechend sein. Einen Versuch ist es wert!

Über Jürgen Kornmeier: Neurobiologe PD Dr. rer. nat. Jürgen Kornmeier hat Biologie und Mathematik studiert und wäre beinahe Gymnasiallehrer geworden. Stattdessen ist er nun Wissenschaftler, lehrt an der Fakultät für Biologie der Universität Freiburg und ist Direktor des Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene. Er interessiert sich für die Frage, wie unser Gehirn sensorische Information verarbeitet, daraus unsere spektakulären und bunten Wahrnehmungsinhalte konstruiert und natürlich auch brennend für die ganz große ungelöste Frage, wie Geist und Materie zusammenhängen. Und natürlich gilt sein Interesse auch nach wie vor der Schule und allem, was mit Lernen und Gedächtnis zu tun hat.

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