Psychologie

„Ich habe als Erwachsener erfahren, dass ich adoptiert bin”.

Erzähl mir dein Leben:

„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.

Zwei Gespräche über die eigene Identität und einen Neuanfang.

Es gibt Wendungen im Leben, die alles verändern. Für Thomas (42) kam solch ein Moment, als er im Alter von 35 Jahren erfuhr, dass er adoptiert wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt lebte er ein normales Leben, in dem er sich seiner Herkunft sicher war. Doch mit einem einzigen Gespräch geriet sein Selbstbild ins Wanken. Im Interview spricht Thomas offen über den Schock, das Gefühl des Verlusts und den Weg, wie er nach dieser Entdeckung seine Identität neu zusammengesetzt hat.



Thomas, wie und wann hast du erfahren, dass du adoptiert wurdest?

Thomas:
Das war vor sieben Jahren, ich war gerade 35. Meine Eltern hatten es mir nie gesagt, und ich hatte auch nie einen Grund, daran zu zweifeln, dass sie meine leiblichen Eltern sind. Doch eines Tages erhielt ich einen Anruf von einer Verwandten, die mir mitteilte, dass sie mir etwas Wichtiges sagen müsse. Sie sagte: „Thomas, es wird Zeit, dass du die Wahrheit erfährst. Du bist adoptiert.“ Zuerst dachte ich, sie macht einen schlechten Scherz. Aber es war wahr. Ich war wie betäubt.

Das muss ein unglaublicher Schock gewesen sein.

Thomas:
Schock trifft es nur ansatzweise. Es war, als ob der Boden unter mir weggezogen wurde. Plötzlich schien alles, was ich über mich zu wissen glaubte, nicht mehr sicher zu sein. Meine ersten Gedanken kreisten um Fragen: Wer bin ich wirklich? Warum hat man mir das verheimlicht? Warum gerade jetzt? Es war, als ob jemand meinen Lebensweg zerrissen und neu geschrieben hätte. Die Vertrautheit, die ich immer mit meiner Familie gespürt hatte, war auf einmal mit einem Schlag fragil und brüchig.

Hast du mit das Gespräch mit deinen Eltern gesucht?

Thomas:
Ja, ziemlich schnell. Es war unausweichlich, ich musste Antworten bekommen. Als ich meine Eltern zur Rede stellte, waren sie sichtlich aufgewühlt. Sie sagten mir, dass sie mich immer als ihren Sohn gesehen haben und mich beschützen wollten. Sie hatten damals geglaubt, es sei besser, wenn ich es nie erfahre. „Du bist unser Sohn, in jeder Hinsicht“, sagten sie. Und auch wenn ich ihnen das abnahm, konnte ich nicht verhindern, dass sich ein tiefer Riss in meiner Wahrnehmung auftat. Es fühlte sich an, als wäre ich betrogen worden – und das von den Menschen, die mir am meisten bedeuten.

Wie hast du dich nach dieser Offenbarung gefühlt? Hast du nach deinen leiblichen Eltern gesucht?

Thomas:
Zunächst habe ich lange gebraucht, um das alles zu verarbeiten. Es war, als müsste ich mich neu definieren. Ich war in einer Identitätskrise. Die Idee, dass ich adoptiert bin, war so weit von dem entfernt, was ich über mich selbst wusste. Es war, als hätte jemand die Geschichte meines Lebens in einen anderen Film umgeschnitten. Aber ja, nach einer Weile kam der Gedanke: Wer sind meine leiblichen Eltern? Wo komme ich wirklich her?

Ich begann zu recherchieren, mich durch Dokumente zu arbeiten, die lange verschlossen waren. Schließlich fand ich heraus, wer meine leiblichen Eltern sind. Aber das war kein einfacher Prozess. Es war emotional überwältigend – eine Mischung aus Aufregung und Angst, weil ich nicht wusste, was mich erwarten würde.

Hast du dich mit ihnen getroffen?

Thomas:
Ja, ich habe sie getroffen. Es war surreal. Zum ersten Mal im Leben stand ich den Menschen gegenüber, von denen ich biologisch stamme, aber es war, als wären sie Fremde. Der Moment war unglaublich seltsam, weil es eine Verbindung gab, die ich spürte, aber gleichzeitig fühlte ich mich diesen Menschen auch sehr fern. Meine leibliche Mutter erzählte mir, dass sie damals zu jung war, um ein Kind großzuziehen, und sich daher schweren Herzens zur Adoption entschloss. Sie dachte, das wäre das Beste für mich.

Das Treffen brachte viele gemischte Gefühle. Einerseits fühlte ich Dankbarkeit für das Leben, das ich geführt hatte – und andererseits Trauer darüber, dass so viel Zeit verloren gegangen war. Aber am meisten war es ein Gefühl der Versöhnung. Ich konnte verstehen, warum die Dinge so gelaufen sind, wie sie es taten.

Wie hat diese Entdeckung dein Verhältnis zu deinen Adoptiveltern verändert?

Thomas:
Es war am Anfang nicht leicht. Der Vertrauensbruch, den ich empfand, lastete schwer auf unserer Beziehung. Ich war wütend und verletzt, weil sie mir nicht die Wahrheit gesagt hatten. Aber im Laufe der Zeit habe ich verstanden, dass ihre Entscheidung aus Liebe getroffen wurde. Sie wollten mich schützen und dachten wirklich, es wäre besser, wenn ich es nicht wüsste.

Es dauerte eine Weile, aber wir haben es geschafft, diese Situation zu überwinden. Heute sehe ich sie genauso als meine Eltern wie vorher. Sie haben mich großgezogen, mir Werte vermittelt und mich bedingungslos geliebt. Das kann kein biologisches Band ersetzen.

Was hat dir geholfen, diese schwierige Zeit zu bewältigen?

Thomas:
Vor allem Zeit und Gespräche. Ich habe viele Gespräche mit meiner Familie geführt, aber auch mit einem Therapeuten, der mir half, meine Gefühle zu ordnen. Es war wichtig, dass ich mir selbst Raum gegeben habe, um alle Emotionen zu durchleben – den Schmerz, die Enttäuschung, aber auch die Dankbarkeit. Ich habe gelernt, dass Identität nicht nur aus der Biologie besteht. Sie wird durch die Beziehungen und Erfahrungen geformt, die wir im Leben machen.

Hast du heute Frieden mit der Situation geschlossen?

Thomas:
Ja, ich denke, das habe ich. Es war ein langer Weg, aber ich habe Frieden gefunden. Ich habe verstanden, dass meine Adoption Teil meiner Geschichte ist, aber nicht das gesamte Bild. Meine Adoptiveltern sind meine wahren Eltern, und gleichzeitig habe ich akzeptiert, dass ich noch eine andere Seite meiner Herkunft habe. Es ist eine Mischung aus beiden Welten, und damit kann ich jetzt gut leben.

Was würdest du Menschen raten, die ebenfalls in einer ähnlichen Situation sind und erst spät erfahren, dass sie adoptiert wurden?

Thomas:
Mein Rat wäre: Gebt euch Zeit, um die Nachricht zu verarbeiten. Es ist okay, wütend, traurig oder verwirrt zu sein. All diese Gefühle sind normal. Versucht, den Menschen, die euch großgezogen haben, zuzuhören, und erkennt, dass sie ihre Entscheidungen meist aus Liebe getroffen haben. Und wenn ihr das Bedürfnis habt, nach euren biologischen Wurzeln zu suchen, dann tut es in eurem eigenen Tempo. Aber was am wichtigsten ist: Ihr definiert selbst, wer ihr seid – es sind nicht die Umstände eurer Geburt, die das bestimmen.

Vielen Dank, Thomas, für das Gespräch.

Thomas:
Gern. Es ist nicht immer leicht, aber ich hoffe, dass meine Geschichte anderen Mut machen kann, die vielleicht Ähnliches durchmachen.

„Ich werde ihnen das nie verzeihen“

Für viele Menschen ist das Wissen um die eigene Herkunft ein Anker im Leben. Doch was passiert, wenn man als Erwachsener erfährt, dass die Wahrheit ganz anders ist? Sophie (38) erfuhr vor fünf Jahren, dass sie adoptiert wurde. Im Gegensatz zu anderen, die den Kontakt zu ihren leiblichen Eltern suchen, hat sie nach einer schmerzhaften Begegnung den Kontakt komplett abgebrochen. Im Interview erzählt Sophie von ihrem Gefühl des Verrats und warum sie nicht bereit ist, den leiblichen Eltern zu vergeben.

Sophie, du hast im Alter von 33 Jahren erfahren, dass du adoptiert bist. Wie hast du darauf reagiert?

Sophie:
Es hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Mein ganzes Leben lang dachte ich, ich kenne meine Wurzeln. Ich habe meine Eltern immer als meine einzigen Eltern gesehen, und plötzlich kam diese Wahrheit, dass sie mich adoptiert haben, als ich noch ein Baby war. Das war ein massiver Schock. Noch schlimmer war, dass alle Bescheid wussten – meine Adoptiveltern, Verwandte, sogar enge Freunde meiner Familie. Alle hatten mir über all die Jahre ins Gesicht gelogen.

Was hat diese Offenbarung in dir ausgelöst?

Sophie:
Es war, als ob mein ganzes Leben eine Lüge gewesen wäre. Ich fühlte mich betrogen, von meinen Adoptiveltern und von meinen leiblichen Eltern, die mich einfach weggegeben haben. Ich konnte es nicht begreifen: Wie können Menschen, die einen zur Welt gebracht haben, einfach so auf einen verzichten? Als ich davon erfuhr, war ich zuerst wie gelähmt, dann wurde ich wütend. Wütend auf alle, die dieses Geheimnis so lange vor mir bewahrt hatten.

Hast du versucht, Kontakt zu deinen leiblichen Eltern aufzunehmen?

Sophie:
Ja, nach einigem Zögern. Es war ein Teil von mir, der wissen wollte, wer sie sind, und vielleicht auch die Hoffnung, dass es eine Art Erklärung gibt, die mir alles verständlich macht. Also habe ich den Mut gefasst und sie kontaktiert. Was dann kam, war eine der größten Enttäuschungen meines Lebens.

Wie war das Treffen mit ihnen?

Sophie:
Es war ein Desaster. Ich traf meine leibliche Mutter zuerst. Sie wirkte nervös, fast wie jemand, der gerade in eine Prüfung geht und die Fragen nicht beantworten kann. Sie sagte mir, dass sie damals zu jung war, um sich um ein Kind zu kümmern, und dass es „das Beste“ für mich gewesen sei, mich zur Adoption freizugeben. Aber es fühlte sich nicht so an. Ich sah nur jemanden, der mich loswerden wollte. Da war keine echte Reue, kein tiefes Bedauern, sondern nur diese oberflächliche Entschuldigung. Sie tat fast so, als ob ich ihr dankbar sein sollte.

Mein leiblicher Vater? Der war noch schlimmer. Er wollte erst gar nichts mit mir zu tun haben. Er kam zum Treffen, aber seine Einstellung war distanziert und kalt. Er sagte mir ins Gesicht, dass er die Entscheidung nie bereut habe und dass er mich nie wirklich in seinem Leben haben wollte. Das war’s. Kein emotionaler Moment, keine Umarmung, nur diese kalte, harte Wahrheit.

Das klingt unglaublich schmerzhaft. Was hast du in dem Moment empfunden?

Sophie:
Ich war erschüttert. In diesem Moment wurde mir klar, dass sie nie wirkliche Eltern für mich gewesen wären. Sie hatten mich aufgegeben und konnten damit leben – ohne einen zweiten Gedanken an mich zu verschwenden. Ich war für sie nie mehr als ein Kapitel, das sie schließen wollten. Ich fühlte Wut, so viel Wut und Enttäuschung. Es war, als ob ich für sie nie existiert hätte, als wäre mein Leben völlig bedeutungslos gewesen. Da wurde mir klar, dass ich diese Menschen nicht in meinem Leben haben will – niemals.

Hast du den Kontakt danach komplett abgebrochen?

Sophie:
Ja, sofort. Nach diesem Treffen habe ich ihnen gesagt, dass ich keinen weiteren Kontakt mehr wünsche. Ich hatte meine Antworten – und die haben mir gereicht. Für mich war klar, dass ich keinen Raum für Menschen habe, die mich so wenig wertschätzen. Ich werde ihnen das nie verzeihen, was sie mir angetan haben. Sie haben mich weggegeben und wollten nie ein Teil meines Lebens sein. Warum sollte ich ihnen jetzt die Tür zu meinem Leben öffnen?

Wie hat diese Erfahrung dein Verhältnis zu deinen Adoptiveltern beeinflusst?

Sophie:
Das war am Anfang sehr schwierig. Ich war so verletzt, dass sie mir nie die Wahrheit gesagt haben. Sie meinten, sie hätten mich schützen wollen, aber ich fühlte mich verraten. Wir haben lange darüber gesprochen, und letztendlich konnte ich ihnen vergeben, weil ich wusste, dass ihre Entscheidung aus Liebe getroffen wurde. Aber es hat lange gedauert, bis ich dieses Vertrauen wieder aufbauen konnte.

Was mir geholfen hat, war der Gedanke, dass meine Adoptiveltern mich immer geliebt haben. Sie haben mich großgezogen, sie waren für mich da, sie haben mir das Gefühl gegeben, dass ich ihr Kind bin. Und das war für mich schließlich das Wichtigste.

Du hast den Kontakt zu deinen leiblichen Eltern abgebrochen. Gibt es jemals Momente, in denen du Zweifel an dieser Entscheidung hast?

Sophie:
Nein, keine Sekunde. Es gibt keinen Grund für mich, mich mit Menschen zu umgeben, die mich so behandelt haben. Sie hatten ihre Chance, als ich auf die Welt kam, und sie haben sie weggeworfen. Ich habe keine Schuldgefühle darüber, dass ich den Kontakt abgebrochen habe. Für mich sind meine Adoptiveltern die einzigen wahren Eltern, die ich jemals haben werde.

Glaubst du, dass diese Erfahrung dein Leben in irgendeiner Weise bereichert hat?

Sophie:
Bereichert ist vielleicht nicht das richtige Wort. Diese Erfahrung hat mich stärker gemacht, ja, aber sie war unglaublich schmerzhaft. Ich habe gelernt, dass es manchmal besser ist, Dinge loszulassen, die einem nicht guttun – auch wenn es die eigenen Wurzeln sind. Ich musste meine eigene Identität neu aufbauen, unabhängig davon, was andere mir auferlegt haben. Das war hart, aber es hat mir gezeigt, wie stark ich sein kann.

Was würdest du anderen Menschen raten, die vielleicht ähnliche Erfahrungen machen?

Sophie:
Hört auf euer Bauchgefühl. Es ist okay, Grenzen zu setzen, auch gegenüber den leiblichen Eltern, die man nie gekannt hat. Nicht jede biologische Verbindung ist heilig, und nur weil jemand euch zur Welt gebracht hat, heißt das nicht, dass ihr ihnen eine Beziehung schuldet. Wenn der Kontakt euch schadet, dann ist es in Ordnung, diesen Menschen keinen Platz in eurem Leben zu geben. Eure wahre Familie ist die, die euch liebt und unterstützt – nicht unbedingt die, die euch geboren hat.

Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:

Manchmal ist ein klarer Schnitt der richtige Weg

“Beide Geschichten zeigen, warum es manchen Adoptiveltern so schwer fällt, sich ihren Kindern zu offenbaren. Es ist die Ungewissheit, wie es für das Kind ausgeht. In Thomas Fall hat sich das Wissen letzten Endes als Bereicherung erwiesen. Er gewinnt zwei Bonus-Eltern und eine Bonus-Familie. Sophies Geschichte zeigt, dass nicht jede Suche nach den leiblichen Eltern in einem glücklichen Wiedersehen endet. Und wer weiß schon, wie es für das Kind ist? Wann ist der richtige Zeitpunkt, wann ist das Kind stabil genug für die Wahrheit? Das ist schwierig zu beantworten.

In Sophies Fall wird nämlich genau das deutlich, wovor sich die Adoptiveltern fürchten. Die Enttäuschung, nicht gewollt worden zu sein wiegt schwer. Sophie wurde sogar mit offener Ablehnung konfrontiert und das tut weh. Ich finde, sie hat sehr gut reagiert, indem sie realisiert hat, dass es manchmal besser oder sogar notwendig ist, sich selbst zu schützen und den Kontakt zu Menschen abzubrechen, die einen enttäuscht haben.

Sicherlich ist sie jetzt durch diese Erfahrung erst einmal ein Stück weit gebrochen und erschüttert, aber sie wird sich erholen und zu neuen Kräften kommen. Man darf nicht vergessen, dass ein Zusammenbruch immer dann passiert, wenn wir unsere Persönlichkeit zu eng aufgebaut haben. Er gibt uns die Chance, uns neuer, breiter und damit auch stabiler neu aufzubauen. So entsteht Reife und Stärke. Das wird Sophie auf schaffen. Und dann kann sie erkennen, dass die wahre Familie nicht unbedingt aus den Menschen besteht, die uns geboren haben, sondern aus denen, die uns wirklich lieben und uns in unserem Leben begleiten. Vielleicht kann sie sogar anerkennen, dass die Adoption letzten Endes das beste ist, was ihr passieren konnte. Denn wie wäre ihr Schicksal ansonsten verlaufen, wenn sie bei solchen Menschen aufgewachsen wäre? So kann sie ihren Frieden finden und darauf kommt es an. “

Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.

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