
Im Spiegelkabinett der Seele
Wer bin ich. Und wie viele?
Manchmal fühlt es sich an, als hätte jemand anders die Regie übernommen. Der Kalender füllt sich, Erwartungen wachsen, die Zeit ist immer Mangelware und irgendwo zwischen all dem verschwindet das eigene Ich langsam aus dem Blickfeld. Es läuft, funktioniert, organisiert, vermittelt, reagiert nur noch. Und irgendwann stellt sich die Frage: Wer bin ich eigentlich noch? Die Spiegelkabinett-Übung, eine mentale Methode zur Selbstbegegnung, liefert Antworten. Nicht alle sind bequem.
Der Anfang
Die Kinder sind bei ihrem Vater, das Handy liegt in der Küche. Es ist still. Und genau diese Stille macht Anna Angst. Aber vielleicht ist es die Vor-Resonanz. Sie hat sich entschlossen, die freie Zeit für sich zu nutzen um die Spiegelkabinett-Übung zu prüfen. „Also los“, murmelt sie und schließt die Augen, wie vorgeschrieben und stellt sich einen Raum voller Spiegel vor. Ein kleines Kabinett, golden gerahmt, fast wie in den Harry-Potter-Filmen. Und plötzlich tauchen sie auf: ganz viele Annas, eine nach der anderen. Die überforderte Projektleiterin mit dem Dauerlächeln. Die perfekte Tochter, stets um Anerkennung bemüht. Die Liebende, die sich klein macht, damit der andere größer wirken kann. Anna stockt der Atem. Später erzählt sie mir „Es war wie ein Unfall. Ich wollte gar nicht hinsehen, konnte aber nicht anders. Und manches war echt blöd!“ Aber sie merkt, alle Spiegelbilder kennt sie. Nur hat sie ihnen lange nicht mehr in die Augen gesehen.
Ich begegne mir selbst
Die Spiegelkabinett-Übung ist ein kraftvolles Instrument zur Selbstbegegnung. Sie funktioniert über Imagination. Also über Bilder. Hier gibt es keine Analyse, kein Tagebuch, kein Fragebogen, keine Worte, kein Gehirn. Stattdessen ein innerer Raum, in dem sich Bilder zeigen. Und das geht tief, wir sind hier auf dem Weg in das so tief verborgene der Seele, das keine Worte braucht um uns zu zeigen, was sonst oft überdeckt wird: die vielen Stimmen im Kopf, die nervigen Forderungen, die verinnerlichten Glaubenssätze. In einer Welt, in der ständige Selbstoptimierung und soziale Vergleichbarkeit zur Norm geworden sind, ist eine Übung wie diese ein Gegenangebot – und ein Schritt zurück zu sich selbst.
Es wird erst schlimmer, bevor es besser wird
Wer das Spiegelkabinett betritt, tut das meist mit gemischten Gefühlen. Denn nicht alle inneren Spiegelbilder sind schmeichelhaft. Manche zeigen uns selbst als Getriebene, als Intrigantin oder als Schatten unserer selbst. Doch genau in dieser Ehrlichkeit liegt der Wert. Es geht nicht darum, sofort Lösungen zu finden. Sondern erst einmal zu erkennen: Welche Anforderungen wirken da? Wem wird da eigentlich ständig etwas bewiesen? Und welches dieser inneren Bilder darf vielleicht endlich gehen?
Denkt immer daran: alles, was in euch ist, das darf auch da sein. Und es ist gut so. Eine Intrigantin? Kann zur Visionärin werden, wenn sie geschätzt und gesehen wird. Es ist oft das Etikett, dass nicht stimmt. Mit dir selbst ist alles in Ordnung.
Aufschreiben hilft, Ordnung zu bringen
Im Anschluss an die Übung kann es hilfreich sein, einige Eindrücke aufzuschreiben. Was wurde sichtbar? Welche Spiegelbilder waren besonders präsent? Welche dieser Stimmen begleiten schon seit Jahren – und sind sie überhaupt noch hilfreich? Oder stehen sie dem eigenen Wohlbefinden im Weg? Was die Übung nicht verspricht: schnelle Antworten. Was sie ermöglicht: eine ehrliche Bestandsaufnahme. Sie ist besonders wirksam in Phasen des Umbruchs, sei es beruflich, familiär oder emotional. Wer sich in der Welt verloren fühlt, findet in der inneren Spiegelgalerie nicht unbedingt Trost, aber Orientierung.
Anna jedenfalls sitzt noch eine Weile mit geschlossenen Augen auf dem Sofa. Als sie sie schließlich öffnet, ist der Regen draußen stärker geworden. Doch innerlich ist etwas leiser. „Ich konnte einiges gehen lassen. Die stets ungenügende Tochter zum Beispiel. Es ist, als hätte ich mehr Frieden in mir– als hätte sich der Nebel ein Stück gelichtet.“ Sie weiß, dass sie noch nicht alle Spiegel gedreht hat. Aber sie kennt jetzt ihren Raum, in dem ihr Selbstbild entsteht. Und das ist ein Anfang.