Psychologie

„Ich werde von Ärzten wegen meines Übergewichts beschämt.“

Erzähl mir dein Leben:

„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.




„Dabei versuchte ich doch alles, um Gewicht zu verlieren. Nun reicht`s!”



Steffi leidet seit ihrer Kindheit unter Übergewicht. Während es früher nur ein paar Kilo zuviel waren, bringt sie heute bei einer Körpergröße von 178 cm gute 130 Kilo auf die Waage. Und das bringt Probleme mit sich.

Redaktion: Steffi, wie entstand dein Übergewicht?

Steffi: Ich war immer der kleine Moppel in der Klasse. Und das war schon damals nicht schön für mich. Im Sport-Unterricht war ich immer die letzte, die ins Team gewählt wurde. Beim Laufen kam ich als letzte ans Ziel und musste dann vor den Augen der anderen eine „Strafrunde“ laufen. Deshalb habe ich den Sportunterricht gehasst – und ich mag wahrscheinlich deshalb auch heute noch keinen Sport. In der Pubertät habe ich dann eine Radikal-Diät gemacht und war auf einmal sehr schlank. Das Gewicht konnte ich bis zur Schwangerschaft halten. Nach der Geburt meiner Kinder – ich war zweimal kurz hintereinander schwanger – kam ich von dem Gewicht nicht mehr runter. Im Gegenteil – ich nahm immer mehr zu. Auch weil ich auf einmal soviel kochen musste, um die Kinder zu versorgen. Und weil ich gegessen habe, um mich zu belohnen – es gibt da viele Muster, die bei mir zusammenlaufen.

Redaktion: Du hast durch das starke Übergewicht viel Ablehnung erlebt – sowohl von der Gesellschaft als auch aus dem medizinischen Bereich. Magst du uns von deinen Erfahrungen erzählen?

Steffi: Natürlich. Mein Gewicht ist ein Teil von mir, aber es bestimmt nicht, wer ich bin. Trotzdem wird es ständig zum Thema gemacht – sei es von Fremden, Bekannten oder Ärzten. Ich höre oft Kommentare wie: „Sie haben so ein hübsches Gesicht, schade, dass Sie so übergewichtig sind.“ Neulich hat mir mein Orthopäde gesagt: „Ihr Knie hält das nicht aus, jedes Kilo wirkt siebenfach.“ Als wenn ich das nicht wüsste. So etwas ist verletzend, aber ich habe entschieden, dass ich mir nicht vorschreiben lasse, wie ich zu leben habe.

Redaktion: Wie fühlst du dich dabei, wenn du solche Kommentare hörst, besonders von medizinischem Personal?

Steffi:: Es ist frustrierend und demütigend. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Menschen mich nur auf meine Pfunde reduzieren. Besonders enttäuschend ist es, wenn Ärzte, denen ich eigentlich vertrauen sollte, mich nicht ernst nehmen. Sie sehen oft nur mein Gewicht und nicht die Person dahinter. Das macht mich wütend, aber auch entschlossener, zu mir selbst zu stehen.

Redaktion: Aber der Orthopäde hatte ja recht, oder? Arthrose und Rückenschmerzen hängen oft mit dem Gewicht zusammen.

Steffi:: Ich bestreite nicht, dass mein Gewicht Einfluss auf meine Gesundheit hat. Aber anstatt mich zu unterstützen und konstruktive Lösungen anzubieten, wird mit dem Finger auf mich gezeigt. Ich habe keine magische Abnehm-Pille, und für mich ist Abnehmen eine komplexe Angelegenheit – körperlich und emotional. Was ich mir wünsche, ist Respekt und Empathie, keine abwertenden Kommentare. Wenn heute jemand zum Beispiel Alkoholiker ist, dann geht jeder Arzt mit dir trotzdem respektvoll um. Alle wissen, wie schwer es ist, von einer Sucht loszukommen. Essen ist meine Sucht – aber im Gegensatz zu einem Alkoholiker kann ich mich doch nicht vom Essen vollständig fernhalten. Ich muss ja leben, koche für die Kinder und überall gibt es Essen. Bäckereien, Fast-Food-Läden, im Fernsehen beißt jeder TV-Kommissar in die Currywurst – es ist für jemanden wie mich eine riesige Herausforderung. Stattdessen wird mir ein schlechtes Gewissen gemacht und ich werde beschämt.


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Redaktion: Warum ist es es dir so wichtig, zu deinen Pfunden zu stehen?

Steffi: Weil ich keine Wahl habe. Ich bin gerade so, wie ich bin und ich schaffe es nicht anders zu sein. Also nehme ich mich erst einmal so an, wie ich bin. Und ich möchte nicht mein ganzes Leben damit verbringen, mich selbst zu hassen. Die Gesellschaft erwartet von uns, dass wir einem bestimmten Ideal entsprechen, und Menschen wie ich werden ständig unter Druck gesetzt. Ich habe entschieden, dass ich diesen Druck nicht akzeptiere. Mein Wert hängt nicht von einer Zahl auf der Waage ab.

Redaktion: Wie gehst du mit den gesundheitlichen Herausforderungen um?

Steffi: Ich habe einmal sogar eine Kur mitgemacht, in der es um meine Essgewohnheiten gehen sollte. Die anderen Frauen haben sich vorwiegend von Fast Food ernährt und konnten nicht kochen. Es gab dort eine große Küche, und wir sollten ein gesundes Gericht zu bereiten. Ich habe Kartoffeln mit Hähnchengeschnetzeltem, Blumenkohl und Salat zubereitet. Die Ernährungsberaterin kostete, und sagte: „Sie kochen wirklich sehr gut!“ Und dann brauchte ich dort nicht mehr teilnehmen, die anderen lernten ja erst, zu kochen. Dann wurden Kalorien gezählt, es gab Informationen über Ballaststoffe – aber das wusste ich alles. In der Theorie weiß doch jeder, was er tun muss, um schlank zu werden. Die Praxis ist aber anders. Die Kur hat mir also nichts gebracht. Ich arbeite daran, stärker und gesünder zu werden, aber auf meine Weise. Ich mache Bewegung, die mir Spaß macht, und höre auf meinen Körper. Meine Gesundheit ist wichtig, aber sie gehört mir – nicht der Gesellschaft oder irgendjemandem, der meint, mir Vorschriften machen zu müssen.

Redaktion: Was möchtest du anderen Menschen sagen, die sich vielleicht in einer ähnlichen Situation befinden?

Steffi: Akzeptiert euch selbst, so wie ihr seid. Lasst euch nicht von anderen einreden, dass ihr weniger wert seid, nur weil ihr nicht in deren Schubladen passt. Und vor allem: Hört auf euren Körper und euer Herz, nicht auf das, was andere meinen, was ihr tun oder sein solltet.en, die euch helfen wollen. Sprecht mit jemandem, dem ihr vertraut, und sucht euch Unterstützung. Es ist schwer, aber es lohnt sich.



Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:

Druck und Vorurteile machen niemanden gesund

Als meine Tochter klein war, fiel sie von einem Klettergerüst und stand weinend in der Küche. Ich tröstete sie mit einem Eiswürfel – das war so unser Standard-Trost bei Verletzungen. Er konnte gelutscht werden, oder auf die schmerzende Stelle gelegt werden und er hat immer geholfen. Ihr kleiner Bruder war nicht damit einverstanden, dass sie getröstet wurde. „Ich habe ihr gesagt, dass das gefährlich ist. Sie hat nicht gehört!“ Es dauert, bis er einsah, dass man Trost und Zuwendung gewährt, ganz unabhängig davon, ob jemand „Schuld“ hat an dem, was ihm wiederfahren ist oder nicht. Man hilft Menschen, die Hilfe brauchen. Genau daran musste ich denken. Steffi wird von vielen Menschen so behandelt, als sei das Übergewicht ihre „Schuld“ – und deshalb solle sie sich gefälligst nicht beschweren.

Es ist nur so: die Schuldfrage bringt niemanden weiter, sie zementiert einen Zustand. Im Grunde genommen handelt es sich um eine Stigmatisierung. Besonders im medizinischen Bereich ist es fatal, wenn Menschen durch abwertende Kommentare eher beschämt als unterstützt werden. Und das hilft nicht. Weder der Person noch ihrer Gesundheit. Und dann ziehen sich Betroffene nur noch mehr in sich zurück und legen sich einen Schutzpanzer gegen seelische Verletzungen zu, der oft in noch mehr Übergewicht besteht. Hier läuft etwas grundsätzlich falsch.

Wir wissen heute, dass Übergewicht oft viele Ursachen hat: genetische, psychologische, soziale und kulturelle. Diese Faktoren werden häufig ignoriert, wenn jemandem einfach „Abnehmen“ als Lösung für Rückenschmerzen und Knieprobleme angeboten wird. Wenn es so einfach wäre, dann wäre Steffi ja nicht übergewichtig. Druck von der Gesellschaft, sich zu ändern, erlebt sie ja genug. Und sie weiss auch sehr gut, was das Gewicht für ihren Körper bedeutet – sie lebt ja damit. Also können wir mit Recht davon ausgehen, dass hier ein tieferliegendes Problem vorliegt. Interessanterweise zieht Steffi selbst den Vergleich zum Alkoholismus, als würde ich auch hier eine Suchtproblematik als Ursache vermuten. Alles kann nämlich zur Sucht werden: Alkohol, Essen, aber auch Sport und Arbeit. Und dann hilft keine Verhaltenstherapie – hier müssen wir tiefer gucken.

Statt Schuldzuweisungen brauchen wir eine empathische, lösungsorientierte Haltung. Es geht darum, zu fragen, warum Steffi isst. In welchen Situationen greift sie zum Essen. Und gibt es bestimmte Nahrungsmittel, die sie besonders gefährden? Eine klassische Psychotherapie kann in solchen Fällen oft gute Erfolge bringen. Das Ziel bei einer solchen Maßnahme ist nicht, dass Steffi das Normalgewicht erreicht, sondern dass sie sich wohl fühlt und lernt, mit allen ihren Gefühlen, auch mit Überforderung, Angst, Trauer und Wut gut zurecht zu kommen, ohne zum Essen zu greifen. Respekt und Unterstützung sind der Schlüssel – denn jeder Mensch verdient es, mit Würde behandelt zu werden. Interessanterweise ist Steffi hier auf einem ganz guten Weg: sie beginnt, sich selbst zu lieben. Das ist hervorragend. Aber, liebe Steffi, du triffst auch Entscheidungen, die dir schaden. Lerne, bessere Entscheidungen für dich zu treffen – damit du dein Leben in allen Facetten volllkommen auskosten kannst – dann wird das Verlangen nach Essen von alleine in den Hintergrund treten.

3 Gedanken zu mehr Selbstakzeptanz:

  1. Du bist mehr als dein Körper: Dein Wert als Mensch definiert sich nicht durch eine Zahl auf der Waage oder den Blick anderer.
  2. Fokus auf Gesundheit, nicht auf Perfektion: Bewegung, Ernährung und mentale Gesundheit sollten dir Freude bereiten, nicht als Bestrafung dienen.
  3. Lass dir Zeit: Veränderungen passieren nicht über Nacht. Respektiere den Prozess und feiere kleine Erfolge.

Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.

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