Psychologie

“Sie will Nähe, gibt aber nichts zurück. Mein Leben mit einer fordernden Schwiegermutter”.

Erzähl mir dein Leben:

„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.



Ein Interview mit Marlene (45), Erzieherin und Mutter zweier Kinder

Minerva-vision.de:
Marlene, du hast dich bei uns gemeldet, weil du über eine sehr persönliche Belastung sprechen möchtest. Was ist los?

Marlene:
Ich weiß, das Thema Schwiegermutter ist ein Klassiker – aber was ich erlebe, ist mehr als das. Es ist emotionaler Raubbau. Meine Schwiegermutter raubt mir Kraft, Zeit, Lebensfreude. Und am schlimmsten: Sie sieht es nicht einmal.

Minerva-vision.de:
Was genau macht sie?

Marlene:
Sie ist das Zentrum ihrer eigenen kleinen Welt. Jeden Tag ruft sie an – morgens, mittags, abends. Wenn ich nicht sofort rangehe, kommt direkt eine Nachricht: „Warum meldest du dich nicht?“ Sie jammert über Rückenschmerzen, Einsamkeit, wie schwer alles ist. Sie will getröstet werden, gesehen werden, sie will Aufmerksamkeit – aber sie gibt nichts zurück. Kein „Wie geht’s euch?“, kein Interesse an den Kindern. Wenn sie uns besucht, sitzt sie da wie eine Königin, lässt sich bedienen, und klagt über ihr Leben. Es ist toxisch.

Minerva-vision.de:
Wie reagiert dein Mann?

Marlene:
Er liebt seine Mutter. Natürlich. Aber er ist blind für ihre Manipulation. Er sagt: „Sie ist halt alt, sie hat sonst niemanden.“ Ich habe deshalb irgendwann gesagt: „Wenn sie reden will, soll sie abends anrufen – wenn du da bist.“ Schließlich ist sie seine Mutter, nicht meine. Aber was macht sie? Sie ruft trotzdem morgens an, oder schreibt mir, wenn ich nicht rangehe. Und wenn sie abends anruft und mein Mann ans Telefon geht, sagt sie nur: „Ich wollte eigentlich mit Marlene sprechen.“ Sie will gar nichts von ihm. Nur mich. Aber was habe ich mit ihr zu tun?

Minerva-vision.de:
Das klingt nach einer einseitigen Beziehung.

Marlene:
Total. Sie sieht mich als emotionale Müllhalde, nicht als Schwiegertochter. Alles, was sie bedrückt, alles, was sie braucht – damit kommt sie zu mir. Aber zuhören, fragen, Anteil nehmen? Fehlanzeige. Ich soll da sein, funktionieren, trösten. Wie ein menschliches Pflaster.


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Minerva-vision.de:
Gibt es ein Beispiel, das für dich besonders bezeichnend war?

Marlene:
Oh ja. Sie wollte, dass ich mir einen Tag Urlaub nehme, um sie zu einem Seniorenfrühstück in der Pfarrei zu begleiten. Nicht etwa, weil sie körperlich Hilfe gebraucht hätte – das Gemeindehaus ist direkt gegenüber von ihrer Wohnung! Sie hat gesagt, sie traut sich allein nicht hin. Ich war fassungslos. Die Frau ist erwachsen, sie kennt dort Leute – aber nein, ich soll meine knappe Freizeit opfern, damit sie sich nicht „komisch fühlt“. Das ist ihre Art, Verantwortung für ihr Leben an andere abzugeben. Am liebsten an mich.

Minerva-vision.de:
Wie hast du auf die Bitte reagiert, sie zum Frühstück zu begleiten?

Marlene:
Ich war ehrlich gesagt fassungslos. Sie hat geweint, als sie mich gefragt hat. Und glaub mir, das kann sie gut – Tränen auf Knopfdruck, wenn’s ihr nützt. Aber das war der Punkt, an dem ich innerlich ausgestiegen bin. Ich soll mir Urlaub nehmen, um sie 20 Meter weiter in ein Gemeindehaus zu begleiten – und sie ist körperlich völlig fit. Ich dachte nur: Nein. Einfach nein.

Minerva-vision.de:
Du hast gesagt, sie beklagt oft ihre Einsamkeit?

Marlene:
Ja, ständig. Sie hat angeblich zu wenig Kontakte, niemand kümmert sich um sie, alle sind so oberflächlich. Aber die Wahrheit ist: Sie hört niemandem zu. Wenn man mit ihr redet, dauert es keine drei Minuten, und sie ist wieder bei sich, ihren Beschwerden, ihrem Ärger über „die Welt“. Es geht nie um den anderen. Und Menschen spüren das. Deswegen zieht sie sich immer wieder in dieses Jammertal zurück – und erwartet dann von mir, dass ich sie da raushole.

Minerva-vision.de:
Wie gehst du heute mit ihr um?

Marlene:
Sie ist der Meinung, es sei meine Pflicht als Schwiegertochter, für sie da zu sein – immer, uneingeschränkt. Aber ich sehe das anders. Ich bin nicht ihre Freundin, nicht ihre Therapeutin, nicht ihre Ersatzfamilie. Und vor allem bin ich nicht dafür da, die Lücken zu füllen, die ihr Egoismus hinterlassen hat. Sie hat nur wenige Freunde, weil sie nie wirklich gibt. Weil sie nicht zuhört, sich nicht öffnet, nicht interessiert. Ich war für sie bequem – aber das will ich nicht mehr sein.

Minerva-vision.de:
Was hast du für dich daraus gelernt?

Marlene:
Dass Abgrenzung keine Lieblosigkeit ist. Es ist ein Schutzmechanismus. Ich kann Mitgefühl haben – aber ich muss mich nicht ausnutzen lassen. Und ich darf mich selbst wichtig nehmen. Vielleicht ist das sogar der erste Schritt zu echter Verbindung. Aber nur, wenn sie das auch will. Und das liegt nicht mehr bei mir.

Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach: Wenn Pflichtgefühl zur Falle wird

Was Marlene beschreibt, ist kein Einzelfall. Es ist ein typisches Beispiel für eine sogenannte emotionale Verstrickung – ein ungesundes Nähe-Distanz-Verhältnis, bei dem Erwartungen, Schuldgefühle und alte Rollenbilder ein echtes Miteinander verhindern.

Die Schwiegermutter scheint in einem kindlichen Bedürftigkeitsmodus zu leben: Sie sucht Nähe, Trost, Aufmerksamkeit, verhält sich dabei aber wie ein „emotionales Vakuum“, das alles aufsaugt, aber nichts zurückgibt. Sie will gehalten werden, aber nicht wirklich in Beziehung treten. Das ist ein Hinweis auf ein ungelöstes inneres Kind, das sich nie wirklich gesehen fühlte und jetzt versucht, die eigene Leere durch ständige Zuwendung von außen zu stillen.

Doch das funktioniert nicht. Und das ist die zentrale Erkenntnis: Bedürftigkeit ist kein Beziehungsangebot. Wenn jemand Nähe nur fordert, aber nicht gestalten kann, wird Beziehung zur Einbahnstraße. Und die Person am anderen Ende – in diesem Fall Marlene – gerät in eine Rolle, die nicht gesund ist: die der „Verantwortlichen“, der „Erwachsenen“, die für die emotionale Stabilität einer anderen Person zuständig ist. Solche Konstellationen führen fast immer zu einer Mischung aus schlechtem Gewissen und innerer Erschöpfung. Das Dilemma: Man fühlt sich verpflichtet, aber auch benutzt. Und je länger man diese Rolle spielt, desto schwerer wird es, auszusteigen.

Die Lösung? Klarheit. Und Grenzen. Marlene macht das absolut richtig: Sie erkennt, dass Fürsorge nicht dasselbe ist wie Selbstaufgabe. Es ist keine Herzlosigkeit, sondern Selbstrespekt, wenn sie sagt: „Ich bin nicht dein Lückenfüller.“

Denn genau das ist die gesunde innere Haltung, die wir alle lernen dürfen: Ich darf Mitgefühl haben – ohne mich aufzugeben. Ich darf helfen – ohne mich verantwortlich zu fühlen. Ich darf da sein – aber ich darf auch gehen.

Und wer wirklich Beziehung will, wird das nicht als Ablehnung erleben – sondern als Einladung, selbst erwachsen zu werden.


Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.

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