Psychologie

„„Ich habe gekündigt, um meine Mutter zu pflegen…

Erzähl mir dein Leben:

„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.

und jetzt weiß ich nicht weiter“

Miriam, 51 Jahre alt, hat ihren gut bezahlten Job aufgegeben, um sich um ihre schwer kranke Mutter zu kümmern.


Miriam, vielen Dank, dass du bereit bist, über deine Situation zu sprechen. Wann und warum hast du beschlossen, deinen Job zu kündigen, um deine Mutter zu pflegen?

Miriam:
Es war vor etwa einem Jahr, als bei meiner Mutter eine schwere Krankheit diagnostiziert wurde. Sie war immer eine unglaublich unabhängige Frau, aber plötzlich wurde ihr Gesundheitszustand schlechter, und es war klar, dass sie Hilfe brauchen würde – nicht nur hin und wieder, sondern rund um die Uhr.

Anfangs haben mein Bruder und ich versucht, uns die Pflege aufzuteilen, aber er lebt in einer anderen Stadt und konnte nicht immer da sein. Also war es hauptsächlich an mir, mich um sie zu kümmern. Ich habe eine Zeit lang versucht, das mit meinem Job zu vereinbaren, aber es war unglaublich schwer. Jeden Tag zur Arbeit zu gehen, während ich wusste, dass meine Mutter alleine zu Hause ist, hat mich emotional zerrissen. Ich konnte mich nicht mehr auf meine Aufgaben konzentrieren, war ständig gestresst und fühlte mich schuldig.

Nach einigen Monaten stand ich an einem Punkt, an dem ich wusste, dass ich mich entscheiden musste. Meine Mutter brauchte mich, und ich konnte ihr nicht die Pflege und Aufmerksamkeit geben, die sie brauchte, während ich gleichzeitig meinen Job aufrechterhielt. Also habe ich die Entscheidung getroffen, zu kündigen und mich voll und ganz auf sie zu konzentrieren.

Wie hast du dich gefühlt, als du die Entscheidung getroffen hast, deinen Job aufzugeben?

Miriam:
Es war eine Mischung aus Erleichterung und Angst. Erleichterung, weil ich endlich wusste, dass ich für meine Mutter da sein konnte, ohne ständig das Gefühl zu haben, sie zu vernachlässigen. Ich hatte so viel Stress in den Monaten davor, dass ich das Gefühl hatte, mich selbst zu verlieren. Sobald ich die Entscheidung getroffen hatte, meinen Job aufzugeben, fiel eine Last von meinen Schultern. Ich konnte mich endlich voll und ganz auf sie konzentrieren, und das war in dem Moment das Wichtigste.

Aber gleichzeitig war da diese große Unsicherheit. Ich hatte einen guten Job, ein stabiles Einkommen, und plötzlich war das alles weg. Ich wusste, dass es finanziell schwierig werden würde. Ich war immer sehr unabhängig, und die Vorstellung, kein eigenes Einkommen mehr zu haben, hat mir Angst gemacht. Ich habe auch darüber nachgedacht, wie lange ich das durchhalten könnte – wie lange würde meine Mutter diese intensive Pflege brauchen? Und was würde danach kommen? Diese Fragen haben mich ständig begleitet.

Wie sieht dein Alltag jetzt aus, da du deine Mutter pflegst?

Miriam:
Mein Alltag hat sich komplett verändert. Früher hatte ich einen strukturierten Arbeitsalltag, aber jetzt dreht sich alles um die Pflege meiner Mutter. Ich stehe früh auf, um ihr bei den täglichen Aufgaben zu helfen – sei es bei der Körperpflege, dem Anziehen oder dem Zubereiten von Mahlzeiten. Es ist oft körperlich anstrengend, aber auch emotional belastend.

Ich liebe meine Mutter, und ich weiß, dass ich das Richtige tue, aber es gibt Tage, an denen es unglaublich schwer ist. Ihre Krankheit hat sie nicht nur körperlich, sondern auch mental verändert. Sie ist oft frustriert oder traurig, und ich weiß, dass sie sich nicht mehr wie sie selbst fühlt. Diese emotionalen Schwankungen sind schwer zu ertragen, weil ich sehen kann, wie sehr sie leidet. Es ist schmerzhaft, mitanzusehen, wie die Person, die mir immer Halt gegeben hat, jetzt selbst so hilflos ist.

Die Tage fließen oft ineinander, und es gibt kaum Pausen für mich. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich mich selbst verliere, weil mein ganzes Leben nur noch um die Pflege meiner Mutter kreist. Freunde und Hobbys habe ich fast komplett aufgegeben, weil ich einfach keine Zeit und Energie dafür habe. Das ist einer der schwierigsten Aspekte – die Isolation, die damit einhergeht.


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Wie hat sich die Pflege deiner Mutter auf deine Beziehung zu ihr ausgewirkt?

Miriam:
Unsere Beziehung war immer sehr eng, und das hat sich in gewisser Weise auch nicht verändert. Aber die Dynamik hat sich verschoben. Früher war sie diejenige, die auf mich aufgepasst hat, und jetzt ist es umgekehrt. Das ist für uns beide nicht einfach. Manchmal spüre ich, dass sie sich schämt, weil sie so abhängig von mir ist, und das tut mir weh, weil ich möchte, dass sie sich geliebt und umsorgt fühlt.

Es gibt Tage, an denen es zwischen uns Spannungen gibt, besonders wenn sie in einer schlechten Verfassung ist und wütend oder frustriert wird. Es ist schwer, sich nicht persönlich angegriffen zu fühlen, obwohl ich weiß, dass es die Krankheit ist, die sie so reagieren lässt. Aber das kann sehr anstrengend sein, und manchmal fühle ich mich emotional erschöpft.

Gleichzeitig gibt es auch Momente, die uns noch näher zusammengebracht haben. Es ist eine sehr intime Erfahrung, jemanden zu pflegen, besonders einen Elternteil. Wir haben tiefe Gespräche über ihr Leben, ihre Ängste und ihre Erinnerungen geführt, die wir vorher nie hatten. Das ist etwas, das ich sehr schätze, auch wenn die Situation schwer ist.

Was sind deine größten Herausforderungen seit der Kündigung und der Übernahme der Pflege?

Miriam:
Die größte Herausforderung ist die Unsicherheit über die Zukunft. Ich habe meinen Job aufgegeben, und jetzt habe ich kein regelmäßiges Einkommen mehr. Natürlich bekomme ich finanzielle Unterstützung durch Pflegegeld, aber das reicht bei weitem nicht aus, um meinen Lebensstandard zu halten. Ich mache mir ständig Sorgen darüber, wie ich langfristig über die Runden kommen soll.

Es gibt auch die emotionale Belastung. Ich fühle mich oft überfordert und isoliert. Die Pflege eines kranken Elternteils ist unglaublich fordernd, und ich habe oft das Gefühl, dass ich auf mich allein gestellt bin. Mein Bruder hilft, wann immer er kann, aber er lebt weit weg, und letztlich trage ich die meiste Verantwortung. Es gibt Tage, an denen ich mich ausgelaugt fühle und nicht weiß, wie lange ich das noch durchhalten kann.

Manchmal frage ich mich, was danach kommt. Was passiert, wenn meine Mutter stirbt? Wie werde ich wieder in das Berufsleben zurückfinden? Werde ich überhaupt wieder in meinen alten Beruf einsteigen können, oder wird die Lücke in meinem Lebenslauf ein Problem sein? Diese Gedanken sind immer da und erzeugen viel Unsicherheit.

Hast du das Gefühl, dass du genug Unterstützung bekommst, um diese Herausforderungen zu bewältigen?

Miriam:
Ich habe ein paar enge Freunde, die mich unterstützen, und mein Bruder tut, was er kann. Aber es ist schwer, weil viele Menschen nicht wirklich verstehen, was es bedeutet, jemanden rund um die Uhr zu pflegen. Es gibt Momente, in denen ich mich sehr allein fühle, weil die Pflegearbeit oft unsichtbar ist. Es ist nicht wie ein Job, bei dem man am Ende des Tages nach Hause kommt und Feierabend hat – es ist ständig da, und es gibt wenig Raum für mich selbst.

Ich habe mich kürzlich einer Selbsthilfegruppe für pflegende Angehörige angeschlossen, und das war ein großer Schritt für mich. Dort treffe ich Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen, und es tut gut zu wissen, dass ich nicht allein bin. Es ist beruhigend, mit anderen zu sprechen, die verstehen, was ich durchmache, und von ihren Erfahrungen zu lernen.

Aber in der breiteren Gesellschaft habe ich oft das Gefühl, dass pflegende Angehörige nicht genug unterstützt werden. Es gibt finanzielle und praktische Hilfen, aber oft reichen sie nicht aus, um die Belastung wirklich aufzufangen.

Wie siehst du deine Zukunft? Gibt es etwas, das dir Hoffnung gibt oder dir hilft, mit der Situation umzugehen?

Miriam:
Ich versuche, Tag für Tag zu leben und mich nicht zu sehr von den Ängsten über die Zukunft überwältigen zu lassen. Was mir Hoffnung gibt, ist der Gedanke, dass ich das Richtige tue, indem ich für meine Mutter da bin. Es gibt mir Trost, dass sie sich nicht allein fühlen muss und dass ich ihr helfen kann, diese schwierige Phase ihres Lebens zu bewältigen.

Ich denke auch darüber nach, was ich tun werde, wenn diese Phase vorbei ist. Es wird schwer sein, wieder in das Berufsleben zurückzukehren, aber ich hoffe, dass ich einen Weg finden werde. Vielleicht wird es eine Weile dauern, aber ich versuche, positiv zu bleiben. Ich hoffe, dass ich irgendwann wieder mein eigenes Leben aufbauen kann, auch wenn ich im Moment nicht genau weiß, wie das aussehen wird.

Die Unterstützung durch andere pflegende Angehörige hat mir gezeigt, dass ich nicht allein bin und dass es Menschen gibt, die ähnliche Kämpfe durchstehen. Das gibt mir Kraft, weiterzumachen, auch wenn die Zukunft unsicher ist.

Miriam, vielen Dank, dass du so offen über deine Erfahrungen gesprochen hast.

Miriam:
Danke dir. Es ist nicht leicht, darüber zu sprechen, aber ich hoffe, dass meine Geschichte anderen zeigt, dass sie nicht allein sind und dass es immer Wege gibt, Unterstützung zu finden.

Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:

Wenn die Pflege eines Elternteils das Leben komplett verändert

Sie haben uns groß gezogen. Was, wenn sie selbst Hilfe brauchen? Wenn das Band zwischen Eltern und Kindern eng ist, dann gibt das Herz den Takt vor. Es zeigt, wie tief verwurzelt die Liebe zu unseren Eltern in uns ist und das ist gut und richtig. Und wenn man dann den Schritt wagt und sich für die Pflege aufopfert? Dann steht man vor der Herausforderung, das eigene Leben in den Hintergrund zu stellen – und das birgt erhebliche Konsequenzen.

Die Pflege eines geliebten Menschen kann eine tiefe emotionale Belastung sein, doch sie verändert auch alle anderen Aspekte des Lebens. Der finanzielle Aspekt ist oft der erste, der spürbar wird. Ein Jobverlust in der Mitte des Lebens ist ein Einschnitt in die finanzielle Sicherheit. In einer Zeit, in der viele Menschen bereits mit der Planung ihrer Rente und ihrer eigenen Zukunft beschäftigt sind, trifft Miriam die Entscheidung, sich vollständig der Pflege ihrer Mutter zu widmen. Das erfordert einen enormen persönlichen Einsatz – und oft wird dieser Einsatz nicht ausreichend gewürdigt. Weder emotional, noch finanziell. 

Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass eine solche Entscheidung nicht nur eine kurzfristige Verpflichtung ist. Die Pflege eines Elternteils kann Jahre dauern, und in dieser Zeit verändert sich das eigene Leben unwiderruflich. Es entsteht eine Art von Abhängigkeit – nicht nur des Elternteils, sondern auch des Pflegenden. Man wird plötzlich in eine Rolle gedrängt, in der das eigene Wohl und die eigenen Bedürfnisse zurückgestellt werden müssen. Und in Miriams Fall führt das dazu, dass sie sich selbst und ihre beruflichen Ziele aufgibt.

Die Frage, die sich stellt, ist: Welchen Preis zahlen wir für unsere Loyalität und Liebe? Und wie weit sind wir bereit, zu gehen? Denn während wir emotional für unsere Eltern da sein wollen, bleibt die Realität oft hart: Die eigenen Finanzen, die eigene Zukunftssicherung – all das gerät ins Wanken. Es ist bewundernswert, dass Miriam diese Last auf sich nimmt, aber es ist auch ein Hinweis darauf, dass unsere Gesellschaft nicht genug Unterstützung für Menschen bietet, die in solche Situationen geraten.

Miriam hat ihren Job gekündigt, um sich um ihre Mutter zu kümmern, aber was passiert, wenn diese Phase vorbei ist? Wenn der Pflegefall endet, findet sie sich möglicherweise in einem finanziellen und beruflichen Vakuum wieder. Und auch wenn diese Entscheidung aus tiefster Liebe getroffen wurde, ist sie ein Opfer, das langfristige Konsequenzen haben wird.

Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns nicht nur um unsere pflegebedürftigen Eltern kümmern, sondern auch um uns selbst. Ansonsten geraten die eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund  – und das ist eine bewundernswerte, aber auch gefährliche Dynamik. Wir müssen uns fragen: Wie können wir die Pflege unserer Eltern mit unserem eigenen Leben in Einklang bringen, ohne uns dabei selbst zu verlieren?

Die Antwort darauf liegt nicht in einem einfachen „entweder-oder“. Es braucht ein gesellschaftliches Umdenken, mehr Unterstützung für pflegende Angehörige, sei es durch finanzielle Absicherung oder durch den Zugang zu professioneller Pflegehilfe. Denn niemand sollte das Gefühl haben, zwischen der Pflege eines geliebten Menschen und dem eigenen Überleben wählen zu müssen. So ist es aber leider nicht. Und deshalb würde ich Menschen wie Miriam dazu raten, sich in Therapie zu begeben. Als pflegende Angehörige ist man in einer psychischen extrem belastenden Situation, die dies rechtfertigt. In der Therapie kann sie mit einem geschulten Zuhörer einen Plan für ihr Leben entwickeln, in dem die Pflege ihrer Mutter und ihre eigenen Bedürfnisse in Einklang gebracht werden. Solche Menschen sind in der Regel gut vernetzt und bestens über staatliche Zuschussprogramme informiert. Es gibt Angebote für Kurzzeitpflegen, so dass der Pflegende auch einmal in Urlaub fahren kann. Neben den emotionalen Aspekten gehören selbstverständlich auch die finanziellen Bedürfnisse zu solchen Überlegungen dazu. Um die eigene Rente zu sichern, ist es unter Umständen sinnvoll, wenigstens halbtags wieder in den Beruf zurückzukehren und für diese Zeit eine ambulante Betreuung in Anspruch zu nehmen.

Liebe Miriam, ich sehe die Gefahr, dass du dich restlos aufopferst. Was bleibt von dir, wenn deine Mutter nicht mehr ist? Sorge nicht nur für die anderen, sondern auch für dich und lass dir dabei helfen. Du musst da nicht alleine durch. Ein Therapeut kann deinem Ich helfen, seine Stimme zurückzufinden, so dass du ohne ein schlechtes Gewissen sowohl für dich, als auch für deine Mutter sorgen kannst. Du hast ein Anrecht darauf, immerhin hast du ja auch Jahre lang in die Krankenkasse eingezahlt.

Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.

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