Yoga & MS:Warum die Matte mehr kann, als nur gut aussehen
Mein Leben mit MS:
Hallo und herzlich willkommen bei MS-Voices! Ich bin Irene, und hier dreht sich alles um das Leben mit Multipler Sklerose (MS). Als ich vor einigen Jahren die Diagnose erhielt, hat sich mein Alltag auf den Kopf gestellt – und ich war plötzlich mit unzähligen Fragen, Ängsten und Herausforderungen konfrontiert. In diesem Blog möchte ich meine persönlichen Erfahrungen mit euch teilen und Menschen eine Stimme geben, die unter MS leiden. Wie ist das wirklich, mit MS zu leben? Wie verändert es den Alltag, die Beziehungen und die Zukunftsplanung? Hier gibt es ehrliche Einblicke, praktische Tipps und die ein oder andere Anekdote aus meinem Leben – direkt aus dem Herzen einer Betroffenen.
Ich und Yoga? Ich höre euch kichern. Die, die mich heute beim Versuch, im Lotussitz zu landen, sehen, halten mich eher für eine verhedderte Klappcouch. Dass ich mal zwei Jahre „Elevin“ an einer Krefelder Ballettschule war, glaubt mir kaum jemand. Aber ich kann’s beweisen – es gibt Fotos. Spitzentanz, Brücken, Räder – alles dabei. Zur Eröffnung des Affenhauses im Krefelder Zoo habe ich mit meinen Ballett-Freundinnen sogar eine Mini-Choreo zu einem Kinderlied aufgeführt, dessen Titel man heute zurecht nicht mehr ausspricht. Der Text begann mit „10 kleine … “. Ich war übrigens Nummer 4 – für diejenigen, die in meinem Alter sind und das Kinderlied noch kennen.
Warum ich das erzähle? Weil ich – mit MS (Multiple Sklerose) im Gepäck – wieder lernen musste, mich zu bewegen, ohne mich zu überfordern. Und weil es neue, gute Nachrichten von der Yoga-Front gibt. Eine aktuelle Übersichtsarbeit hat 26 randomisierte, kontrollierte Studien mit 1.960 Teilnehmenden ausgewertet. Nur RCTs (Randomized Controlled Trials, also kontrollierte Studien mit zufälliger Zuteilung), mindestens 8 Wochen Yoga, Suchzeitraum 2000 bis Mitte 2024. Ergebnis: Yoga kann bei Autoimmun- und immunvermittelten Erkrankungen deutlich mehr als nur für Wohlfühlmomente sorgen. Bei MS zeigte sich weniger Fatigue, besseres Gleichgewicht, weniger depressive Symptome und ein Plus an Lebensqualität (Quality of Life, QoL). Bei RA (rheumatoider Arthritis) gingen Entzündungsmarker wie TNF-α (Tumornekrosefaktor-alpha, ein Botenstoff für Entzündungen) zurück, und die Stimmung besserte sich. Bei Spondylitis verbesserten sich körperliche Funktion, Krankheitsaktivität und Lebensqualität. Selbst bei autoimmuner Parodontitis gab es Effekte – der klinische Attachmentverlust nahm ab. Nebenwirkungen? Keine berichtet, allerdings oft kleine Gruppen und kurze Laufzeiten. Das Ganze wirkt wie eine sinnvolle Ergänzung zur Standardtherapie, nicht wie ein Allheilmittel.
Was heißt das konkret für uns mit MS?
Viele Begriffe aus der Studie klingen erstmal sperrig. Kurz erklärt:
- Fatigue = diese spezielle MS-Müdigkeit, die dich auch nach zwölf Stunden Schlaf lahmlegt. Yoga kann helfen, deine Energiereserven besser einzuteilen.
- Balance = Gleichgewicht. Für Menschen ohne MS banal, für uns manchmal eine echte Herausforderung. Yoga trainiert genau die Muskeln, die Stabilität geben.
- Depressive Symptome = nicht „schlechte Laune“, sondern echtes Krankheitsgewicht. Yoga kann die Stimmung aufhellen – nicht als Ersatz, aber als Unterstützung.
- TNF-α (Tumornekrosefaktor-alpha) = ein Signalstoff, der Entzündungen ankurbelt. Bei RA konnte Yoga diesen Wert senken. Für MS interessant, weil Entzündung auch bei uns die Schlüsselfrage ist.
- Lebensqualität (QoL) = ein Sammelbegriff, der alles umfasst: Selbstständigkeit, Schlaf, Freude, Alltag. Yoga zeigte hier Verbesserungen.
Es geht also nicht darum, dass Yoga MS „heilt“. Sondern darum, im Alltag beweglicher, wacher, stabiler und ausgeglichener zu werden – ohne Nebenwirkungen.
Die meisten Studien arbeiteten mit zwei bis drei Einheiten pro Woche über acht bis 24 Wochen. Daraus lässt sich ableiten: klein anfangen, regelmäßig dranbleiben, nach ein paar Wochen prüfen, ob sich etwas verändert. Bei Fatigue lieber kurze Einheiten von zehn bis 20 Minuten. Bei Gleichgewichtsthemen langsame Standübungen, gern mit Haltemöglichkeit. Stimmung im Keller? Sanfte Asanas kombiniert mit Atemübungen und einer kurzen Entspannung können helfen. Fortschritte aufzuschreiben – auch die kleinen – macht sie sichtbar. Und ganz wichtig: Yoga ersetzt keine DMTs (Disease Modifying Therapies, also krankheitsmodifizierende Therapien) und keinen Neuro-Check. Es ergänzt.
Die Autor:innen haben übrigens gründlich gesucht, fünf Erkrankungsgruppen eingeschlossen (MS, RA, ankylosierende Spondylitis, CED = chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, autoimmune Parodontitis) und wegen der Vielfalt der Interventionen ein „vote counting“ nach Richtung der Effekte genutzt. Solide gemacht, aber keine absolute Wahrheit.
Nutze die Ergebnisse, aber bleib realistisch.
Und jetzt zurück nach Krefeld, zurück zum Affenhaus, das für mich Kindheit, Ballettschweiß und Pommes rot-weiß nach der Probe bedeutet. Das Affentropenhaus wurde 1975 eröffnet (ich war da gerade sieben Jahre alt) – damals ein Pionierbau mit 2.000 Quadratmetern Tropenklima, Heimat für Gorillas, Schimpansen und Orang-Utans. In der Silvesternacht 2019/2020 brannte es ab. Ursache: Himmelslaternen. Mehr als 50 Tiere starben. Ich tippe diese Zeilen und merke, wie es mich immer noch trifft. Und ja, das bleibt so.
Was tue ich mit diesem Kloß im Hals? Ich rolle die Matte aus. Nicht, um etwas „wegzuatmen“, sondern um mir selbst die Hand zu reichen. Zwei Runden Katze-Kuh. Eine kurze Vorbeuge, Knie locker, Rücken lang. Dann setze ich mich, kreise Schultern, atme vier Takte ein, sechs aus. Manche nennen es Achtsamkeit, für mich ist es ein kleines Wiederankommen. Und an manchen Tagen wage ich sogar eine halbe Brücke. Die alte Elevin lässt grüßen, die aktuelle Version wackelt, lacht und hält zehn Atemzüge. Reicht völlig.
Wenn du anfangen willst, such dir eine:n Yoga-Lehrer:in mit Erfahrung bei chronischen Erkrankungen oder nutze Programme, die explizit Fatigue, Spastik und Balance berücksichtigen. Kläre mögliche Gegenanzeigen mit deinem Neuro-Team, besonders bei frischen Schüben oder starker Temperaturempfindlichkeit. Und sieh Pausen als Teil der Praxis. Der Effekt kommt nicht aus Heldentaten, sondern aus freundlicher Regelmäßigkeit. Genau das spiegelt sich auch in den Studien wider.
Und manchmal stelle ich mir vor, wie meine Affenhaus-Zeit heute aussähe: Ich im Tütü, Spitzenschuhe gegen Yogamatte getauscht, die Gorillas klatschen im Takt, und irgendwo im Hintergrund summt jemand die Melodie von damals, die ich heute nicht mehr wiedergeben würde. Bewegung, egal in welcher Form, bleibt ein Teil von mir.
Mein persönlicher Deal:
Ich nehme Yoga als Verbündeten, ohne mich von meinem inneren Antreiber stressen zu lassen. Ich feiere kleine Fortschritte. Und ich bewahre die Erinnerung an das Krefelder Affenhaus als das, was sie ist – ein trauriger Teil meiner Geschichte, der mich trotzdem lehrt, achtsam, respektvoll und lebendig zu bleiben.
Bleib bei dir. Atme. Und wenn du wackelst, dann wackle mit Stil.

Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, diesen Beitrag zu lesen! Ich hoffe, dass meine Erfahrungen dir ein Stück Klarheit oder Ermutigung schenken konnten. Als ich die Diagnose MS bekam, fühlte ich mich oft allein und überfordert. Genau deshalb habe ich ein Buch geschrieben, das ich selbst damals so dringend gebraucht hätte. „Spring, damit du fliegen kannst.: Ein Selbsthilfe-Ratgeber für MS-Erkrankte und ihre Angehörigen.“ Es ist bei Minerva-Vision erschienen. Wenn du Interesse hast, schau es dir gerne an – vielleicht ist es genau das, was auch dir weiterhelfen kann. Oder hör dir meinen Podcast „MS-Voices“ an. Bis zum nächsten Mal!
Du hast auch MS und möchtest mit mir in meinem Podcast darüber sprechen? Dann schreib mir eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.




