Psychologie

Die anderen sind eh schlauer als uns!

Tiere sind manchmal die besseren Pädagogen. Wie ein Schulhund alles ändert. 

„Ich gehe nicht in diese Klasse, nicht in DIESE Klasse, da müssen Sie jemand anderen rein schicken, die gehen da mit einem Geodreieck auf dich los!“- aufgeregtes Stimmengewirr am Montagmorgen vor dem Lehrerzimmer. 

Wir haben das Jahr 2008. Ein Kollege, der zur Vertretung in eine achte Hauptschulklasse eingeteilt war, machte seiner Ablehnung gegenüber der Schulleitung lautstark Luft. Für einen kurzen Moment blieb ich stehen, weil ich den Kollegen verstehen konnte. 

Fataler Fehler!

„Ah, die Frau Ram, kommen Sie doch mal bitte!“, wurde ich daraufhin konspirativ heran gewunken. In Gedanken spulte ich eine Liste möglicher Dienstvergehen ab, konnte mich aber nur an nicht aufgefülltes Kopier- und Toilettenpapier erinnern.

„Sie tauschen mit Herrn Dingenskirchen die dritte Stunde und gehen statt in Ihre Klasse in die 8c H und machen Musikunterricht! Das wäre es dann, danke Ihnen!“

Bämm! Eine Parade Panzer rollte über mich und mein grinsender Kollege Dingenskirchen klopfte mir mitfühlend auf die Schulter, ein genuscheltes „Beileid“ in meinem Ohr und weg war meine Freistunde.

„Aber da wollte ich doch mit Rocky (Anm.: unserem ersten Boxerhund) Gassi gehen…!“, flüsterte ich noch leise. 

Keine Chance, die Entscheidung war gefallen.

Ich muss dazu anmerken, dass ich gerne in Hauptschulklassen arbeitete, weil ich hier das Gefühl hatte, etwas im Ansatz bewegen zu können und einen besonderen Draht zu den SchülerInnen entwickelt zu haben schien. Aber die 8c H…und dann noch Musikunterricht…!

Resigniert hielt ich mit meinem Lebenspartner, dem Schulhausverwalter, mit dem ich gemeinsam auf dem Schulgelände in einer Dienstwohnung lebte, Rücksprache.

„Nimm Rocky doch einfach mit in die Klasse, das wird schon, ich sag der Schulleitung Bescheid!“, riet er mir. Gesagt, getan. Die Schulleitung und auch die Klassenleitung wurde informiert, dass in der dritten Stunde der Boxerrüde „Rocky“ des Schulhausverwalters mit in den Unterricht kommen würde. Es gab keine Gegenstimmen, Rocky durfte mit.

Als es nach der Pause blinkte und ich mit unserem damaligen Boxerrüden aus dem polnischen Tierschutz die Treppen zur achten Klasse hochstieg, wurde mir doch ein wenig mulmig. 

Was, wenn etwas passieren würde? 

Rocky lief nach Schulschluss und vor Unterrichtsbeginn stets mit meinem Lebenspartner durch das Schulgebäude und war sehr verträglich. Aber ich selbst war noch relativ unerfahren.

Wie würde es wohl den SchülerInnen gehen, die durch eigene Erfahrungen oder kulturelle Hintergründe lieber von Hunden Abstand halten, wenn plötzlich ein 34 Kilo Molosser vor ihnen auftaucht?

Die Geräusche vom Flur erweckten das Gefühl, in eine rege Diskussion um Schnellladekabel für gefälschte iPhones reinzuplatzen, da musste ich jetzt durch. Und Rocky? Der lag seelenruhig vor der Klasse im Flur und schnarchte. Frei nach dem Motto: „Die Geräusche kenne ich schon!“

„Pitbull, Pitbull!!“, schrien die ersten SchülerInnen und retteten sich auf ihre Tische.

Diese Reaktion kannte ich bereits – unser Rocky war ein sehr bulliges und nun ja, leicht übergewichtiges Exemplar.

„Wenn ihr so schreit und euch so schnell bewegt, wird es nicht besser, dann wacht Rocky auf! Der ist übrigens ein BOXER, kein Pitbull“, versuchte ich ruhig zu erklären. Die ersten trauten sich schließlich und nahmen ganz leise auf ihren Stühlen Platz, selbst das Öffnen der Taschen war in Zeitlupe und ruhig. Und das bedarf einiger Fähigkeiten, da unsere Schüler oftmals nur mit einem Turnbeutel, in dem ihre Bauchtasche drin ist, erscheinen. Versuchen Sie selbst einmal diesen geräuschlos zu öffnen, das ist fast so herausfordernd wie mit dem Partner ein IKEA-Regal aufzubauen.

Rocky drehte sich währenddessen unbeeindruckt auf die andere Seite und ließ einen boxertypischen Pups in die Klasse fahren, was die Anspannung wesentlich lockerte, und Grinsen verursachte. 

Das Eis war gebrochen. 

Was folgte, war eine ruhige und richtig entspannte Musikstunde, in der wir fast ausschließlich über Hunde, Tierschutz und Hunde in südländischen Kulturen sprachen. Rocky durfte zum Abschluss sogar in den Klassenraum hinein und ließ sich gönnerhaft von den mutigsten SchülerInnen streicheln.

„Geil! Ich dachte, meine Hand fällt ab, wenn ich ihn anfasse!“

„Ich dachte, der beißt mir voll ins Gesicht, aber der ist soooo süß!“

Die Tür stand währenddessen offen und der Lehrer, der nach mir in die 8. Klasse kam, nickte anerkennend, als er die Szene beobachtete.

„Und warum seid ihr bei Frau Ram so leise geblieben?“, wollte der Kollege schließlich wissen.

„Weil, ihr Pitbull hat Magic Tricks, Herr Dingenskirchen!“, erklärte ein Schüler. „Er kann machen, dass die Luft stinkt und wir dann alle lachen müssen!“

Das klang logisch!

 Und es war mein luftiger, wenn auch noch unglaublich ungelenker und unprofessioneller Einstieg in den Unterricht mit Hund. So begann ich vor mittlerweile fast 15 Jahren damit, meinen Hund zeitweise, spontan und außer der Absprache mit der Schul- und Klassenleitung, ziemlich unvorbereitet in den Unterricht mitzunehmen.

„Kommen Sie mal wieder mit Ihrem Pitbull, darf ich dann Selfies mit ihm machen?“, fragten mich Schüler nach der Stunde.

„Na, das muss ich mir erst einmal überlegen! Und es ist ein BOXER, immer noch!“, entgegnete ich. Und das war gar nicht mal gelogen.

Fragen türmten sich nun in meinem Kopf auf: Was, wenn etwas passiert wäre? Was, wenn die Kids zuhause fälschlicherweise erzählen, dass da ein Kampfhund in der Schule rumläuft? Wer zahlt, wenn etwas passiert? Wie bin ich versichert? Und so weiter und so fort.

Ein Plan, ein Konzept zur tiergestützten Pädagogik und vor allem Antworten auf all die Fragen mussten her! Und zwar schnell.

Der Hund als Eisbrecher: das Wunder der „tiergestützten Pädagogik“

Die tiergestützte Pädagogik nutzt die Wirkung von Tieren bei ganzheitlichen Bildungsprozessen. Woher stammt die Idee? Was bedeutet der Begriff?

✓ „Die Eisbrecher-Theorie“: Es war in den 1960er Jahren. Der amerikanische Psychotherapeut Boris Levinson bekam Besuch von einem Jugendlichen, zu dem er keinen Zugang fand. Zufällig war dieses Mal sein Hund anwesend, ein Retriever. Die Anwesenheit des Hundes änderte alles. Über den Hund kam er mit dem vormals unzugänglichen Jugendlichen ins Gespräch. Der Retriever tauchte unter das Bollwerk aus Abwehr hindurch – und wurde so zum Bindeglied zwischen Pädagoge und Klient. Auf diese Erfahrung gründete er seine Idee der tiergestützten pädagogischen und therapeutischen Arbeit mit Hund und Jugendlichen und ist heute wohl einer der meist zitierten Therapeuten, wenn es um den Einsatz von Tieren in der Therapie geht [Levinson, Illinois 1964].

✓ Im europäischen Raum nahm die Idee in den 1990er Jahren Gestalt an, Tiere, oder im speziellen Fall Hunde, mit in den Unterricht, oder die Arbeit mit Heranwachsenden zu nehmen. Tiere im Unterricht waren bis dahin nicht ungewöhnlich, nimmt man die Aquarien in Biologie, Kleintiere in der Klasse, oder auch den Hund des Schulhausverwalters als Schulmaskottchen.

✓ Zwar gibt es keine eindeutigen Statistiken, jedoch gibt es seit der Jahrtausendwende einen eindeutigen Anstieg des Einsatzes von Hunden speziell im schulischen Raum. Dabei sind nicht alle LehrerInnen-Hund-Teams amtlich registriert. Dies hängt womöglich mit der unterschiedlichen bürokratischen Regelung der Bundesländer im Einzelnen zusammen, aber auch mit der noch nicht einheitlichen Akzeptanz der Schulbehörden. Doch auch der Begriff „Schulhund“ ist noch nicht einheitlich geregelt [www.schulhundweb.de].

✓ Der Einsatz eines Hundes fällt unter den Begriff „tiergestützte Pädagogik“. Dabei unterscheidet man in der Fachliteratur in „Schulhund“, fest ausgebildet und stetig anwesend in Schule und Unterricht, den „Präsenzhund“, teilweise ausgebildet, nur in bestimmten Projekten und Unterrichtsphasen anwesend und den „Besuchshund“, externer Besitzer, nur anwesend zu Workshops oder Projekten außerhalb des Unterrichts [Heyer und Kloke, Nerdlen/Daun, 2011].

Hier schreibt Anna Maria Ram

„Ich geh‘ Haupt!“- würde ein Großteil meiner SchülerInnen mich beschreiben. Daraufhin würde ich, peinlich berührt durch diese fehlgeleitete Stilblüte adoleszenter Satzbaukunst, pfeifend in die Luft schauen und erröten – okay, auch ein wenig lächeln, ich gebe es zu.

Vielleicht versuche ich es dann doch lieber selbst:

Mein Name ist Anna Maria Ram. Jahrgang 1980. Seit 2007 arbeite ich im hessischen Schuldienst als Lehrerin an Haupt- und Realschulen für die Fächer Deutsch und Geschichte. Was nicht verwunderlich ist, würde manch einer sagen, da ich aus einer Lehrerfamilie komme, die bis in die dritte Generation pädagogisch gearbeitet hat.

Haustiere, insbesondere Hunde, waren immer ein großer Bestandteil meines Lebens, auch wenn wir zunächst keine eigenen in der Familie halten konnten. Zum einen, weil mein Bruder stark allergisch war, zum anderen, weil wir in der Frankfurter Innenstadt den Bedürfnissen eines Hundes nicht kompromissfrei gerecht werden konnten. Das hielt mich jedoch nicht davon ab, mich im Freundes- und Bekanntenkreis uneingeschränkt mit Tieren zu beschäftigen und mehr im Speziellen über Hunde erfahren, mich über sie weiterbilden zu wollen.

Eine besondere Verbindung zu Hunden bestand seit meiner Kindheit. Sie gaben mir in Zeiten des Umbruchs Halt und Ruhe, Sicherheit und Selbstbewusstsein. Als ich mit elf meinen Vater verlor und mich emotional eingemauert habe, war es der Hund unserer Nachbarn, ein Hütehundmix namens „Rambo“, der mich auf langen Spaziergängen begleitet und mir zugehört hat. Er hat wertfrei meine Launen ertragen, so sind Hunde, sie urteilen nicht und scheinen einfach zu verstehen. Das faszinierte mich. Doch noch war die Zeit nicht reif.

Zunächst nahm die berufliche Laufbahn den Hauptanteil in meinem Leben ein. Mit den Jahren traten im Arbeitsumfeld Schule Reformen und Veränderungen, Generationswechsel und politische Entscheidungen auf, die verdeutlichten, dass sich etwas verändern musste an unserem Schulsystem und unseren pädagogischen Konzepten – der kulturell und sozial sehr diversen Generation werden wir so nicht mehr nachhaltig gerecht, war mein Gefühl.

„Frau Ram, chillaxen Sie und gönnen Sie sich!“, würden meine SchülerInnen an dieser Stelle raten und ungesehen einen Melonenkaugummi unter den Tisch kleben.

Na ja, vielleicht versuche ich das dann auch an dieser Stelle noch einmal selbst:

In den Zeiten des pädagogischen, sozialen und weltpolitischen Umbruchs erinnerte ich mich in meinem Beruf an meine Jugend und wie mir Hunde geholfen hatten, Schicksalsschläge zu meistern und gemeinsam zu wachsen. Darin erkannte ich eine Chance für neue Konzepte im Unterricht und beschloss, mich auf eine Reise zu begeben, die bis heute anhält.

Ich freue mich, Sie dabei ein Stück mitnehmen zu dürfen, oder wie meine SchülerInnen sagen würden: „Stabil, läuft bei Ihnen!“

Zum Weiterlesen:

“Die anderen sind eh schlauer als uns!” Für alle, die ihren Hund selbst für den Einsatz in der tiergestützten Pädagogik ausbilden möchten.

Anna Maria Ram

Minerva Verlag, Mönchengladbach

Format 17 x 24 cm

ISBN 978-3-910503-16-8

244 Seiten mit Bildern.

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