„Mein Sohn starb, als er sieben war.“
Erzähl mir dein Leben:
„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.
„Die Trauer verschwindet einfach nicht.“
Es gibt kaum einen Schmerz, der größer ist, als den Verlust des eigenen Kindes.
Lena (39) hat vor drei Jahren ihren Sohn Finn im Alter von nur sieben Jahren verloren. Sie spricht über ihre unvorstellbare Trauer, den Umgang mit dem Verlust und darüber, wie sie es schafft, jeden Tag weiterzuleben – auch wenn der Schmerz nie ganz verschwindet.
Lena, vielen Dank, dass du bereit bist, über dieses so schwere Thema zu sprechen. Wie hast du den Verlust deines Sohnes erlebt?
Lena:
Es ist schwer in Worte zu fassen. Es fühlt sich an, als ob das Leben in dem Moment stehen bleibt, in dem du realisierst, dass dein Kind nicht mehr da ist. Finn war mein Ein und Alles. Er war voller Energie, hatte so viel Lebensfreude – und dann, plötzlich, war er weg. Ich weiß noch, wie ich da saß, starr vor Schmerz, und mich fragte, wie ich jemals wieder atmen soll. Es ist, als ob man ein Stück von sich selbst verliert. Ein Teil von mir ist mit ihm gestorben.
Wie hast du diese erste Zeit nach seinem Tod erlebt? Was hat dir geholfen, überhaupt weiterzumachen?
Lena:
Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie ich die ersten Wochen überlebt habe. Es war, als ob ich mich in einem Nebel befand, der alles dämpfte – den Schmerz, die Realität. Ich funktionierte einfach. Ich stand auf, ich atmete, aber das war es auch. Es gab Tage, an denen ich nicht wusste, wie ich weitermachen soll. Der Gedanke, dass Finn nicht mehr da ist, war unerträglich.
Was mir half, war meine Familie. Mein Mann, meine Eltern und meine Freunde haben mich durch diese Zeit getragen. Aber auch Finns Erinnerungen – seine Bilder, seine Spielsachen, die kleinen Dinge, die er hinterlassen hat – gaben mir einen Halt. Manchmal saß ich einfach in seinem Zimmer, hielt seine Lieblingsdecke und weinte. Ich wollte den Schmerz fühlen, weil er das Einzige war, das mir noch das Gefühl gab, dass Finn da war.
Wie sieht dein Leben heute aus, drei Jahre nach dem Verlust? Hat sich der Schmerz verändert?
Lena:
Der Schmerz ist immer noch da, er wird auch nie verschwinden. Aber er hat sich verändert. In den ersten Monaten fühlte es sich an, als ob eine Wunde aufgerissen wurde, die niemals heilen kann. Heute ist diese Wunde noch da, aber sie hat eine andere Form angenommen. Es gibt Tage, an denen ich lachen kann, an denen ich mich an Finns Lachen erinnere und ein warmes Gefühl empfinde. Aber dann gibt es auch Tage, an denen der Schmerz genauso stark ist wie am ersten Tag.
Man lernt, mit dem Verlust zu leben, aber man lebt nie wirklich ohne ihn. Er wird zu einem Teil von dir, zu etwas, das dich jeden Tag begleitet. Es gibt keine „Heilung“ von so einem Verlust. Aber ich habe gelernt, dass es okay ist, weiterzuleben. Es ist okay, Freude zu empfinden, auch wenn das Herz voller Trauer ist. Manche Menschen verstehen das, andere nicht. Aber ich kann nicht ändern, wie ich bin. Ich bin heute einfach anders, als vorher. Schwerer, aber irgendwie fühle ich auch intensiver. Wenn ich mit dem Fahrrad fahre, die Sonne scheint mir ins Gesicht, der Fluss glitzert und die Schwäne schwimmen – dann steige ich ab, setze mich auf eine Bank und genieße den Moment. Die Schwere bleibt zwar, aber ich kann dennoch glücklich sein.
Gibt es etwas, das du anderen Eltern, die ihr Kind verloren haben, sagen möchtest?
Lena:
Ich möchte ihnen sagen, dass sie nicht alleine sind. Wenn man ein Kind verliert, fühlt es sich oft an, als ob die Welt um einen herum weitergeht, während man selbst in diesem stillen, unendlichen Schmerz gefangen ist. Aber es gibt so viele von uns, die diesen Weg gehen. Es ist ein schrecklicher Weg, den niemand gehen möchte, aber wir sind nicht allein – und es tut so gut, sich auszutauschen. Ich glaube, meine Online-Trauergruppe hat mir am meisten geholfen.
Ich denke, es ist wichtig, sich die Erlaubnis zu geben, zu trauern – auf die eigene Art und Weise und in dem eigenen Tempo. Niemand kann dir sagen, wie du mit diesem Verlust umgehen sollst. Manche Menschen brauchen Jahre, um wieder Licht in ihrem Leben zu sehen, und das ist in Ordnung. Es gibt kein „richtig“ oder „falsch“ in der Trauer.
Wie hat sich deine Beziehung zu Finn in deiner Erinnerung verändert? Denkst du oft an ihn?
Lena:
Ich denke jeden Tag an ihn. Er ist immer bei mir, in jeder Entscheidung, die ich treffe, in jedem Moment, in dem ich innehalte und mich frage, was er wohl gesagt hätte oder getan hätte. Manchmal kommt es mir vor, als könnte ich seine Stimme hören, wenn ich durch den Park gehe, in dem er so gerne gespielt hat. Finn ist ein Teil von mir, und das wird er immer bleiben.
Was sich verändert hat, ist, dass ich gelernt habe, die schönen Erinnerungen mehr zu schätzen. Anfangs konnte ich kaum an ihn denken, ohne in Tränen auszubrechen. Jetzt kann ich an die glücklichen Zeiten denken, an die kleinen Dinge, die uns zum Lachen gebracht haben, und das gibt mir Kraft. Es ist, als ob er mir zeigt, dass das Leben weitergehen muss – auch wenn es ohne ihn weitergeht.
Hast du Rituale oder besondere Momente, in denen du Finn gedenkst?
Lena:
Ja, ich habe einige Rituale. Jedes Jahr an seinem Geburtstag backe ich seinen Lieblingskuchen – auch wenn er nicht da ist, fühlt es sich an, als wäre das meine Art, ihn zu feiern. Manchmal gehe ich an den See, an dem wir so oft waren, und setze mich hin, um einfach nur an ihn zu denken. Ich rede auch manchmal mit ihm. Es mag verrückt klingen, aber es hilft mir, das Gefühl zu haben, dass er mich hört.
Diese kleinen Rituale geben mir Trost. Sie helfen mir, die Verbindung zu ihm aufrechtzuerhalten. Denn obwohl er körperlich nicht mehr bei mir ist, fühle ich seine Anwesenheit immer noch.
Was hat dir in den dunkelsten Momenten Kraft gegeben?
Lena:
Es waren oft die kleinen Dinge. Ein Lächeln von einem Freund, ein Sonnenstrahl an einem besonders dunklen Tag, das Gefühl, dass Finn irgendwie noch bei mir ist. Es waren auch die Erinnerungen an die Zeit, die wir zusammen hatten. Selbst in den dunkelsten Momenten wusste ich, dass ich die Liebe, die ich für Finn empfinde, für immer in meinem Herzen tragen werde. Und das hat mir geholfen, weiterzumachen.
Wie blickst du heute auf die Zukunft? Gibt es Hoffnung, trotz des Verlustes?
Lena:
Ich habe gelernt, dass Hoffnung und Trauer nebeneinander existieren können. Ja, es gibt Tage, an denen der Schmerz übermächtig ist. Aber es gibt auch Tage, an denen ich spüre, dass das Leben weitergeht und dass es wieder Momente der Freude geben kann. Ich weiß, dass ich Finn nie vergessen werde, und das möchte ich auch nicht. Aber ich weiß auch, dass ich einen Weg finden muss, um weiterzuleben – für mich und für die Menschen, die noch in meinem Leben sind.
Die Zukunft wird nie so sein, wie ich es mir vorgestellt habe, aber sie kann trotzdem gut sein. Es gibt immer Raum für neue Hoffnung, selbst wenn der Schmerz immer ein Teil davon bleibt.
Vielen Dank, Lena, dass du deine Geschichte mit uns geteilt hast.
Lena:
Gern. Es ist schwer, darüber zu sprechen, aber ich hoffe, dass meine Worte anderen, die ähnliches durchmachen, etwas Trost spenden können.
Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:
Wie lange dauert Trauer?
Lenas Geschichte zeigt uns, dass es für Trauer keine festen Regeln gibt. Jeder Mensch trauert auf seine eigene Weise und in seinem eigenen Tempo. In der Fachwelt unterscheidet man zwischen „normaler“ und „pathologischer“ Trauer, doch die Grenzen sind fließend. Wann wird Trauer problematisch? Wann braucht es Unterstützung von außen? Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten, denn auch ein gesunder Trauerprozess kann sich über Monate oder Jahre erstrecken. Eine gewisse Resttrauer, die in bestimmten Momenten – an Jahrestagen, Geburtstagen oder in unerwarteten Augenblicken – wieder auflebt, ist ganz natürlich.
Besonders der Verlust eines Kindes stellt eine kaum zu ertragende Wunde dar. Der Schmerz begleitet Betroffene oft ein Leben lang, denn er stellt das tief verwurzelte Verständnis von der natürlichen Ordnung infrage: Eltern sollten vor ihren Kindern sterben, nicht umgekehrt. Doch ist das tatsächlich so natürlich? Reisen wir dazu doch einfach mal in die Vergangenheit. Die Kindersterblichkeit war in früheren Jahrhunderten geradezu erschreckend hoch. Im Jahr 1870 starben in Deutschland fast 250 von 1000 Kindern – ein Viertel aller Neugeborenen. Jede Familie mit 4 Kindern hätte dann einen Trauerfall – und da Kinderreichtum damals die Regel war, war auch der Tod eines Kindes allgegenwärtig. Deshalb gingen Menschen womöglich anders mit Verlust um. Bedeutet das, dass sie weniger trauerten? Oder fanden sie einfach mehr Beistand, mehr Verständnis, mehr Gemeinsamkeit. Nicht umsonst heißt es auch: geteiltes Leid ist halbes Leid. Heute jedoch muss man sich erklären, wenn man um ein Kind trauert, weil es für viele nicht nachvollziehbar ist. Oder auch, weil viele es nicht nachvollziehen wollen. Alleine der Gedanke daran, dass dem eigenen Kind etwas zustößt ist so schmerzlich, dass man sie schnell fortschickt – und damit auch gleichzeitig dem Trauernden Menschen Verständnis und Beistand verwehrt und erwartet, dass er „weitermacht“.
Heute wissen wir, dass es nicht darum geht, den Schmerz vollständig zu überwinden, sondern ihn in das eigene Leben zu integrieren. Trauer verändert sich mit der Zeit, doch sie verschwindet nie ganz – sie verändert den Menschen, schlägt Narben, schafft Tiefe. Das Leben mit einem Schmerz kann möglicherweise das verändern, was dir im Leben wichtig ist – und dann passt du nicht mehr ins „System“. Eine unschätzbare Hilfe ist der Austausch mit anderen, die Ähnliches erlebt haben – sei es in Form von Gesprächen, Selbsthilfegruppen oder gemeinsamen Gedenkfeiern.
Trauer ist nicht nur Schmerz, sondern auch Liebe, die keinen Ort mehr findet. Vielleicht ist das der Schlüssel: Einen Weg zu finden, dieser Liebe weiterhin Raum zu geben – durch Erinnerungen, durch das Erzählen von Geschichten oder durch das Engagement für andere. Denn Trauer mag zeitlos sein, aber auch Hoffnung ist es.
Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.