Die 25-Orte-Formel
Als meine Oma aus einem Dorf in der Nähe der niederländischen Grenze nach Deutschland zog, fuhr man Eisenbahn. Einige wenige hatten ein Auto. Das machte die Welt klein. Als dann mein Vater geboren wurde, zeigte es sich, dass er als Kind anfällig für Bronchialerkrankungen war. „Der Junge hat durchgehustet. Die ganze Nacht. Das war erbärmlich“, erinnerte meine Oma sich. „Ich bin von Doktor zu Doktor gelaufen und habe gesagt, der erstickt mir nachts. Aber keiner konnte ihm helfen. Der letzte sagte zu mir: Der Junge muss ans Meer. Der braucht Meerluft. Und da hab ich gedacht, was sagt der denn? Wie soll denn jemand wie ich jemals das Meer sehen?“
Sie war eine einfache Frau vom Land. Ein Besuch am Meer? Weit außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Als mein Opa dann ein Auto bekam, bedeutete das für sie Freiheit. Und das Meer. Der erste Besuch war in Oostkapelle. Das ist ein kleiner Badeort an der niederländischen Küste, dem sie ihr Leben lang treu bleiben sollte. Wir fuhren jedes Jahr dorthin. Mit Kind und Kegel. Bereits als Baby bin ich mitgefahren. Jeden Sommer ging es für zwei Wochen in den gleichen Ferienpark. Keine Ausnahme, keine Variation. Forscher zeigen, dass wir Menschen offensichtlich alle so angelegt sind. Wir bleiben beim Bewährten.
Inhalt:
- Die Welt steht uns offen. Eigentlich.
- Die Entdeckung der 25-Orte-Formel
- Was das mit dem Sozialverhalten zu tun hat.
- Die Verbindung zur Dunbar-Zahl.
- Dinge ändern sich.
- Das war auch schon früher so.
- Drum prüfe, wer sich bindet.
- Mehr als 25 Lieblingsplätze haben wir nicht!
Die Welt steht uns offen. Eigentlich.
„Das Reisen macht dich sprachlos und verwandelt dich dann in einen Geschichtenerzähler“, sagt Inb Battūta, der um 1300 von seinen Abenteuern auf einer 120.000 km langen Reise quer durch die islamische Welt erzählte. Für damalige Transportverhältnisse eine unglaublich lange Strecke. Da haben wir es heute leichter. Ryanair bietet Flüge von Köln-Bonn nach London an. Ab 29 Euro kann man dorthin fliegen. Der Nachtexpress ermöglicht es, dass du in Köln einsteigst und am nächsten Morgen in Wien deine Augen aufschlägst. Noch niemals zuvor war Reisen so leicht und so erschwinglich. Du willst die weite Welt sehen? Das ist heute für jeden möglich. Dabei zeigen wir uns aber standorttreu. Selbst die abenteuerlustigsten von uns kehren immer wieder zu denselben Lieblingsplätzen zurück. Und das sind maximal 25 Stück. Was steckt hinter diesem Verhalten?
Die Entdeckung der 25-Orte-Formel
Wo zieht es die Menschen hin? Das interessiert nicht nur Politiker, es ist auch das Ergebnis zahlreicher Forschungen, die das Mobilitätsverhalten von rund 40.000 Menschen über mehrere Jahre hinweg analysierten. Die überraschende Erkenntnis: Trotz unserer Neigung, ständig neue Orte zu erkunden, kehren wir immer wieder zu einer festen Anzahl von etwa 25 vertrauten Plätzen zurück. Diese Zahl bleibt über die Zeit hinweg konstant und scheint ein grundlegendes Muster unseres Verhaltens zu sein.
Was das mit dem Sozialverhalten zu tun hat.
Interessanterweise zeigt die Forschung, dass die Anzahl der vertrauten Orte eng mit der Anzahl unserer sozialen Interaktionen verknüpft ist. Menschen, die mehr soziale Kontakte pflegen, neigen dazu, auch mehr feste Orte zu haben, an die sie regelmäßig zurückkehren. Vielleicht schließen sie leichter Freundschaften – mit Menschen und mit ihrer Umgebung. Aber auch sie haben eine Höchstzahl von 25 Orten, die sie regelmäßig besuchen. Das scheint so etwas zu sein wie die magische Obergrenze. Menschen, die eher zurückgezogen leben, haben eine geringere Anzahl von Wohlfühlorten.
Die Verbindung zur Dunbar-Zahl.
Die 25-Orte-Formel erinnert stark an die Dunbar-Zahl, die eine Grenze für die Anzahl an Beziehungen beschreibt, die ein Mensch eingehen kann. Es sind übrigens etwa 150. Du kannst noch so viele Facebook-Freunde oder Instagram-Follower haben: Echte Beziehungen schaffst du maximal 150 Stück. Wenn du mehr hast, verlierst du die alten. Es scheint also eine Grenze für uns zu geben. Und die betrifft die Art, wie wir die Welt erkunden und die Anzahl unserer Freundschaften.
Dinge ändern sich.
Die Forschung zeigt aber auch: Obwohl die Anzahl der vertrauten Orte konstant bleibt, entwickeln sich unsere Mobilitätsmuster über die Zeit hinweg. Neue Orte werden erkundet und in die Liste der vertrauten Plätze aufgenommen, während andere Orte an Bedeutung verlieren. Eben, weil Dinge sich ändern. Haben wir in jungen Jahren auf Palma die Nächte durchgefeiert, spielen wir vielleicht später mit unseren Kindern lieber an der Ostseeküste im Sand. Und Palma trudelt allmählich an den Rand unseres Bewusstseins und stürzt ab, über die Grenze der magischen 25 Orte, in den Nebel der Vergessenheit. Dass wir uns also tatsächlich nur maximal 25 vertraute Orte leisten, weist auf tieferliegende psychologische Mechanismen hin.
Das war auch schon früher so.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass auch unsere Vorfahren maximal 25 Plätze wiederholt aufsuchten. Dazu gehören im Mittelalter Marktplätze, die Dorfkneipe, bestimmte Plätze in der Natur. Auch heilige Orte oder Grabstätten werden immer wieder aufgesucht. Die Bindung an vertraute Orte ist also ein konstantes Element menschlichen Verhaltens. Die Welt wird für uns größer und weiter, aber Bindungen entwickeln wir maximal für 25 Orte. Der eine mag seine 25 Wohlfühlorte auf der ganzen Welt finden, der andere in seinem Stadtteil. Das ist ganz egal – entscheiden ist, dass die 25-Orte-Formel tief in uns verwurzelt zu sein scheint.
Drum prüfe, wer sich bindet.
Seitdem ich das weiß, durchbreche ich das Muster. Wer weiß, was ich verpasse, wenn ich immer nur das Gleiche mache? Nun setze ich weniger auf Altbewährtes, sondern erkunde Neuland. Ein Vorbild dafür? Mein Vater. Ihm war die ewige Reise nach immer demselben Ort viel zu langweilig. Und deshalb zog er los, bereit, die Welt zu erkunden. Meine Mutter konnte zuhause bleiben, aber sie entschied sich schweren Herzens, ihren geliebten Garten zu verlassen und fuhr mit. Leider war mein Vater kein Freund von bequemem All-inclusive-Urlaub. Ich erinnere mich an einen Anruf. „Du glaubst es nicht!“, ihre Stimme klang atemlos, schrill. An der Grenze zur Panik.
„Die tragen hier ihre Leichen durchs Dorf. Mumien, ohne Nasen, ohne Augen. Dann stecken die denen Zigaretten zwischen die Zähne“, es klang überfordert, obwohl sie mir ungefragt stets versicherte, das alles sei „gar nicht schlimm, überhaupt nicht schlimm!“. Sie war in Sulawesi. Auf dieser Insel feiert das Volk seine Toten, indem sie sie einmal jährlich ausgraben, anziehen und durchs Dorf tragen. Mittendrin mein Vater. Ist klar. Er saß auch schon in einer Propellermaschine über Kenia und musste die Tür des Flugzeugs festhalten, weil die sich sonst öffnete. Der Flug war „eine einmalige Gelegenheit“. Ich übersetze: Es war ein Schnapper. Ein Sonderangebot. Natürlich griff er dann zu, und zwar mit beiden Händen. Er liebte den Nervenkitzel und das Entdecken neuer Orte, meine Mutter zählte die Tage bis zur Heimreise. Aber auch er nennt nur eine kleine Menge an Orten, die er erneut besuchen würde. Eine meiner Lieblingsstädte, London, gefällt ihm zum Beispiel gar nicht. „Ich war einmal da, das reicht“, meint er schulterzuckend.
Mehr als 25 Lieblingsplätze haben wir nicht!
Seitdem mache ich vieles anders. Anstatt zu unserem Lieblingsgriechen zu gehen, probiere ich nun gezielt neue Restaurants aus. Dabei haben wir einige Überraschungen erlebt. Das reichte vom großen italienischen Buffet (Dass ich nicht lache! Exakt 4 Hauptgerichte, darunter weder Lasagne noch Pizza – und wir haben uns alle den Magen daran verdorben!) über ein wirklich überraschend reizendes Lokal mit einem wunderschönen Garten und hervorragenden Grillgerichten, bis hin zu einem winzigen Restaurant, das zwar ausgezeichnete Küche hatte, aber so kleine Portionen, dass wir nicht satt wurden. Und ich gehe nun in andere Supermärkte. Da finde ich mich zwar erst nicht zurecht, dafür finde ich neue Produkte. Ist auch mal inspirierend. Meine Top 25 wird also zurzeit kräftig durchgemischt. Denn wenn ich nur 25 Plätze auf meiner Hitliste habe, dann aber bitte auch 25 Knaller!
Bloß nicht zu früh festlegen. Wer weiß, sonst verpasst man vielleicht den schönsten Ort der Welt? Und deshalb spare ich mir dieses Jahr auch das Wochenende in Oostkapelle. Früher, mit meiner Oma, da war es schön. Heute aber schreit gefühlt jedes Sandkorn „Hallo, da bist du ja wieder!“, wenn ich den Strand betrete. Und eine Schön-Wetter-Garantie gibt es auch nicht. Ich habe diesen Ort also behutsam von meiner Liste entfernt. Er ist jetzt auf Rang 26, knapp über der Kante. Dort, wo die vergessenen Orte landen. Und nun habe ich Raum für Neues. Ich war noch nie in Oslo, soll schön sein. Das probiere ich dieses Jahr mal. Und wenn es mir dort nicht gefällt? Dann werde ich Oostkapelle aus der Versenkung emporsteigen lassen und dem Ort einen festen Platz unter meinen Top 25 geben. Wir können den Wind nicht ändern, aber wir entscheiden, wohin wir unsere Segel setzen. Also schaut doch mal in eurem Leben nach, ob es vielleicht etwas Auffrischung gebrauchen könnte! Viel Spaß dabei!
Quellen: Nature. (2020). The scaling laws of human travel. Retrieved from Nature; Journal of Historical Geography. (2021). Historical Patterns of Human Mobility. Retrieved from Elsevier, Nat hum Behav. 2018 Jul;2(7):485-491. doi: 10.1038/s41562-018-0364-x. Epub 2018 Jun 18.