
Zwillinge: Zwischen Fluch, Rivalität und unzertrennlicher Hassliebe
Zwillinge – das ist doch was Wunderschönes! Zwei Kinder, ein Herz und eine Seele, beste Freunde fürs Leben, telepathische Superkräfte und niemals alleine. Klingt nach einer Hollywood-Schnulze? Richtig. Die Realität sieht oft ganz anders aus.
Zwillinge können ein Geschenk sein – oder eine Lebensaufgabe. Manche sind sich so nah, dass sie keine eigenen Freunde brauchen. Andere können sich nicht ausstehen und trotzdem nicht voneinander loskommen. Und dann gibt es Orte wie Madagaskar, wo Zwillinge immer noch als Fluch gelten. Ein extremer Widerspruch – doch eines zeigt sich überall: Zwillinge sind nie nur „normale“ Geschwister.
Der Fluch der Zwillinge – Warum Zwillinge in Madagaskar diskriminiert werden
In Madagaskar, genauer gesagt beim Volksstamm der Antambahoaka, gelten Zwillinge als Unglücksbringer. Dort kann es passieren, dass Frauen, die Zwillinge zur Welt bringen, vor die Wahl gestellt werden: Lass ein Kind zurück – oder verliere deine Stellung in der Gemeinschaft.
Klingt wie eine grausame Tradition aus längst vergangenen Zeiten? Ist es aber nicht. Obwohl Madagaskar längst Gesetze zum Schutz von Zwillingen hat, sind es oft die kulturellen Regeln, die bestimmen, was passiert. Und die sagen: Zwillinge bringen Unglück. Selbst in Waisenhäusern, wo viele dieser Kinder abgegeben werden, trägt kaum jemand offen den Nachnamen seines Zwillingsgeschwisters.
Woher kommt das Ganze? Angeblich aus einer alten Geschichte: Eine Stammeskönigin, die auf der Flucht vor den Franzosen im Jahr 1947 einen ihrer Zwillinge vergaß. Als sie Soldaten losschickte, um ihn zu holen, kehrte keiner zurück. Seitdem glaubt man, dass Zwillinge Unglück bringen. Und wenn eine Geschichte sich erst mal als „Wahrheit“ festgesetzt hat, dann helfen oft auch keine wissenschaftlichen Argumente mehr.
Wenn Zwillinge kein Fluch sind, aber sich trotzdem so fühlen
Doch auch in westlichen Ländern, wo Zwillinge nicht als Unglücksboten, sondern eher als niedliche Fotomotive gelten, ist das Leben als Zwilling nicht immer einfach. Das fängt schon mit der Identitätskrise an.
Meine Mutter hat eine Zwillingsschwester. Ein eigenes Leben? Fehlanzeige. Sie war nicht Gitta. Sie war immer nur „einer der Müller-Zwillinge“. Beim Friseur war es dann so weit: Meine Oma sagte, sie solle die Haare bis zu den Zopfspangen abschneiden. Und weil meine Mutter ihre Individualität auf Biegen und Brechen durchsetzen wollte, zog sie die Spangen so hoch, dass sie mit einer Kurzhaarfrisur aus dem Laden kam. Die Schwester behielt ihre langen Zöpfe. Zum ersten Mal sahen sie nicht gleich aus – ein kleiner Sieg im großen Kampf um Eigenständigkeit.
Warum Zwillinge sich um alles konkurrieren – selbst um die eigene Identität
Zwillinge sind von Geburt an in einem unfreiwilligen Wettbewerb: Wer wiegt mehr bei der Geburt? Wer läuft zuerst? Wer spricht als erstes? Und wenn es blöd läuft, hört dieser Vergleich nie auf. Eltern tun das oft gar nicht absichtlich. Aber weil Zwillinge so identisch scheinen, vergleichen sie sie automatisch. „Der eine ist ruhiger, der andere wilder.“, „Er ist der Mathe-Typ, sie kann besser malen.“ Was dabei passiert? Jeder bekommt eine Rolle zugewiesen – und kommt da nur schwer wieder raus. Wenn der eine der „Kluge“ ist, bleibt für den anderen nur noch die Rolle des „Sportlichen“. Und wehe, einer weicht aus diesem Schema aus – dann gibt es Stress.
Warum manche Zwillinge sich abgrundtief hassen – und trotzdem nicht voneinander loskommen
Und dann gibt es noch diese ganz spezielle Hassliebe zwischen Zwillingen. Das Phänomen, dass sie sich spinnefeind sind, aber trotzdem immer wieder zueinanderfinden. Warum ist das so?
- Co-Abhängigkeit: Zwillinge sind von Geburt an aufeinander geprägt. Selbst wenn sie sich nicht ausstehen können, kennen sie kein Leben ohne den anderen.
- Konkurrenzkampf um Liebe und Anerkennung: Während Einzelkinder sich vielleicht gegen ein Geschwisterkind behaupten müssen, kämpfen Zwillinge oft um eine einzige Identität.
- Vergleichswahn: Es gibt kaum eine Phase im Leben, in der der eine Zwilling nicht mit dem anderen verglichen wird – von den Schulnoten bis zum späteren Beruf.
Und was passiert? Man liebt sich. Man hasst sich. Man kann sich nicht loslassen.
Es gibt Zwillinge, die ihr Leben lang in Konkurrenz stehen – und trotzdem zusammen in den Urlaub fahren. Oder die sich jahrelang nicht sprechen – aber genau wissen, dass sie für den anderen da wären, wenn es hart auf hart kommt. Denn so sehr man sich abgrenzen will: Ein Zwilling bleibt ein Zwilling.
Können Zwillinge einander überhaupt loslassen?
Manche schaffen es. Sie ziehen in verschiedene Städte, heiraten, bauen sich ein eigenes Leben auf – aber es bleibt eine unsichtbare Verbindung. Andere hängen ein Leben lang aneinander, als wären sie siamesisch verbunden. Und wieder andere kämpfen sich durch die wohl komplizierteste Geschwisterbeziehung der Welt: Immer in Konkurrenz, immer aufeinander angewiesen.
Aber was können Eltern tun, um ihren Zwillingen zu helfen, eine gesunde Beziehung zu führen?
1. Keine ständigen Vergleiche
Jedes Kind ist individuell – auch Zwillinge. Statt „Warum kannst du nicht so ordentlich sein wie dein Bruder?“ lieber: „Ich mag es, wenn du dir Mühe gibst.“
2. Echte Individualität fördern
Eigene Hobbys, eigene Freunde, eigene Klamotten. Ja, sie sind Zwillinge – aber sie sind auch zwei eigenständige Menschen.
3. Eigene Wege zulassen
Auch wenn Zwillinge oft das Bedürfnis haben, alles gemeinsam zu machen: Manchmal ist es für beide gesünder, eigene Wege zu gehen.
Ein Leben zwischen Symbiose und Kampf
Zwillinge sind keine gewöhnlichen Geschwister. Sie sind ein unfreiwilliges Team, das sich sein Leben lang zwischen Nähe und Abgrenzung bewegt. Sie lieben sich. Sie hassen sich. Sie können nicht ohne einander – aber manchmal auch nur schwer miteinander.
Und ob sie nun als Fluch oder als Geschenk betrachtet werden – eines steht fest: Zwillinge sind niemals nur „eins von zwei“. Sie sind zwei. Und manchmal dauert es ein Leben lang, bis sie das wirklich für sich begreifen.
Der Kommentar von Nina, unserem Lebenhilfe-Coach:
Zwillinge wachsen in einer Beziehung auf, die einzigartig ist. Sie kennen kein Leben ohne den anderen, und oft genug wird ihnen von Geburt an vermittelt, dass sie eine Einheit sind. „Die Zwillinge“, „Einer wie der andere“, „Unzertrennlich“ – Worte, die nach Harmonie klingen, aber oft eine tiefe Herausforderung mit sich bringen: Wer bin ich eigentlich – und wer bin ich ohne meinen Zwilling? Die größte Aufgabe für Eltern von Zwillingen besteht nicht darin, sie zu fördern oder möglichst gerecht zu behandeln. Die größte Aufgabe ist es, ihnen zu helfen, sich als Individuen zu begreifen. Denn wenn Zwillinge immer nur als Paar wahrgenommen werden, fehlt ihnen das, was jedes Kind dringend braucht: Die Erfahrung, dass es einzigartig ist. Ein Kind muss spüren, dass es nicht geliebt wird, weil es „eines von zwei“ ist, sondern weil es genau so ist, wie es ist.
Oft sind es nicht die Zwillinge selbst, die die Rivalität erzeugen – es ist das Umfeld. Eltern, Lehrer, Freunde, Verwandte – alle wollen „die Unterschiede“ zwischen den Zwillingen hervorheben oder eine Rollenverteilung festlegen: Der Klügere und der Lustige. Der Starke und der Sensible. Die Wilde und die Ruhige. Doch Kinder sollten nicht in solche Schubladen gedrängt werden, sondern die Freiheit haben, ihre eigene Identität zu entdecken. Und ja, diese Identitätsfindung kann in Konkurrenz und Streit ausarten. Denn wenn man nie gelernt hat, wo man aufhört und der andere anfängt, muss man es irgendwann herausfinden. Manchmal geschieht das friedlich, manchmal in Form von Konflikten, die sich bis ins Erwachsenenalter ziehen.
Aber Eltern können viel tun, um diese Entwicklung zu begleiten, ohne sie zu steuern. Sie können Zwillinge ermutigen, eigene Interessen zu entwickeln, eigene Entscheidungen zu treffen und nicht immer als „Team“ zu funktionieren. Sie können es aushalten, wenn ein Zwilling sich für etwas entscheidet, was der andere nicht tut. Sie können darauf verzichten, den einen mit dem anderen zu vergleichen – auch nicht beiläufig oder aus „Motivation“. Denn Zwillinge brauchen dasselbe wie alle anderen Kinder auch: Die Erfahrung, dass sie gesehen werden. Nicht als Doppelpack, nicht als Spiegelbild – sondern als sie selbst.