Kreativ

Wie Mathe spannend wird

Mein Verhältnis zur Mathematik war gut. Ich habe sogar mein Abitur darin gemacht. Als meine Tochter in die Schule kam, war sie ganz anders. „Ich hasse Mathe“, verkündete sie voller Abscheu beim Mittagessen. Das wollte ich so nicht hinnehmen und suchte nach Möglichkeiten, sie für Mathe zu begeistern.

Warum Mathe wichtig ist

    Keine Ahnung, warum. Vielleicht, weil Mathe wichtig ist. Fürs ganze Leben. Es hilft dir nicht nur später dabei, deine Finanzen richtig zu verwalten, weil du später mathematische Konzepte wie Zinseszins, Prozentsätze und Gleichungen verstehst. Mathe fördert analytisches Denken und das hilft dir im gesamten Leben. Egal, ob es sich um alltägliche Herausforderungen handelt oder komplexe Aufgaben: Während andere im Jammertal ihrer Emotionen bleiben, tauche ich daraus wieder auf und finde mit meinem Verstand meistens eine Lösung. Deshalb wollte ich, dass meine Tochter einen Zugang zur Mathematik entwickelt.

    Ich stieß auf die Ideen von Professor Jo Boaler, von der Elite-Uni Stanford. Boaler sagt, dass viele Kinder von klein auf die Lust an Mathe verlieren, weil es einfach falsch unterrichtet wird. Man muss Mathe spielerisch und neugierig angehen. In diesem Artikel teile ich meine Erfahrungen mit ihrer Methode und wie meine Tochter wieder Spaß an Mathe bekam.

    Mathematik sollte flexibel und kreativ sein

      „Die meisten Menschen haben nur das erlebt, was ich als enge Mathematik bezeichne – eine Reihe von Regeln, die sie befolgen müssen“, sagt Boaler. „Mathematik sollte flexibel, konzeptionell sein, ein Ort, an dem wir mit Ideen spielen und Verbindungen herstellen. Wenn wir es öffnen und mehr Kreativität und vielfältiges Denken einladen, können wir das Erlebnis komplett verändern.“

      Jo Boaler ist Mitbegründerin von Youcubed, einem Stanford-Forschungszentrum, das Ideen für das Mathematiklernen bereitstellt. Ihre Vision ist es, Mathematik für alle zugänglich und spannend zu machen. Na, das klang doch genau nach dem, was ich suchte.

      Was ist ‘Math-ish’ Denken?

        In ihrem Buch „Math-ish: Finding Creativity, Diversity, and Meaning in Mathematics“ plädiert Boaler für einen breiten, inklusiven Ansatz zur Mathematikbildung. „Es ist eine Art, über Zahlen im Alltag nachzudenken“, so Boaler. „Wenn jemand fragt, wie alt du bist, wie warm es draußen ist oder wie lange es dauert, bis du zum Flughafen fährst – antwortet man mit ungefähren Zahlen, und das ist sehr anders als die Art und Weise, wie wir Zahlen in der Schule verwenden und lernen“. Ihr kommt es also nicht auf das Ergebnis an, sondern auf das Zahlenverständnis. Wer das hat, lernt später den Rest von alleine. Wenn ich einen Vergleich dafür suchen müsste, dann würde ich das Kochen nehmen. Am Anfang lernst du die einzelnen Zutaten kennen und schmecken, und irgendwann kannst du sie zu immer komplexeren Gerichten zusammenfügen, um ein gutes Ergebnis zu erreichen. Und wenn du es exakt immer wieder so haben willst, dann wirst du mit exakten Gramm-Angaben arbeiten, aber du verstehst, warum du es tust.

        Ein Beispiel aus ihrem Buch ist Folgendes: Es gab eine Multiple-Choice-Frage aus einem landesweiten Test, bei dem Schüler die Summe von zwei Brüchen schätzen sollten: 12/13 + 7/8. Die richtige Antwort wäre 2. Logisch: 12/13 ist nahezu 1 und 7/8 ist ebenfalls fast 1. Wisst ihr, was die meisten Schüler antworteten? 19 oder 21. Und das heißt, dass die meisten Kinder heute gar nicht begreifen, was hinter den mathematischen Größen steckt. Sie lernen, das Verhältnis zwischen Zähler und Nenner zu betrachten und mit welchen Regeln sie den gemeinsamen Nenner erstellen, um alles zu addieren oder zu subtrahieren der Zähler. Aber den Bruch als Ganzes verstehen sie nicht, und das könnte die wertvollste mathematische Fähigkeit sein, die ein Mensch entwickeln kann.

        Die Bedeutung der Schätzung

          „Ich sage nicht, dass Präzision nicht wichtig ist. Was ich vorschlage, ist, dass wir die Schüler bitten, zuerst zu schätzen, bevor sie berechnen, damit sie, wenn sie eine präzise Antwort finden, ein echtes Gefühl dafür haben, ob sie Sinn ergibt. Das hilft den Schülern auch, zu lernen, wie sie zwischen dem großen Ganzen und dem fokussierten Denken wechseln können, was zwei verschiedene, aber gleichermaßen wichtige Denkweisen sind.“ Damit sie die Schüler dabei neu abholt, hat sie einen eigenen Begriff entwickelt: das Math-ishing. „Wenn wir Schüler bitten zu schätzen, stöhnen sie oft und denken, es sei nur eine weitere mathematische Methode. Aber wenn wir sie bitten, eine Zahl ‘zu math-ishen’, sind sie eher bereit, ihre Gedanken zu äußern.“

          Unser Home-Training

            Ich fing mit Laura an, das zu trainieren und ließ sie Zahlen schätzen, ich erfand dafür also keinen eigenen Begriff. Das muss jeder so handhaben, wie er meint. Gramm-Angaben beim Kochen, Preise beim Einkaufen, die Preise fürs Schwimmbad-Ticket runden – sie musste alles nur grob überschlagen. Und so entwickelte sie allmählich ein echtes Gefühl für Zahlen. Das ist genau das, was Boaler erreichen will. „Sich dem Ganzen vage zu nähern, kann die scharfen Kanten der Mathematik abschwächen, sodass es den Kindern leichter fällt, einzusteigen und mitzumachen. Es kann die Schüler vor den Gefahren des Perfektionismus schützen, von dem wir wissen, dass er eine schädliche Denkweise sein kann. Ich denke, wir alle brauchen ein bisschen mehr ‘ish’ in unserem Leben.“ Wenn du in Fächer wie Deutsch einsteigst, erwartet ja auch keiner von dir am Anfang, dass du eine perfekte Ausdrucksweise besitzt. Du erweiterst dein Spektrum allmählich und verbesserst dich dadurch immer mehr. So könnte es mit Mathe auch sein.

            Die Bedeutung von Zuckerwürfeln

              Boaler argumentiert auch, dass Mathematik mehr visuell vermittelt werden sollte. „Alle visuellen Darstellungen sind meist sterile Bilder in einem Lehrbuch, die Winkel oder in Scheiben geschnittene Kreise zeigen.“ So lernen wir aber nicht. Wir wollen den Sinn hinter etwas verstehen. Ein Beispiel ist ein Zirkel. Wenn er einfach nur daliegt, wissen wir nichts über ihn. Nehmen wir ihn aber in die Hand und zeichnen damit Kreise, begreifen wir, wie er funktioniert. Um das Verständnis für Algebra zu entwickeln, nutzt sie Zuckerwürfel und lässt die Schüler daraus einen 4×4 cm großen Würfel bauen. „Vor einigen Jahren interviewten wir Schüler ein Jahr nach dieser Aktivität und fragten, was ihnen geblieben ist. Ein Schüler sagte: ‘Ich bin jetzt im Geometrieunterricht und erinnere mich immer noch an diesen Zuckerwürfel, wie er aussah und sich anfühlte.’“

              Ich habe also Zuckerwürfel gekauft. Später haben wir aus vielen kleinen Papp-Würfeln einen großen Würfel gebaut, ihn außen blau angemalt und gesehen, wie viele Würfel eine blaue Oberseite hatten. So hat Laura das Konzept von Flächenberechnungen verstanden. Und Quadratwurzeln? „Wenn wir über Quadratwurzeln lernen, nehmen wir Quadrate und betrachten ihre Diagonalen.“, so Boaler. Wer Mathe so begreifen kann, versteht es auch. Leider passiert das im Unterricht nur in der Grundschule. Später nicht mehr.

              Mathematik ist für alle da

                Boaler plädiert dafür, Mathematik zu öffnen. In ihrem Buch gibt sie ein Beispiel, wie unterschiedlich Kinder im Kopf 38 x 5 berechnen. Alle kommen zur richtigen Antwort, aber alle rechneten auf anderen Wegen. Manche waren umständlich, aber dennoch erfolgreich. Im Unterricht zählt aber nur eine standardisierte Methode, mit der es am schnellsten gelingt. „Diese enge, starre Version der Mathematik, bei der es nur einen richtigen Ansatz gibt, ist das, was die meisten Schüler erleben, und es ist ein großer Teil dessen, warum Menschen solche Mathe-Traumata haben. Es hindert sie daran, das volle Spektrum und die Kraft der Mathematik zu erkennen“, so Boaler. „Wenn du die Schüler nur blind Mathematikregeln auswendig lernen lässt, entwickeln sie kein Zahlenverständnis. Sie lernen nicht, wie sie Zahlen flexibel in verschiedenen Situationen einsetzen können. Es lässt auch Schüler, die anders denken, glauben, dass mit ihnen etwas nicht stimmt.“ Und das muss nicht so sein.

                Die neue Art, Hausaufgaben zu machen

                  Also setzte ich mich neben Laura und ließ sie über ihre Matheaufgaben spekulieren. Ich ließ sie schätzen, wir bastelten Modelle und gingen das Ganze Stück für Stück durch, bis sie es verstanden hatte. 3 x 5 rechnete sie, indem sie 5+5+5 rechnete. Ich ließ sie. Als es zu komplex wurde, hatte sie den anderen Rechenweg verstanden und wusste, was die Menge bedeutete. Ich war überrascht, dass es genau so funktionierte. Für mich war es aber wirklich viel Aufwand. Das will ich gar nicht abstreiten. Eigentlich fände ich es gut, wenn die Schulen im Mathe-Unterricht dies genauso umsetzen könnten. Ich sprach es beim Elternsprechtag an, aber es fehlte an Zeit, hörte ich. Mathelehrer sind anscheinend eine aussterbende Spezies. Kaum jemand studiert es, und noch weniger unterrichten es. Damit wächst aber eine Generation ohne Zahlenverständnis heran und mit ungenügender Fähigkeit, logisch zu denken. In unserer technologisch geprägten Welt sind mathematische Kenntnisse unverzichtbar. Sei es beim Programmieren, bei der Nutzung von Software oder beim Verstehen von technischen Anleitungen – Mathe bildet die Grundlage für vieles. Wer lernt, Zahlen zu verstehen, kann auch seine Zeit besser einplanen. Laura schätzt mittlerweile selbständig ein, wie viel Zeit sie für die Hausaufgaben braucht und wann sie sich verabreden kann. Oder ob die Zeit dafür nicht ausreicht. Mathematisch ausgedrückt macht sie Folgendes: Sie schätzt ihre Ressourcen ein und entwickelt Strategien, um optimal mit ihnen umzugehen. Finde ich gut.

                  Wenn euer Kind kein Mathe mag, braucht ihr das nicht akzeptieren. Aber ihr müsst selbst aktiv werden. Kauft ein paar Zuckerwürfel, lasst eure Kinder schätzen und ihr werdet entdecken, dass es auch eine kreative Seite der Zahlen gibt! Die Zukunft eurer Kinder wird es euch danken.

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