Mindful Moments

Warum ich keine Bucket List habe

Hier schreibt die Ute. Über 50, mit mehr Lebenserfahrung als Faltencremes im Badezimmerschrank. Liebt Bücher, guten Rotwein und Gespräche, die auch mal wehtun dürfen. Sie hält nichts von Schönheitswahn und Fitness-Apps, aber viel von ehrlichen Worten und warmem Apfelkuchen. Mit Sahne.

“Was steht denn so auf deiner Bucket List?” fragte mich neulich eine Bekannte beim Kaffee. Sie strahlte dabei, als hätte sie mich nach meinen größten Lebensträumen gefragt. “Ich habe keine”, sagte ich. Sie schaute mich an, als hätte ich gesagt, dass ich keine Lunge habe. “Wie, keine Bucket List? Aber es gibt doch so viele Dinge, die man noch erleben möchte! Den Mount Everest besteigen, mit Delfinen schwimmen, die Nordlichter sehen…” Ja, gibt es. Aber ich habe trotzdem keine Liste davon.

Der Bucket-List-Wahn

Überall begegnen mir diese Listen. “100 Dinge, die man vor dem Tod getan haben muss”, “50 Orte, die Sie gesehen haben müssen”, “Die ultimative Bucket List für Frauen über 50”. Als wäre das Leben ein Abhak-Programm. Als müsste man eine bestimmte Anzahl spektakulärer Erlebnisse sammeln, um am Ende sagen zu können: “Ja, ich habe richtig gelebt.” Aber wer entscheidet eigentlich, was auf so eine Liste gehört? Und warum sollen alle Menschen dieselben Träume haben?

Meine Anti-Bucket-List-Haltung

Ich bin nicht gegen Träume. Ich bin nicht gegen Pläne. Ich bin nicht gegen Abenteuer. Aber ich bin gegen den Druck, mein Leben nach einer Checkliste zu leben, die andere für mich erstellt haben. Ich bin gegen die Idee, dass man nur dann richtig gelebt hat, wenn man eine bestimmte Anzahl außergewöhnlicher Dinge erlebt hat. Ich bin gegen das schlechte Gewissen, das entsteht, wenn man seine eigene Liste nicht abarbeitet.

Was mich an Bucket Lists stört

Der Leistungsdruck: Plötzlich wird das Leben zu einem Wettkampf. Wer hat mehr abgehakt? Wer hat spektakulärere Erlebnisse gesammelt?

Die Standardisierung: Warum sollen alle Menschen denselben Berg besteigen wollen? Vielleicht will ich lieber in meinem Garten sitzen und Vögel beobachten.

Die Zukunftsfixierung: Bucket Lists leben in der Zukunft. “Wenn ich das alles gemacht habe, dann…” Aber was ist mit jetzt?

Die Unerfüllbarkeit: Die meisten Bucket Lists sind unrealistisch. Ich werde nie mit 50+ den Mount Everest besteigen. Soll ich mich deswegen schlecht fühlen?

Meine Erfahrung mit Listen

Früher hatte ich auch Listen. Listen mit Büchern, die ich lesen wollte. Mit Filmen, die ich sehen wollte. Mit Orten, die ich besuchen wollte. Das Ergebnis: Ich fühlte mich ständig unvollständig. Es gab immer mehr zu tun, mehr zu erleben, mehr zu sein. Ich habe Bücher gelesen, die auf Listen standen, obwohl sie mich langweilten. Ich bin an Orte gereist, die “man gesehen haben muss”, obwohl sie mich kalt ließen. Ich lebte fremde Träume statt meiner eigenen. Irgendwann, ich war Ende 40, stand ich in Venedig auf der Rialto-Brücke. Ein Ort, der auf jeder Italien-Bucket-List steht. Umgeben von tausend anderen Touristen, die alle dasselbe Foto machten. Und ich dachte: “Was mache ich hier eigentlich? Das ist nicht mein Traum. Das ist ein Traum aus dem Reiseführer.”

Da habe ich beschlossen: Keine Listen mehr. Keine Abhak-Mentalität. Keine fremden Träume.

Was ich stattdessen mache

Ich lebe spontan. Wenn ich Lust auf etwas habe, mache ich es. Wenn sich eine Gelegenheit ergibt, ergreife ich sie. Aber nur, wenn sie wirklich zu mir passt. Ich höre auf mein Bauchgefühl statt auf Ratgeber-Listen. Ich sammle Momente statt Abhak-Punkte. Ich lasse mich überraschen statt alles zu planen. Die schönsten Erlebnisse meines Lebens standen auf keiner Liste: Das Gespräch mit der alten Dame im Zug, die mir ihre Lebensgeschichte erzählte. Der Sonnenuntergang, den ich zufällig vom Küchenfenster aus sah. Der Abend, an dem ich allein im Garten saß und plötzlich verstand, dass ich genau da richtig bin. Diese Momente kann man nicht planen. Sie passieren einfach, wenn man aufmerksam ist.

Die Tyrannei der großen Erlebnisse

Bucket Lists suggerieren: Nur außergewöhnliche Erlebnisse zählen. Nur spektakuläre Momente sind wertvoll. Aber was ist mit den kleinen Wundern? Mit dem perfekten Kaffee am Morgen? Mit dem Buch, das dich zum Weinen bringt? Mit dem Gespräch, das dich verändert? Diese alltäglichen Kostbarkeiten stehen auf keiner Liste. Aber sie machen das Leben aus. “FOMO” nennen sie das heute: Fear of Missing Out. Die Angst, etwas zu verpassen. Bucket Lists verstärken diese Angst. Plötzlich gibt es 100 Dinge, die man “unbedingt” erleben muss. Und wenn man sie nicht erlebt, hat man etwas verpasst. Aber man verpasst immer etwas. Das ist normal. Das ist menschlich. Ich habe Frieden damit gemacht, dass ich nicht alles erleben werde. Dafür erlebe ich das, was ich erlebe, bewusster.

Meine Art zu träumen

Ich träume trotzdem. Aber anders. Ich will mich lebendig fühlen, verbunden, neugierig. Das kann beim Himalaya-Trekking passieren. Oder beim Gespräch mit der Nachbarin. Ich träume nicht von Orten, sondern von Begegnungen. Mit Menschen, mit mir selbst, mit dem Leben. Das kann überall passieren. Am Ende meines Lebens werde ich nicht sagen: “Schade, dass ich nie mit Delfinen geschwommen bin.” Ich werde sagen: “Schön war’s.” Der wahre Reichtum liegt nicht in der Anzahl der abgehakten Punkte. Er liegt in der Qualität der gelebten Momente. Falls du auch eine Bucket List hast: Schau sie dir mal genau an. Wie viele Punkte darauf sind wirklich deine eigenen Träume? Und wie viele sind fremde Erwartungen? Vielleicht ist es Zeit, die Liste wegzuwerfen und stattdessen das Leben zu leben, das du wirklich willst. Nicht das, was andere für erstrebenswert halten. Sondern das, was dich wirklich erfüllt.

Das Geheimnis liegt nicht darin, möglichst viel zu erleben. Es liegt darin, das zu schätzen, was man erlebt. Es liegt nicht darin, alle Träume zu erfüllen. Es liegt darin, zu träumen und gleichzeitig dankbar für die Realität zu sein.

Die Ute

P.S.: Während ich das hier schreibe, höre ich draußen einen Vogel singen. Ein ganz gewöhnlicher Vogel, nichts Exotisches. Aber sein Lied ist schön. Das steht auf keiner Bucket List, aber es macht meinen Tag heller. Manchmal ist das genug.

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