Kolumne

Sprachkurs mit Hund

So gesehen… | Die Kolumne von Anna Maria Ram.

Es gibt Menschen, die schon als Kleinkinder Begabungen und Veranlagungen zeigen, die erahnen lassen, welche weltverändernden Dinge von immenser Bedeutung sie eines Tages zustande bringen. Dinge, für die sie „geboren“ wurden und die keinen Zweifel an ihrem Genie aufkommen lassen, von Anfang an …
Und dann gibt es uns.

Meine Achtklässler an einer Ganztagsschule im Randbezirk einer Metropole mit hohem Migrationsanteil, meine Boxerhündin Inka, die mich zur Arbeit begleiten darf, und meine verbliebenen Nervenstränge, die in Schichtarbeit und chronischer Unterbesetzung meine letzten Gehirnzellen zusammenhalten und mich vor dauerhaftem Einschluss, Amoklauf und dem verstörenden Drang im Dirndl Schlager singend über die Autobahn rennen zu wollen, bewahren. 

Was tun Sie gegen Stress? Gegen Machtlosigkeit und innere Unentschlossenheit?

Ich für meinen Teil habe beschlossen nicht zu resignieren, teuren Mindset- Gurus mit Allergie- hervorrufenden grünen Heilschlamm-Tees und kratzenden Hanfschals zu folgen, oder monatelang auf einen freien Therapieplatz bei einer Dame, die ich womöglich noch aus Uni- Zeiten her kenne und sie ohnehin nicht leiden kann, zu warten.

Nein! Auch wenn der Glückskeks gestern beim kalorienhaltigen asiatischen Nudelgericht etwas Anderes zu besagen versuchte, wir probieren jetzt das Ganze mit etwas „Ironie“ und Humor zu nehmen. Ist vielleicht auch etwas für Sie. Wir können sonst einpacken, ich schwör`s Ihnen! Und sind wir mal ehrlich, jeder von uns ist in sich etwas Besonderes- vielleicht kein Genie, aber eine außergewöhnliche Ader, haben wir alle, auch Sie!

Ein Beispiel:

Montag. Erste Stunde Ethik in meiner Klasse. Unglaublich wertvoll angelegt, wer hat nicht um 7:50 das dringende Verlangen die Werte und Normen unserer modernen Gesellschaft mit einem bunt bestückten Moderationskoffer und Rollenspielen in alle ihrer Bandbreite aktiv und handlungsorientiert zu erkunden? Inka, ihres Zeichens Schulboxer, liegt obszön ausgestreckt und desinteressiert schnarchend in ihrem orthopädischen Hundebett, ich gebe zu, ich würde mich sehr gerne dazu sinken lassen.

Ein Großteil dieser ersten Stunde geht bei mir schon einmal mit meiner magischen Fähigkeit drauf, anhand des Treppe- hinauf-Stampfens ausmachen zu können, welches verlorene Schaf hier gerade den Weg in die Anstalt findet. Ich habe es eingangs gesagt: In jedem von uns steckt etwas Besonderes!

„Finde ich normativ gesehen problematisch, so eine Verspätung nicht pädagogisch zu begleiten, Anna!“, wirft an dieser Stelle Kollegin Plauder-Petra am wöchentlichen Stammtisch ein, wie immer, aus ihrer persönlichen Sicht völlig zurecht.

„Soll ich da jetzt jeden bestrafen? Da komme ich gar nicht mehr zum Unterricht!“, grüble ich vor mich hin, während ich die ungeschälten Bio- Wasabi- Nüsse aus Ost- Peru in rauen Mengen in mich stopfe- SCHARRRFF!!

„Das ist jetzt aber sehr destruktiv, Anna!“, unterstützt Mecker- Margit die liebe Plauder-Petra eifrig, „hier geht’s um einen Lernprozess, inhaltlich!“

„Bei dir wohl eher um einen LEER- Prozess, inhaltlich!“, nuschle ich in die Schärfe der asiatischen Azteken- Nüsse und beginne zu husten und zu grinsen gleichzeitig. Sicher ein hübsches Bild, wie ich lila anlaufe und Nussschalen durch die Luft katapultiere wie der Vesuv von Pompeji. 

Ihr werdet schon sehen, ich muss mich da jetzt rein steigern, sonst wird das nichts!

Ich lasse mir das jetzt nicht vermiesen, ich werde da jetzt so dermaßen humorvoll dran gehen, verdammte Axt, bin ich positiv und witzig gestimmt, ihr werdet schon sehen, ich muss mich da jetzt rein steigern, sonst wird das nichts!

Der nächste Montag kommt so gewiss wie die Werbeunterbrechung auf den Privatsendern und ich stehe wieder vor demselben Problem.

Die größte Herausforderung besteht, seit die SchülerInnen die Pubertät erreicht haben, darin, die zwischen einem Schluck Red Bull und einem Biss ins Hörnchen genuschelten Entschuldigungen zu entschlüsseln. DAS nenne ich mal „Gehirnjogging“, vergessen Sie Sudoku!

„‘schuldigung ts Schpätkommen ts Bus hatte Vschpätung!“- um nur ein Beispiel teuto- osmanischer Alltagslyrik anzuführen.

Und nein, die Jugendlichen sind nicht etwa betrunken, der deutschen Sprache nicht mächtig, oder haben eine irreparable Fehlstellung beider Kieferhälften, geschweige denn einen tragischen Unfall gehabt. Wobei ich mir bei Letzterem bei einigen nicht unbedingt sicher bin.

Sie reden einfach mit dem geringsten Maß an Energieaufwand das es benötigt, um die Buchstaben lautgetreu zu Worten herauszupressen, um die eigentliche Tatkraft in die vermeintlich wichtigeren Kommunikationsmittel der Sozialen Netzwerke zu stecken.

„Okay, Wesley, dann setz dich bitte leise und hole einfach deine Sachen raus!“, bitte ich den Zuspätkommenden. Inka erhebt sich kurz und wedelt Wesley freundlich an, legt sich aber schnell wieder ab. Inka muss geahnt haben, welche ungeahnten, boshaften Kräfte sich in diesem Moment zu entfesseln drohten. Tiere haben da einen besonderen Sinn für.

„Frau Rambo, wieso bekommt Wesley jetzt keinen Ärger, wenn er zu spät kommt?“, fragt Anna, seine Sitznachbarin gereizt.

Mir schwant Böses. Kalter Schweiß läuft mir den Nacken herunter, mein Augenlid zuckt unaufhörlich und ich taste mit zitternden Händen nach der Signalglocke.

„Weil ich jetzt mit dem Unterricht weiter machen möchte!“, wage ich einen dezenten Vorstoß und stehe mit wackeligen Beinen auf, um etwas an die Tafel zu schreiben. Irgendwas, und wenn es nur das Datum ist, oder ein Leberwurstbrötchen anzeichnen. 

„Er bekommt aber NIE Ärger, wenn er zu spät kommt!“, schmettert Anna direkt hinterher und dieser eine Satz dröhnt wie die Posaunen vor Jericho und lässt sämtliche Pädagogikmauern einstürzen wie schmelzendes Eis. In Zeitlupe sehe ich wie sich die Mimik der anderen Schüler von lethargischen Zombies zu sensationslüsternen Paparazzi wandelt, geifernd werden die Hände auf den Tisch gestützt, um das Geschehen besser verfolgen zu können. Fehlt nur noch eine tragende epische Titelmelodie dazu.

„Das ist jetzt nicht richtig Anna, ich…!“, versuche ich zu erklären, immer noch suchend über mein Pult tastend, die Meute nicht aus den Augen verlierend. Wo ist die blöde Tischglocke hin???

„Weil ich Ausländer bin!“, trompetet Wesley dazwischen und feuert seinen Turnbeutel (wo ist seine Schultasche???) provokativ auf den Tisch, sodass Giuliano, sein Sitznachbar aufschreckt.

Da! Der Armageddon- Mistknopf ist explodiert! 

„Fette Ansage!“, 

„Selber fett!“

„Deine Generation ist fett!“

„Deine Mudda..!“

„STOPP!! Niemand bewegt sich, hat jemand meinen Lippgloss gesehen?“

Es ist wieder so weit: Sinnfreie Vorurteils – Diskussion in einer Klasse ohne eine Person mit deutschem Pass- außer mir. Selbst Inka ist Spanierin. Haben wir alle paar Wochen. Ist wie ein Entwicklungsschub bei einer chronischen Krankheit, oder das Warten am Kofferband am Flughafen bei der Gepäckausgabe. Und im nächsten Augenblick diskutieren sie wieder alle einträchtig über die letzten Bundesligaspiele und schicken sich TikToks hin und her. 

„Leute, beruhigt euch, bitte, wir sollten das jetzt nicht unnötig hoch kochen, Wesley, du…!“, versuche ich zu schlichten und ziele auf die Signalklingel, die mir Paula vorausschauend aufs Pult in die richtige Position geschoben hat.

„Was machst du Auge auf mich, geh ma‘ wandern, Bro!“, grunzt Anna ihn an und für einen Augenblick widerstehe ich dem Impuls ihr zu applaudieren und den folgenden Schlagabtausch in einem Punktestand an der Tafel festzuhalten- auch meine damit verbundene Geschäftsidee für eine entsprechende Wette bei einem Wettbüro verwerfe ich schnell wieder.

„Ich kann wenigstens noch wandern, bin ja nicht so grinch angezogen wie du, Talahon!“, bollert Wesley dagegen, seine Jungs applaudieren und schlagen anerkennend mit den Mäppchen auf den Tisch. Fast wie im Bundestag, eine bahnbrechend schöne Debatte, wäre da nicht der Fakt, dass wir Ethikunterricht haben und ich einen Lehr- und Erziehungsauftrag zu erfüllen habe. 

Dabei fällt mir plötzlich eines auf: Niemand, der nicht täglich mit diesen hochpolitischen, grammatikalisch fragwürdigen Satzbauten konfrontiert ist kann hier noch irgendeinen Sinn erkennen, oder die Sätze gar verstehen. Und so sehr ich zwischen Schnappatmung, Schlichtung und dem Notieren der mitnichten auch guten Sprüche hin- und hergerissen bin, keimt da eine Idee in mir.

„Was hast du denn da jetzt gemeint, Wesley?“, will ich also wissen und merke, dass da tatsächlich ein Funken Interesse in mir wach wird. Und da ich um diese Uhrzeit noch keine Pizza für alle bestellen, oder sie mit meinen eisern gehüteten und nur an Geburtstagen gegönnten McDonalds Gutscheinen versorgen kann, erscheint mir eine Plauder-Petra- Lehreraktion, sprich, eine Krisenintervention, gar nicht mal so unangemessen. Man könnte es auch ein Ablenkungsmanöver nennen.

„Frau Rambo, soll ich’s Ihnen erklären?“, fragt Anna hilfsbereit und ich komme mir so dermaßen alt vor. 

„Frau Rambo peilts nicht, NPC!“, freut sich plötzlich auch Wesley.

„Sie spielen das nur, oder? Sie haben doch da universiert mit Studenten und Abitur!“

„Wissen Sie wirklich nicht was damit gemeint ist? Aber Sie sind doch Lehrerin, Bro!“

„Frau Rambo verpeilo!“

„Fett!“

„Was hast du gesagt??“

„STOPP!!! Hab‘ den Lipgloss, war im Mäppchen!“

Und wie aus dem nichts bilden sie dann einen Stuhlkreis, Wesley schleppt großzügig mit Giuliano unsere Inka samt ihrem orthopädischen Hundebett mitten in den Raum, er war der Meinung, dass sie eine „Boss“- Position haben muss, und Anna reicht ihm ganz friedlich den großen, bunt gefüllten Moderationskoffer.

„Wir schreiben jetzt alle ein paar Memes auf eins von den Karten und Sie raten, was es heißt. Wenn Sie’s nicht erraten, erklären wir es Ihnen!“, schlägt Anna vor und die Mädels zücken die bunten Fineliner.

„Au ja und wenn sie fünf Mal failen, dann bekommen wir in der Mittagspause Pizza!“, fügt Wesley an und erntet ein High-Five von Anna. Ich traue mich weder zu klingeln noch zu antworten, einfach mitspielen, um des plötzlichen, fragilen Friedens willen, wie wenn die Tarnung eines verdeckten Ermittlers auffliegt, Ablenkung um jeden Preis. 

Eifrig werden dann die Kulis gezückt, eine herrliche Arbeitsatmosphäre entsteht und endlich kehrt Frieden über dem Talahon, ähm, TAL, ein.

Naja. Zumindest bis es erneut an der Tür klopft. Aber so weit denken wir jetzt erst einmal nicht. 


Anna Maria Ram arbeitet als Pädagogin im hessischen Schuldienst. Dabei begleiten sie phasenweise ihre Deutschen Boxer, alle aus dem Tierschutz, in Klassen mit besonderen Ansprüchen und Lernschwierigkeiten. Anna Maria ist ebenfalls Buchautorin. Ihr Buch „Die anderen sind eh schlauer als uns!“ erscheint im Minerva Verlag. Für das Magazin „HundeWelt“ schreibt sie regelmäßig ihre eigene Kolumne. Hier auf Minerva VISION liegt ihr Schwerpunkt auf den Skurilitäten des Alltags.


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