
Flügel zum Wachsen und ein Heimathafen zum Ankommen
Ich glaube, wir alle tragen zwei unsichtbare Dinge mit uns durchs Leben: Flügel – und Wurzeln. Beides brauchen wir. Mit den Flügeln erkunden wir die Welt, nehmen Anlauf, fliegen, stürzen manchmal auch ab. Mit den Wurzeln halten wir uns fest. Und wenn es gut läuft, wissen wir immer, wo unser Heimathafen ist.
Für mich war das immer das Haus meiner Großmutter. Ein kleines, krummes Haus mit einem Gartentor, das quietschte wie eine alte Geige. Drinnen roch es nach frischer Wäsche, Lavendel und ein bisschen nach Erbsensuppe – je nach Wochentag. In der Küche hingen gestickte Sprüche, bei denen man nie wusste, ob sie Mahnung oder Trost sein wollten: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ – na ja. Oder: „Ein fröhlich Herz macht das Leben leicht.“ Das mochte ich. Das passte zu ihr.
Meine Oma war nicht laut. Sie war kein Mensch großer Reden, aber sie hatte diese leise Art, mit der sie einem die Welt erklärte, ohne ein einziges Wort zu sagen. Wenn ich als Kind mit aufgeschlagenen Knien vom Fahrrad stürzte, saß sie einfach nur da, tupfte mir Kamillentee auf die Wunde und hielt meine Hand. Keine großen Dramen. Kein “Siehst du, hab ich doch gesagt.” Nur dieses Gefühl: Du bist sicher. Du darfst hier du sein, auch wenn du weinst oder nichts sagst oder einfach nur müde bist vom Leben.
Und vielleicht ist genau das ein Zuhause. Nicht die Tapete, nicht der Stuhl am Fenster oder das Kleingeld im Bonbonglas – sondern das Gefühl, gesehen zu werden, ohne sich anstrengen zu müssen.
Der sichere Anker im Leben
Später, als ich auszog, um zu studieren, um die Welt zu entdecken, um mich selbst zu finden (was für eine Mammutaufgabe!) – da wusste ich: Ich darf scheitern. Ich darf zurück. Und sie wird da sein. Mit ihrem Lächeln und einer warmen Wolldecke.
Ich denke oft daran, wie kostbar das ist. Wie viele Menschen niemals so einen Ort hatten oder ihn sich mühsam selbst bauen müssen. Und ich frage mich: Kann man jemandem Flügel geben, wenn man selbst keine Wurzeln hat?
Vielleicht liegt darin unsere Aufgabe. Dass wir nicht nur fliegen, sondern auch sichere Orte schaffen. Für unsere Kinder, für unsere Freundinnen, für uns selbst. Orte, an denen nicht verglichen wird, nicht gemessen und gewertet. Sondern einfach gehalten.
Immer, wenn ich unsicher werde, wenn mir das Leben zu laut oder zu schnell wird, setze ich mich innerlich auf ihren alten Küchenstuhl, höre das leise Klackern des Eierkochers – und spüre wieder, wie es war.
Hier schreibt Claudia vom Minerva-Vision-Team.
Als echtes Omakind hat sie früh gelernt: Gute Antworten brauchen kein Coaching, manchmal reicht ein Platz am Küchentisch. Heute schreibt sie über das, was uns wirklich guttut: gute Fragen, einfache Antworten, leckeres Essen – und das Glück, wenn jemand einfach da ist.
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