„Ich habe mein Kind zur Adoption freigegeben“
Erzähl mir dein Leben:
„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.
Ein Gespräch mit einer Mutter über ihre schwierige Entscheidung
Es gibt Entscheidungen im Leben, die tiefer gehen als alle anderen, die wir jemals treffen. Für Lisa (29) war eine dieser Entscheidungen, ihr Kind zur Adoption freizugeben. In diesem emotionalen Interview spricht sie offen über den schmerzhaften Prozess, warum sie diese Wahl getroffen hat, und wie sie heute, Jahre später, mit der Entscheidung lebt.
Lisa, vielen Dank, dass du bereit bist, deine Geschichte mit uns zu teilen. Wann hast du zum ersten Mal realisiert, dass du vor dieser schwierigen Entscheidung stehen würdest?
Lisa:
Es kam nicht plötzlich. Als ich herausfand, dass ich schwanger war, war ich erst einmal in einem Schockzustand. Ich war 22, mitten im Studium, und die Beziehung zu meinem damaligen Freund war alles andere als stabil. Wir waren beide nicht in der Lage, ein Kind großzuziehen – emotional und auch finanziell. Zu Beginn dachte ich noch, irgendwie würden wir es schon schaffen. Aber je weiter die Schwangerschaft fortschritt, desto mehr wurde mir klar, dass ich nicht die nötige Stabilität bieten konnte, die ein Kind braucht.
Ich wollte immer das Beste für mein Kind. Als mir bewusst wurde, dass ich ihm das in meiner damaligen Lebenssituation nicht geben konnte, begann ich über die Möglichkeit einer Adoption nachzudenken. Es war keine Entscheidung, die ich leichtfertig getroffen habe, sondern eine, die mit unendlichem Schmerz verbunden war.
Wie hast du dich dabei gefühlt, als du die Entscheidung getroffen hast? War da viel Unsicherheit oder wusstest du tief in dir, dass es die richtige Wahl ist?
Lisa:
Es war eine der härtesten Entscheidungen meines Lebens, und ja, ich war unsicher – zu Beginn ständig. Ich habe mich gefragt: „Werde ich das jemals bereuen? Werde mein Kind mich eines Tages hassen, weil ich es abgegeben habe?“ Diese Gedanken haben mich über Wochen und Monate begleitet. Aber gleichzeitig wusste ich, dass ich nicht in der Lage war, ein stabiles und sicheres Zuhause zu bieten. Ich wollte nicht, dass mein Kind in einer Situation aufwächst, in der es von Anfang an kämpfen muss – sei es mit finanziellen Problemen oder dem emotionalen Chaos, in dem ich mich befand.
In den ruhigeren Momenten, wenn ich wirklich tief in mich hinein hörte, spürte ich, dass es die richtige Entscheidung war. Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie mein Kind in einer Familie aufwächst, die es von ganzem Herzen liebt, die vorbereitet ist und ihm alles geben kann, was es braucht.
Wie verlief der Prozess der Adoption? Hattest du Einfluss darauf, welche Familie dein Kind aufnimmt?
Lisa:
Ja, das ist eine der wenigen Dinge, die mich etwas getröstet haben. Ich hatte das Glück, eine offene Adoption wählen zu können, bei der ich Einfluss auf die Wahl der Adoptiveltern hatte. Mir war es unglaublich wichtig, dass mein Kind in eine liebevolle, stabile und verantwortungsvolle Familie kommt. Ich habe viele Gespräche mit der Adoptionsagentur geführt und schließlich die Familie kennengelernt, die mein Kind aufnehmen sollte.
Es war ein unglaublich emotionaler Moment, als ich die potenziellen Adoptiveltern traf. Sie waren warmherzig, fürsorglich und offen. Ich wusste, dass sie in der Lage sein würden, meinem Kind das Leben zu geben, das ich mir immer für es gewünscht habe. Aber gleichzeitig war es schmerzhaft, diese Entscheidung zu akzeptieren – dass jemand anderes mein Kind großziehen würde.
Wie hast du den Moment der Trennung erlebt, als du dein Baby nach der Geburt zur Adoption freigegeben hast?
Lisa:
Das war der schwerste Moment meines Lebens. Die Geburt selbst war schon emotional überwältigend, aber als ich mein Baby in den Armen hielt, wusste ich, dass ich gleich loslassen muss. Ich hatte eine Nacht mit meinem Kind im Krankenhaus, in der ich es im Arm hielt, es ansah und einfach nur weinte. Ich versuchte, mir diesen Moment für immer einzuprägen.
Als ich am nächsten Tag das Krankenhaus verließ und mein Baby den Adoptiveltern übergeben wurde, fühlte es sich an, als ob mein Herz zerrissen wird. Es gibt keine Worte, die diesen Schmerz wirklich beschreiben können. Ich wusste, dass ich das Richtige tat – aber das machte den Abschied nicht weniger schmerzhaft.
Wie gehst du heute mit dieser Entscheidung um? Hattest du Kontakt zu deinem Kind oder den Adoptiveltern?
Lisa:
Es war schwer, in den ersten Jahren damit zu leben. Es gibt Momente, in denen ich mich frage, wie mein Kind wohl gerade aussieht, was es tut, ob es glücklich ist. Ich habe lange gebraucht, um Frieden mit der Entscheidung zu finden. Was mir geholfen hat, war die Tatsache, dass ich in einer offenen Adoption bin und die Möglichkeit habe, Kontakt zu halten. Ich bekomme regelmäßig Briefe und Fotos von der Adoptivfamilie, in denen sie mir erzählen, wie es meinem Kind geht, wie es sich entwickelt und was es Neues gelernt hat. Später habe ich vielleicht die Möglichkeit, Kontakt aufzunehmen, so, wie eine Art Patentante. Das würde ich mir wünschen, aber es liegt nicht in meiner Hand.
Die Briefe geben mir ein Stück weit Ruhe. Ich weiß, dass es meinem Kind gut geht, dass es in einer liebevollen Umgebung aufwächst. Und dennoch gibt es Tage, an denen der Schmerz wieder hochkommt, an denen ich mich frage, wie mein Leben wäre, wenn ich die Entscheidung anders getroffen hätte. Aber im Großen und Ganzen weiß ich, dass es die beste Entscheidung war – für mein Kind.
Hast du manchmal das Gefühl, dass dein Umfeld deine Entscheidung nicht versteht oder verurteilt?
Lisa:
Ja, das passiert leider immer wieder. Viele Menschen verstehen nicht, wie schwer diese Entscheidung war und welche Überlegungen dahinterstecken. Es gibt Leute, die sagen: „Wie konntest du dein eigenes Kind abgeben?“ Das tut weh, weil sie die innere Zerrissenheit nicht verstehen. Manche sehen es als eine kalte Entscheidung, aber für mich war es genau das Gegenteil. Es war eine Entscheidung aus Liebe. Ich wollte, dass mein Kind die bestmöglichen Chancen im Leben hat, und ich konnte sie ihm in dem Moment nicht bieten.
Es gab aber auch Menschen, die mich unterstützt haben. Freunde und Familie, die verstanden haben, dass ich das Beste für mein Kind wollte, auch wenn es für mich selbst unglaublich schmerzhaft war.
Was würdest du anderen Frauen sagen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden?
Lisa:
Ich würde ihnen sagen, dass es keine leichte Entscheidung ist – und dass es okay ist, darüber zu weinen, darüber zu zweifeln. Aber ich würde ihnen auch sagen, dass es wichtig ist, das Wohl des Kindes in den Vordergrund zu stellen. Man muss sich die Frage stellen: „Was ist das Beste für mein Kind in dieser Situation?“ Manchmal bedeutet das, loszulassen und jemand anderem die Chance zu geben, das Leben zu bieten, das man selbst nicht geben kann. Schwierig ist das Umfeld. Es ist nunmal nicht möglich, eine Schwangerschaft zu verheimlichen. Du siehst es halt, wenn eine Frau ein Kind bekommt – und dann wird man auch danach gefragt. Was antwortet man dann? Ich bin mit meiner Entscheidung zu offen umgegangen und jeder hatte dann eine Meinung dazu. Das tut einfach nicht gut. Aus heutiger Sicht würde ich dazu raten, mir genau zu überlegen, wem ich was kommuniziere. Vielleicht wäre es mir besser gegangen, wenn ich erzählt hätte, ich hätte eine Fehlgeburt gehabt.
Es ist auch wichtig, dass man sich Unterstützung sucht. Niemand sollte diesen Weg allein gehen müssen. Es wird Momente geben, in denen es sich unerträglich anfühlt, aber es gibt auch Momente, in denen man weiß, dass man das Richtige getan hat – für das eigene Kind.
Vielen Dank, Lisa, dass du so offen über diese schwierige Entscheidung gesprochen hast.
Lisa:
Es war nicht einfach, aber ich hoffe, dass meine Geschichte anderen Mut macht, die sich in einer ähnlichen Situation befinden.
Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:
“Liebe und Leid liegen nahe beieinander, so heißt es. Und das hat Lisa erlebt. Die Entscheidung, nicht in der Lage zu sein, sich gerade um ein Kind zu kümmern, nötigt großen Respekt ab. Die Tatsache, dass sie ihrem Kind erhalten bleibt und aus der Ferne Anteil nimmt zeigt, dass sie sich ihre Entscheidung nicht leicht genommen hat und dennoch Verantwortung übernimmt. Offene Adoptionen ermöglichen den Kontakt zwischen Adoptivfamilien und leiblichen Eltern, was zu einer offeneren Kommunikation und weniger Identitätskonflikten für das Adoptivkind führen kann. Das hat den Vorteil, dass Lisa weiß, dass es ihrem Kind gut geht. Sie kann ihr Kind auch theoretisch später treffen und Zeit mit ihm verbringen. Wenn das harmonisch abläuft, hat es für alle Seiten nur Vorteile. Es gibt jedoch auch Herausforderungen, wie mögliche Konflikte zwischen leiblichen und Adoptiveltern. Was, wenn die neuen Eltern Entscheidungen treffen, die die leibliche Mutter anders treffen würde? Zudem können die Adoptiv-Eltern den Kontakt auch später untersagen, weil laut in der BRD weder die Einwilligung in die Adoption noch Anträge auf Annahme als Kind an Bedingungen geknüpft werden dürfen. Generell gelten Besuchs- oder Kontaktvereinbarungen nicht als ein gerichtlich durchsetzbares Recht, da Pflege und Erziehung des Kindes das alleinige Recht der Adoptiveltern sind. Solche Adoptionen erfordern deshalb intensive Vorbereitung und Nachbetreuung, und mündige Erwachsene, die ihre Konflikte erwachsen lösen.”
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