Psychologie

„Ich habe die Stärke gefunden, mich zu befreien“

Erzähl mir dein Leben:

„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.




„Jahrelang habe ich geschwiegen, bis ich merkte, dass ich gehen musste, um zu überleben“



Julia (42) erzählt, wie sie den Mut fand, eine gewalttätige Beziehung zu verlassen.





Als Julia Mertens vor zehn Jahren ihren Mann verließ, tat sie den schwersten Schritt ihres Lebens. Hinter der nach außen scheinbar perfekte Fassade, lag eine Beziehung voller Kontrolle und Gewalt, die Julias Selbstbewusstsein Stück für Stück zerstörte. Doch sie fand die Kraft, auszubrechen. Heute blickt sie zurück.

Redaktion: Julia, kannst du uns erzählen, wie es zu dieser Situation kam?

Julia: Es begann ganz anders, als man es sich vielleicht vorstellt. Am Anfang war alles perfekt. Mein Mann war charmant, aufmerksam und hat mich regelrecht auf Händen getragen. Ich habe gedacht, ich habe den absoluten Volltreffer gelandet. Andere hatten Probleme mit ihren Partner, meiner aber schien perfekt. Ich war glücklich. Im Nachhinein weiß ich gar nicht mehr, ab wann es gekippt ist. Erst fühlte sich sein Verhalten mir gegenüber nämlich fürsorglich an und beschützend. Ich habe mich dadurch sicher und geborgen gefühlt, wenn er fragte, wo ich hingehen würde und ob er mich nicht sicherheitshalber abholen solle. Dann wollte er genau wissen, mit wem ich gesprochen habe und sah sich genau an, was ich trug. Irgendwann habe ich mich ein wenig angepasst und lieber lange Hosen getragen als kurze Röcke. Aber das reichte nicht. Dann kamen die ersten Ausbrüche. Wenn ihm etwas nicht passte, wurde er laut, manchmal aggressiv. Und irgendwann begann er, mich zu schubsen.

Redaktion: Warum bist du trotzdem geblieben?

Julia: Das fragen viele. Es ist so schwer zu erklären. Wenn die Gewalt direkt am Anfang passiert wäre, dann wäre ich natürlich sofort gegangen. Ich bin da irgendwie reingerutscht. Vielleicht war ich naiv – ganz bestimmt sogar. Heute kenne ich die ersten Anzeichen einer Gewaltspirale. Erst sind die Männer charmant, und dann fangen sie an, Druck aufzubauen. Sie testen aus, wie weit sie gehen können. Und eigentlich werden sie erst dann gewalttätig, wenn sie glauben, dass sie dich sicher haben. Bei mir fing die Gewalt nach der Geburt unseres Sohnes an. Und am Anfang habe ich mir immer gesagt: „Das war nur ein Ausrutscher, das passiert nicht wieder.“ Und er war danach ja auch immer so reumütig, hat sich weinend bei mir entschuldigt, mir Blumen gebracht und Schmuck gekauft. Er hat mir Briefe geschrieben, in denen er sich beschuldigt hat und mir hoch und heilig versprochen hat, dass er so etwas niemals wieder machen würde. Ich wollte glauben, dass er sich ändern kann. Aber es ging immer weiter. Irgendwann war ich innerlich wie tot, abgestumpft. Ich fühlte mich völlig wertlos. Er hatte mir eingeredet, dass ich nichts ohne ihn bin, dass niemand mich lieben würde. Ich habe ihm geglaubt. Und dann war da noch die Angst – Angst vor dem, was er tun könnte, wenn ich gehe.

Redaktion: Was hat dich schließlich dazu gebracht, den Schritt zu wagen?

Julia: Es gab einen Moment, der alles veränderte. Unser Sohn war damals fünf Jahre alt, und er hatte einen Wutanfall, wie Kinder ihn manchmal haben. Mein Mann hat geschrien, dass er ruhig sein soll, und dann sah ich, wie er ausholte. Zum Glück konnte ich ihn davon abhalten, aber da wusste ich auf einmal glasklar: Ich kann nicht zulassen, dass mein Kind in dieser Umgebung aufwächst. Es war nicht nur mein Leben, das auf dem Spiel stand, sondern auch seines.


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Redaktion: Wie bist du gegangen?

Julia: Ich habe mir Hilfe gesucht. Zuerst heimlich. Ich habe mit einer Freundin gesprochen, die aus allen Wolken gefallen ist. Niemand hätte das gedacht! Es hat mich eine solche Überwindung gekostet, darüber zu sprechen. Aber sie hat sich sofort das Telefon genommen und gesagt: „Wir machen sofort einen Termin im Frauenhaus!“ Sie kannte dort eine Beraterin. Als ich dort im Büro saß, konnte ich ihr kaum ins Gesicht schauen, so sehr habe ich mich geschämt. Aber sie war so toll. Sie hat mir gesagt, dass hier so viele Frauen vor mir gesessen haben. Auch ganz selbstbewusste Ärztinnen, Architektinnen – solche Männer sind richtig geschickt und können viele Frauen einwickeln. Sie hat mir geholfen, einen Plan zu machen. Ich habe wichtige Dokumente, Geld und Kleidung gepackt, als er nicht zu Hause war. Und auch die Briefe, die er mir geschrieben hatte. Die waren ein wichtiges Beweismittel. Und dann bin ich mit meinem Sohn geflohen. Es war der beängstigendste Moment meines Lebens – aber auch der befreiendste.

Redaktion: Wie ging es danach weiter?

Julia: Es war schwer. Am Anfang habe ich ständig Angst gehabt, dass er uns finden würde. Aber mit der Unterstützung des Frauenhauses und einer Therapeutin konnte ich langsam wieder Vertrauen in mich selbst finden. Wir sind in eine andere Stadt gezogen, an die deutsche Küste und haben einfach nochmal von vorne angefangen. Ich habe Kampfsport-Unterricht genommen und einige Situationen nachgestellt. Heute würde ich mir helfen können. Und dann habe ich mir verziehen. Ich habe gelernt, dass ich nicht schuld bin, dass niemand das Recht hat, mich so zu behandeln. Es war ein langer Weg, aber heute bin ich frei. Ich habe einen neuen Job, ein eigenes Zuhause und lebe mit meinem Sohn ein friedliches Leben.

Redaktion: Was möchtest du anderen Frauen mit auf den Weg geben?

Julia: Wenn es weh tut, dann ist es keine Liebe. So einfach ist das. Und wenn ihr an einen Mann geraten seid, der nicht lieben kann, dann seid ihr nicht schuld. Es gibt Menschen, die euch helfen wollen. Sprecht mit jemandem, dem ihr vertraut, und sucht euch Unterstützung. Es ist schwer, aber es lohnt sich.



Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:

Es ist ein vollkommener Kontrollverlust

Ist es wirklich Liebe, wenn sich jemand um uns kümmert? Fürsorge und Kontrolle sind am Anfang nur schwer voneinander zu unterscheiden. Sie zeigen sich auf die gleiche Art und Weise. Ein fürsorglicher Mensch ist allerdings am Wohl des anderen interessiert, während ein kontrollierender Mensch an seinem eigenen Wohl interessiert ist. Der Unterschied tritt im Laufe der Beziehung immer deutlicher zutage, am Anfang aber sind es nur Nuancen. Wenn man mit Frauen spricht, die häusliche Gewalt erlebt haben, erinnern sich eigentlich fast alle an eine kleine warnende Stimme in ihrem Inneren am Anfang der Beziehung. Es ist ein ganz leises Gefühl, eine Art Unwohlsein oder Ratlosigkeit. Diese Warnung im Inneren wird aber von dem extrem charmanten Auftreten des Partners als Unsinn abgetan. Und das ist der erste Schritt zum Selbst-Misstrauen. Deshalb ist es so wichtig, alles in sich wahrzunehmen, was da ist.

Es hat sich gezeigt, dass Täter systematisch vorgehen: der erste Schritt ist es, das Opfer in Sicherheit zu wiegen. Deshalb beginnen die Beziehungen oft mit einem Übermaß an Liebesbekundungen. Man hat im wahrsten Sinne das Gefühl, das richtig große Los gezogen zu haben. Später beginnen diese Männer, die Gefühle der Partnerin zu verwirren. Wer sich selbst nicht mehr vertraut, wird leichter zum Opfer. Erst in den Schritten danach wird die Kontrolle und der Druck immer weiter erhöht, bis die Partnerin sich unterordnet. Später schweigen Frauen aus Furcht vor dem, was passiert. Oder aus gelernter Gewohnheit. Hinzu kommt Scham, weil sie das Gefühl haben, sich rechtfertigen zu müssen. Im Grunde genommen erleben sie vollkommenen Kontrollverlust – und das ist für jeden Menschen schwer zu ertragen. Und noch schwerer ist es, sich das einzugestehen.

Warum sind Menschen so? Und kann ich frühzeitig erkennen, ob mein Gegenüber ein Kontroll-Freak ist? Wir wissen Folgendes: Solche Menschen haben in der Kindheit von ihren Eltern häufig wenig Güte erfahren und sind nur für ihre Leistung anerkannt wurden. Aus solchen Kindern werden Erwachsene, die mit allen Mitteln nach Status und sozialer Anerkennung streben. Der Partner ist ein Teil davon; eher ein Statussymbol, als ein Partner auf Augenhöhe. Er dient dazu, den eigenen Erfolg zu unterstützen. Notfalls auch, indem man sich auf seine Kosten profilieren kann. Und dann beginnt die Häme, die Herabsetzung, der Spott. Mit anderen Worten: die Gewaltspirale. Die Realität zeigt: Jeder kann ihr Opfer werden. Man rechnet mit einem solchen Verhalten einfach nicht.

Der Wendepunkt kam, als Julias Mutterrolle aktiviert wurde. Sie konnte sich zwar selbst nicht schützen, aber als Mutter war sie durchaus in der Lage, für ihr Kind zu kämpfen. So sind Frauen, wenn es um ihre Kinder geht. Sie werden zur Löwin. Und dann hatte sie das Glück, gut beraten worden zu sein. Es ist nämlich ein Trugschluss zu glauben, dass eine Trennung die Gewalt beendet. Sie kann auch eskalieren. Es ist wichtig, sich und die Kinder zu schützen, deshalb ist es richtig, Kontakt zu Frauenhäusern aufzunehmen. Dort ist man sicher und kann beginnen, zu heilen.

3 Fragen: Ist meine Beziehung gesund oder gibt es Warnsignale?

Eine Beziehung sollte ein sicherer Raum sein, in dem wir uns geschätzt, unterstützt und respektiert fühlen. Doch manchmal können subtile, aber gefährliche Dynamiken entstehen, die auf eine ungesunde Beziehung hinweisen. Du bist dir unsicher? Dann hätte ich hier drei Fragen für dich, die dich weiterbringen und dir die Augen öffnen können:

Bist du der Schuldige? Wenn Konflikte konstruktiv gelöst werden, gibt es Lösungen. Wer immer nach einem Schuldigen sucht, versucht die Verantwortung abzuladen.

Wird dein Selbstwert untergraben? Verspottet er dich? Macht er sich vor anderen über dich lustig und hört auch nicht damit auf, wenn du ihn darum bittest? Beschimpft er dich oder bezeichnet dich als „Spielverderber“?

Achtest du auf jedes Wort, das du sagst? Beobachte dich genau: kannst du mit deinem Partner frei heraus über alles reden? Oder musst du einen günstigen Zeitpunkt abwarten und jedes Wort auf die Goldwaage legen, weil er ansonsten laut, aufbrausend oder beleidigend wird?

Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.

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