Psychologie

Die Geschichte von den fünf Kugeln

Wieder zuhause. Nach fünf Tagen, von denen ich heute nicht mehr weiß, wie ich sie überstanden habe, saß ich mit gepacktem Koffer neben Horst im Auto. Er fuhr mich in die Klinik, die der Arzt mit zur Anschlussheilbehandlung meiner MS empfohlen hatte. 

 Thema MS (Multiple Sklerose) – Bereiche dieses Artikels

  1. Nimm die Reha in Anspruch (Tipps für Betroffene)
  2. Das hat die Sicht auf mein Leben verändert. 
  3. Die Geschichte von den fünf Kugeln

Nimm die Reha in Anspruch

Deine Krankenkasse ist dein Kostenträger, wenn du nicht erwerbstätig bist. Die Deutsche Rentenversicherung ist dein Kostenträger, wenn du erwerbstätig bist. Beide, oder Besserwisser, die keine Ahnung haben, werden dir sagen, dass zwischen zwei Reha-Maßnahmen eine Wartezeit von vier Jahren liegen muss. Aber wenn du nachweisen kannst, und glaube mir, das kannst du, dass eine frühere Reha aus medizinischen Gründen dringend oder zwingend erforderlich ist, dann wird diese auch vor Ablauf der Wartezeit gewährt. 

Solltest du eine Absage zu einer beantragten Reha bekommen, gib dich damit nicht zufrieden und lege Widerspruch ein. Das ist wichtig für dich! Eine medizinische Reha hilft dir dabei, die für dich passenden Therapien zu finden. Mit ihr kannst du körperliche Funktionen wiederherstellen und/oder ausgleichen. Außerdem kann sie auch dazu beitragen, dass du neue Gewohnheiten in deinem Leben integrierst, wie zum Beispiel Sport zu treiben, Entspannungstechniken zu erlernen, neue Hobbys zu entdecken, wenn das alte nicht mehr funktionieren sollte. 

Außerdem knüpfst du in einer Reha neue soziale Kontakte zu „Gleichgesinnten“, was du natürlich nicht als Argument im Antrag an die Krankenkasse erwähnen solltest. Wichtig ist, dass du aus der AHB/Reha, in Körper und Geist gestärkt und mit frischem Lebensmut in den Alltag zurückkehrst.

Ich kann dir nur ans Herz legen, diese Maßnahme wahrzunehmen. 

Denn hier wirst du lernen, mit deinen Symptomen, die dich unter Umständen ein ganzes Leben lang begleiten werden, umzugehen. Bewegungsstörungen, Koordinationsstörungen, Spastiken; genauso wie Schmerzen, Sprech- und Schluckstörungen, kognitive Beeinträchtigungen, Fatigue, Blasenstörungen, seelische Störungen wie z.B. Depressionen. Alles Begriffe, denen du nie Bedeutung beigemessen hast. Doch jetzt hast du die MS am Hals und musst lernen, mit ihr umzugehen. Denn sie bleibt. 

Am Anfang wirst du kämpfen, verzweifeln, wütend sein. Aber gib nicht auf, denn sie wird dir neue Chancen bieten, die du ergreifen solltest, um deinen Frieden mit ihr zu machen. Es hat keinen Sinn, Jahre deines Lebens einen Kampf zu führen, den du nicht gewinnen kannst. Aber du wirst Mittel und Wege finden, um die zwei Buchstaben zu überlisten. Sie in dein Leben zu integrieren, als so etwas wie deine Freundin. Sie wird dich lehren, achtsam mit dir zu sein, dich selbst und deinen Körper zu verstehen; zur Ruhe zu kommen. Genauso wird es zu Tagen reinsten Terrors kommen, in denen du ihr am liebsten den Hals umdrehen oder die Freundschaft aufkündigen willst. Oder beides. Aber sie will dir mit diesen Tagen auch etwas mitteilen: Hattest du Kummer? Stress auf der Arbeit? Streit mit deinem Partner? Oder hast du deinem Körper schlicht und ergreifend zu viel zugemutet?

Und hier kommt die Anschlussheilbehandlung ins Spiel. 

Praxis-Tipp Reha : Eine Anschlussheilbehandlung (AHB) ist nichts anderes als eine Reha. Sie unterscheidet sich eigentlich nur durch die Antragstellung und durch den Kostenträger. Eine AHB (medizinische Reha) wird häufig nach einem Krankenhausaufenthalt empfohlen und muss spätestens 14 Tage nach der Entlassung angetreten werden. Im fünften Sozialgesetzbuch/SGB V § 11 Absatz 2 steht, dass Krankenversicherte Anspruch auf Leistungen zu einer medizinischen Reha haben, wenn diese notwendig ist, um eine Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern.

Am Anfang weißt du noch nichts. Rein gar nichts über das Leben, was auf dich zukommt bzw. zukommen kann. Deswegen ist es gut und wirklich wichtig, Strategien zu erlernen. Zusammen mit anderen an MS Erkrankten oder anderen Menschen mit ähnlichen neurologischen Erkrankungen, mit denen du dich austauschen kannst. Mit den Therapeuten in der Klinik, in der du die nächsten drei Wochen deines neuen Lebens beginnst.

Ehrlich gesagt kann ich mich heute, mehr als 13 Jahre später, gar nicht mehr genau erinnern, wie diese erste von insgesamt bisher sieben AHBs gelaufen ist. Es gab die übliche Physiotherapie in der Gruppe und auch Einzeltherapien, speziell für meine Belange. Es gab Training für mein Problem mit dem Gleichgewicht und meinem Schwindel, Ergotherapie aufgrund der eingeschränkten Funktionalität meiner rechten Hand; psychologische Gespräche, Gespräche mit dem Sozialdienst des Hauses und einmal pro Woche ein Gespräch mit den Ärzten anlässlich der Visite. 

Alles in allem fühlte ich mich damals nicht gut betreut mit all den Fragen, die ich in mir hatte. Teilweise wusste ich noch gar nicht, welche ich stellen sollte. Ich hatte furchtbare Existenzängste, denn ich war bis zu diesem Zeitpunkt mehr oder weniger die Alleinverdienerin in meiner Ehe. Wir hatten ein Jahr zuvor dieses ehemalige landwirtschaftliche Anwesen mit 270 qm Wohn- und Nutzfläche, Stallungen, Scheune und Nebengebäude gekauft, einen klassischen Dreiseithof, und die ganze Last lag auf meinen Schultern. Horst hatte mehr oder weniger „eine ganze Generation lang“ studiert, ohne jemals zu einem Ende gekommen zu sein. Heute weiß ich, dass er von und nicht mit mir gelebt hat. MS, ich danke dir, denn ohne dich würde ich wahrscheinlich immer noch diese Last mit mir tragen! 

An zwei Dinge, die innerhalb dieser ersten AHB geschahen, kann ich mich aber noch heute erinnern. 

Als Erstes erinnere ich mich an meinen Albtraum: Ich träumte, dass ich in die Lobby der Klinik kam, in der ein großes Transparent hing, knallgelb mit roter Schrift. Darauf stand: „Irene hat diese Krankheit nicht! Medikament und Therapien sind nicht erforderlich!“ Und in meinem Traum brach ich zusammen. Rappelte mich auf, lief durch die ganze Klinik. Suchte verzweifelt Ärzte, um ihnen zu erklären, wie dringend ich das alles nötig hatte. Aber niemand wollte mir zuhören. Glücklicherweise wurde ich dann wach; klatschnass geschwitzt. Ich hatte bisher wenig Albträume in meinem Leben, aber an diesen erinnere ich mich ganz besonders. Denn das, was auf dem Transparent stand, war das, was ich wollte, dass es so ist. Und meine Reaktion war das, was ich wusste.

Und das Zweite, an das ich mich erinnere, hat die Sicht auf mein Leben verändert. 

Es war der Gruppentermin für die Sprachtherapie, denn ich, als sprachgeschulter Mensch, hatte große Schwierigkeiten, Worte zu finden und Silben richtig zuzuordnen. Wir waren zu fünft, inklusive Therapeutin. Wir hatten die Aufgabe, aus sechs willkürlich genannten Worten kleine Geschichten zu erfinden. Ob die Sinn ergaben oder nicht, war nebensächlich. Es ging für uns darum, mit der Sprache zu arbeiten. 

Dabei kamen lustige Dinge zustande und nachdem jeder seine Geschichte zu den sechs Wörtern erzählt hatte, sinnierten wir, Therapeutin inklusive, über das Leben und warum uns unsere Krankheiten „das“ angetan hatten. Der Herr koreanischer Herkunft in unserer Gruppe erzählte uns seine Geschichte. Er stand am Bahnsteig, an dem er auf den Zug wartete, um spätabends, nach seiner Arbeit nach Hause, zu seiner Frau und zu seinem wenige Wochen zuvor geborenen Kind zu fahren. Er sei von mehreren jungen, rassistisch agierenden Männern angepöbelt und beschimpft worden. Und da er darauf nicht reagierte, um sie nicht zu provozieren, entschlossen sich diese, ihn anzugreifen und zu verprügeln. Sie prügelten ihn, sie traten ihn. Und als er bereits auf dem Boden lag, traten sie auf seinen Kopf ein. Immer und immer wieder, obwohl er sich schon lange nicht mehr bewegt haben muss. Sie traten ihn ins Koma, aus dem er erst nach drei Monaten wieder erwachte. 

Mir läuft es heute noch kalt den Rücken runter, wenn ich an dieses Schicksal denke. Er erzählte uns, dass er wach wurde, aber seine neurologischen Schäden so schwer waren, dass er erst wieder das Laufen, die Koordination von Arm- und Beinbewegungen und das Sprechen lernen musste. Er verlor seinen Job, seine finanzielle Existenz löste sich in Luft auf. Aber er verlor nie seine Frau, die bedingungslos an seiner Seite blieb. Und dann erzählte er uns die Geschichte, die meine Sicht auf mein Leben nachhaltig verändert hat. Er sagte, wenn er uns einen Rat für das Leben geben dürfe, dann sei es der, aus dieser Geschichte:

Die Geschichte von den fünf Kugeln

Stell dir vor, dass das Leben ein Spiel ist, in dem du fünf Kugeln jonglierst. Diese Kugeln heißen Arbeit, Familie, Gesundheit, Freunde und Rechtschaffenheit. Und du hältst sie alle in der Hand. Aber eines Tages begreifst du, dass die Arbeit ein Gummiball ist. Wenn du ihn fallen lässt, springt er wieder hoch. Die anderen vier Kugeln – Familie, Gesundheit, Freunde und Rechtschaffenheit – sind aus Glas. Wenn du eine von diesen Kugeln fallen lässt, wird sie unwiderruflich beschädigt, zerspringt vielleicht sogar in tausend Stücke. Und selbst wenn sie nicht zerspringt – sie wird nie mehr so sein wie früher. Wenn du die Lektion der fünf Kugeln erst einmal verstanden hast, hast du den Anfang für ein ausgeglichenes Leben gemacht.
(aus „Tagebuch für Nikolas“ von James Patterson) 

Plötzlich war es still in dieser Gruppe. Keiner konnte mehr auch nur ein Wort sagen. Wir weinten nur noch. Es brach alles aus uns heraus. Aus jedem Einzelnen von uns. Sogar die Therapeutin weinte. Nur der junge Koreaner ruhte in sich selbst. Tage später noch, immer wenn ich ihn sah, musste ich an seine Worte denken und mir schossen jedes Mal die Tränen in die Augen. Dann nahm er mich immer in den Arm und sagte: „Nicht weinen Liebes, nicht weinen.“ Ich brauche an dieser Stelle nicht zu erwähnen, dass ich in dem Gedanken an ihn und seine Stärke, an das Erzählte und an das Gehörte, schon wieder in Tränen ausbreche.

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