Das Glück der kleinen Dinge
Hier schreibt die Ute. Über 50, mit mehr Lebenserfahrung als Faltencremes im Badezimmerschrank. Liebt Bücher, guten Rotwein und Gespräche, die auch mal wehtun dürfen. Sie hält nichts von Schönheitswahn und Fitness-Apps, aber viel von ehrlichen Worten und warmem Apfelkuchen. Mit Sahne. Und jeden Dienstag schenkt sie uns ihre Gedanken.
Heute Morgen ist mir etwas passiert, was andere wahrscheinlich gar nicht bemerkt hätten: Ich stand in der Küche, machte mir Kaffee, und plötzlich fiel ein Sonnenstrahl genau auf meine Hände. Für vielleicht zehn Sekunden waren sie golden und warm, und ich dachte: “Ach, wie schön.” Das war’s. Zehn Sekunden Sonnenlicht auf meinen Händen. Kein Instagram-Moment, keine große Sache, nichts, was man erzählen würde. Und trotzdem hat es meinen ganzen Tag heller gemacht. Willkommen in der wunderbaren Welt der kleinen Dinge.
Als Glück noch groß sein musste
Früher dachte ich, Glück müsse laut sein. Groß, spektakulär, teilenswert. Eine Beförderung, ein neues Auto, ein Traumurlaub, eine perfekte Beziehung. Glück war etwas, worauf man hinarbeiten musste, etwas, das man sich verdienen musste. Und wenn es nicht kam, war ich unglücklich. Wenn es kam, machte ich mir Sorgen, dass es wieder verschwindet. Das große Glück ist wie ein seltener Vogel: schön anzusehen, aber man kann nicht darauf bauen, dass er jeden Tag vor dem Fenster sitzt. Die kleinen Glücksmomente dagegen sind wie Spatzen. Unscheinbar, aber immer da, wenn man hinsieht.
Meine Glücks-Ausbildung
Das Glück der kleinen Dinge ist mir nicht in den Schoß gefallen. Ich musste es lernen. Wie eine neue Sprache, die Sprache der leisen Freuden. Am Anfang dachte ich: “Das ist doch albern. Sich über warme Socken freuen? Über den Duft von frischgebackenem Brot? Das ist doch nichts Besonderes.” Aber genau das ist der Punkt: Es ist nichts Besonderes. Es ist alltäglich. Und deswegen ist es immer da.
Die Inventur meiner kleinen Glücksmomente
Hier eine unvollständige Liste der Dinge, die mich in der letzten Woche zum Lächeln gebracht haben:
- Der Nachbarskater, der jeden Morgen auf meiner Fensterbank sitzt und mich anschaut, als würde er “Guten Morgen” sagen.
- Das Geräusch, wenn ich die Post aus dem Briefkasten hole. Dieses kleine “Plopp”.
- Der Geruch von Zwiebeln in der Pfanne. Zuhause riecht sofort nach Zuhause.
- Meine Lieblingsjeans, die nach der Wäsche wieder perfekt passt.
- Ein Lied im Radio, das ich ewig nicht gehört hatte, und plötzlich kenne ich noch jede Zeile.
- Der erste Schluck Tee nach einem anstrengenden Tag.
Die Anti-Instagram-Realität
Das Schöne an den kleinen Glücksmomenten ist: Sie sind zu unspektakulär für Social Media. Niemand würde ein Foto von meinen Händen im Sonnenlicht posten. Niemand macht ein Video davon, wie er genüsslich Tee trinkt. Diese Momente gehören nur mir. Sie sind privat, unbewertet, ungefiltert. In einer Welt, in der alles geteilt, geliked und kommentiert wird, ist das fast schon revolutionär.
Warum wir sie übersehen
Wir sind darauf programmiert, nach dem Großen zu suchen. Nach dem nächsten Ziel, dem nächsten Erfolg, dem nächsten Highlight. Dabei laufen wir ständig an hundert kleinen Wundern vorbei. Wir hetzen durch den Tag und bemerken nicht den Himmel über uns. Wir schauen aufs Handy und verpassen das Lächeln des Verkäufers. Wir sind so beschäftigt mit der Zukunft, dass wir die Gegenwart verschlafen. Plötzlich sehe ich überall diese winzigen Geschenke, die der Tag so bereithält. Das Muster, das der Regen auf der Fensterscheibe macht. Wie das Licht am Abend weicher wird. Der Duft von frischer Wäsche. Die Art, wie sich eine Katze streckt. Wie Butter auf warmem Brot schmilzt. Es ist alles da. Es war immer da. Ich habe nur nie hingeschaut.
Man muss nicht auf das perfekte Leben warten, um glücklich zu sein. Man kann auch mit dem unperfekten Leben glücklich sein, wenn man die richtigen Momente findet. Die kleinen Dinge sind nicht klein. Sie sind das Leben selbst.
Die Ute vom Dienstag
P.S.: Während ich das hier schreibe, sitzt der Nachbarskater wieder auf meiner Fensterbank. Er putzt sich die Pfote und tut so, als würde er mich nicht bemerken. Aber ich sehe, wie er ab und zu zu mir herüberschielt. Auch das ist ein kleines Glück. Ein sehr warmes sogar.




