
Bullet Journaling: Organisation trifft Kreativität
Eine Reportage von Jana Löwenfeld
Ich besitze sieben Notizbücher. Drei davon sind leer, zwei halb beschrieben mit chaotischen Uni-Mitschriften, eines enthält Einkaufslisten aus 2021 – und das siebte? Das ist mein Bullet Journal. Oder sagen wir: mein Versuch davon.
Es begann – wie so vieles – mit einem Sonntag, Instagram und dem diffusen Gefühl, mein Leben nicht im Griff zu haben. Während ich zwischen mentalem Overload und „Was hab ich die ganze Woche eigentlich gemacht?“ pendelte, schlug mir der Algorithmus ein Video vor: eine perfekt gemalte Monatsübersicht, Mood-Tracker in Pastell, florale Doodles neben messerscharfen Habit-Trackern. Alles sah so aufgeräumt aus. So zufrieden. So unter Kontrolle.
Und dann dachte ich an Clara.
Clara ist 28, Sozialarbeiterin, lebt allein in einer kleinen Altbauwohnung mit knarzenden Dielen und einem viel zu stillen Kühlschrank. Sie hat ein gutes Herz, eine analytische Art zu denken – und ein ungesundes Talent, ihre eigenen Bedürfnisse zu übersehen. Als wir uns letztes Jahr trafen, war sie erschöpft. Nicht dieses klassische „Ich bin müde“-Erschöpft, sondern das tiefe, zähe Ausgelaugtsein, das sich durch die Wochen zieht wie Nebel. Ihre Arbeit forderte sie emotional, privat fühlte sie sich oft übergangen, und ihr Kopf war ein ewiges To-do-Karussell: Wäsche waschen, Rückruf beim Arzt, Bewerbung schreiben, schlafen lernen.
Sie hatte das Gefühl, alles gleichzeitig machen zu müssen – und gleichzeitig nichts wirklich zu schaffen. Ihre Tage verliefen fremdbestimmt, ihre Wochen verschwammen. Sie funktionierte, aber lebte nicht. Und je weniger sie schaffte, desto schlechter fühlte sie sich – ein Klassiker in der Spirale der Selbstüberforderung.
Bullet Journaling war für sie zuerst eine Verlegenheitsidee.
Ein „Ich probier das jetzt einfach“-Moment, als sie zufällig ein altes Notizbuch fand. Sie schrieb ihre Woche auf – nicht hübsch, nicht künstlerisch, einfach nur stichpunktartig. Montag: Spätdienst. Dienstag: Wäsche. Mittwoch: Gespräch mit der Chefin. Donnerstag: Nichts. Ein freier Abend, den sie auf einmal schwarz auf weiß sah. Und der sie erinnerte: Da ist Platz. Da ist Luft. Da ist Zeit für dich.
Nach und nach baute sie Tracker ein – nicht für Schritte oder Wasserzufuhr, sondern für Dinge wie: „Habe ich heute einmal tief durchgeatmet?“, „War ich freundlich zu mir?“, „Gab es fünf Minuten ohne Pflicht?“ Ihr Journal wurde kein kreatives Meisterwerk, aber ein psychologischer Kompass. Ein Ort, an dem sie sich selbst zuhören konnte.
Heute sagt Clara, das Bullet Journal habe ihr geholfen, sich selbst wieder zu begegnen. Ihre Überforderung ist nicht verschwunden, aber sie weiß jetzt, wo sie beginnt. Und manchmal reicht genau das, um einen Tag zu retten. Sie plant bewusster, sagt eher Nein – nicht weil sie alles im Griff hat, sondern weil sie sich selbst wieder ernst nimmt.
Und ich? Ich denke oft an Clara, wenn mein eigenes Journal wieder im Rucksack verschwindet. Es muss nicht jeden Tag perfekt sein. Es reicht, wenn es da ist, wenn man es braucht.
Die Hoffnung auf Struktur, und Selbstwirksamkeit
Bullet Journaling ist keine Erfindung von Pinterest, sondern ursprünglich ein System des US-Designers Ryder Carroll: minimalistisch, methodisch, maximal effizient. Aufgaben, Termine, Gedanken: alles bekommt ein Symbol, alles hat seinen Platz. Ein analoges Lebensarchiv für Überforderte mit Ambitionen. Aber natürlich blieb es bei mir nicht bei den puristischen Punkten. Ich wollte Farben, Sticker, Washi-Tape. Ich wollte nicht nur planen, ich wollte mich dabei auch besser fühlen. Vielleicht sogar ein bisschen hübscher scheitern.
Denn genau das passiert oft: Man beginnt motiviert, malt die erste Wochenübersicht in zwei Stunden, schreibt zehn Gewohnheiten auf, die man ab sofort täglich umsetzen möchte, und vergisst dann das Journal für zwei Wochen im Rucksack, neben der Banane. Aber anders als bei anderen Tools verurteilt einen das Bullet Journal nicht. Es wartet einfach: stumm, freundlich, und bereit, weiterzumachen.
Zwischen Linien und Leben
Ich habe auch Freund:innen, die das viel konsequenter durchziehen als ich. Zum Beispiel Jule, Lehramtsstudentin mit Hang zu Ringplanern und Farbcodes. In ihrem Bullet Journal hat jede Woche ein eigenes Farbschema, jeder Monat ein Motto: von „minimalistisch monochrom“ bis „lavendelgrüne Selbstoptimierung“. Wenn man sie fragt, warum sie das macht, sagt sie: „Weil ich sonst das Gefühl hab, nichts zu kontrollieren.“
Und genau da wird’s spannend. Bullet Journaling ist mehr als nur hübsch Notizen machen. Es ist ein Ort, an dem man sich selbst entwirren kann: Aufgaben priorisieren, Gedanken sortieren, Träume festhalten, bevor sie unter der Woche verloren gehen. Es ist Tagebuch, Kalender, Reflexion, Projektmanagement – und das alles in einem fünf Euro teuren Notizbuch.
Für wen ist das was?
Ganz ehrlich: Für jede Person, die öfter mal Dinge vergisst. Für alle, die sich nach Klarheit sehnen. Für die, die gern gestalten, und für die, die Ordnung als Form der Selbstfürsorge begreifen. Du brauchst keine teuren Stifte, keine Tutorials. Du brauchst nur ein Notizbuch, einen Stift, und die Bereitschaft, dir selbst zuzuhören.
Vielleicht fängst du mit einer einfachen Wochenübersicht an. Vielleicht mit einem Habit-Tracker für deine drei wichtigsten Routinen. Vielleicht mit einer Liste von Dingen, die du längst tun wolltest. Vielleicht mit einem Mood-Tracker, der endlich zeigt, warum du jeden Donnerstag mies drauf bist.
Mein Fazit
Ich werde nicht aufhören, zu prokrastinieren. Aber ich habe gelernt, meine Prokrastination wenigstens zu strukturieren. Mein Bullet Journal ist kein Kunstwerk, aber es erinnert mich daran, was wichtig ist. Und manchmal, ganz selten, habe ich abends das schöne Gefühl, etwas geschafft zu haben: nicht unbedingt Großes, aber etwas für mich. Und das ist ziemlich viel.
Kleiner Einstiegsguide: So beginnst du mit dem Bullet Journaling
- Nimm ein leeres Notizbuch, kein besonderes, kein teures: Es soll nicht einschüchtern.
- Starte mit einem Key (Legende): Notiere Symbole für Aufgaben (•), Termine (○), Notizen (–), Wichtiges (!), Erledigtes (✓).
- Erstelle eine Monatsübersicht mit Terminen und Deadlines: übersichtlich, gerne auf zwei Seiten.
- Gestalte eine Wochenübersicht: Platz für To-dos, Termine, vielleicht auch ein Mini-Tagebuch oder drei Dinge, die gut liefen.
- Teste Tracker, zum Beispiel für Gewohnheiten (trinken, Bewegung, Bildschirmzeit) oder Stimmungen (wie ging es dir heute?).
- Mach es zu deinem Ort – ganz egal, ob minimalistisch oder kreativ. Es geht um dich, nicht um Pinterest.
Und vor allem: Lass es unperfekt sein. Dein Journal soll dich begleiten, nicht bewerten.