Wenn dein Vater dich vergisst, bevor du erwachsen bist
Was es mit Jugendlichen macht, wenn ein Elternteil an Demenz erkrankt – und wie das Projekt KidsDem ihnen hilft, nicht verloren zu gehen
Sie sind jung.
Sie haben noch das ganze Leben vor sich.
Und plötzlich stehen sie mittendrin – in einer Rolle, für die es keinen Führerschein, keinen Kurs und kein Lehrbuch gibt:
Wenn Mama oder Papa an Demenz erkrankt, bevor du selbst überhaupt erwachsen bist.
Pubertät plus Pflege – ein emotionaler Ausnahmezustand
In der Pubertät willst du dich ausprobieren, abgrenzen, vielleicht mal auf die Nase fallen. Du willst wissen, wer du bist – und nicht dauernd überlegen, ob der Vater noch weiß, wo die Haustür ist.
Doch genau das passiert immer öfter: Etwa 30.000 bis 40.000 Menschen in Deutschland erkranken früh an Demenz, viele davon, während sie noch minderjährige Kinder haben.
Und genau diese Kinder – ja, Kinder – trifft es mit voller Wucht.
Sie erleben, wie die eigene Mutter plötzlich Dinge vergisst.
Wie der Vater sich verändert, laut wird, traurig, verwirrt.
Und manchmal wissen sie nicht, ob sie trösten oder weglaufen wollen.
Wenn Kinder zu Eltern werden – und keiner hinschaut
Wut, Schuld, Trauer, Angst, Scham – all das brodelt in ihnen, aber wohin damit?
Während Freunde über Klassenfahrten oder erste Beziehungen sprechen, müssen sie Medikamente sortieren, Arzttermine begleiten und erklären, warum der eigene Papa sich nicht mehr an den Namen der Lehrerin erinnert.
Sie übernehmen Verantwortung, obwohl sie selbst noch gehalten werden müssten.
KidsDem – weil niemand in so einer Lage allein sein sollte
Ein einzigartiges Bochumer Projekt will das ändern. KidsDem ist eine Kooperation der LWL-Universitätsklinik, der Alzheimer Gesellschaft Bochum und der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung St. Vinzenz e.V. – und es richtet sich endlich an die Jugendlichen, die viel zu oft übersehen werden.
„dEMPOWER“ heißt das neue Gruppenangebot:
Ein geschützter Raum, begleitet von Therapeut:innen, in dem junge Menschen in ähnlichen Situationen zusammenkommen, sich austauschen, sich entlasten – und lernen, dass sie nicht allein sind.
„Was dir passiert, ist nicht deine Schuld.“
Das ist einer der wichtigsten Sätze, den ein junger Mensch in dieser Situation hören kann.
„Die Kinder brauchen ein Gegenüber“, sagt Jan Hildebrand vom St. Vinzenz e.V., „jemanden, der ihre Not sieht – und ernst nimmt.“
Und genau deshalb entstehen auch Homepage und Infomaterialien, die Jugendlichen in Krisensituationen helfen sollen, Orientierung und Halt zu finden.
Denn: Demenz betrifft nie nur die erkrankte Person – sondern das ganze Familiensystem.
Das weiß auch Dr. Ute Brüne-Cohrs, die als Fachärztin in der Gedächtnisambulanz täglich erlebt, wie groß der Druck auf die Angehörigen ist – und wie schwer er auf den Schultern der Jüngsten lastet.
Was bleibt?
Wenn du jemanden kennst, der zu jung ist für solche Verantwortung, aber trotzdem Tag für Tag durchhält – dann schick ihm diesen Beitrag.
Oder einfach einen Blick. Ein ehrliches „Ich seh dich.“
Denn wer mit 15 den eigenen Vater im Pflegealltag begleitet, braucht nicht nur Hilfe – sondern auch ein bisschen Heldentum, das man nicht sehen kann.
Oder wie ich’s sagen würde:
Manche Kinder wachsen nicht – sie wachsen über sich hinaus.
Foto: Das KidsDem-Team (von links): Barbara Crombach, Alzheimer Gesellschaft Bochum, Dr. Ute Brüne-Cohrs, LWL-Universitätsklinikum Bochum, Jan Hildebrand, St. Vinzenz e.V., Jutta Meder, Alzheimer-Gesellschaft Bochum, und Petra Funke, St. Vinzenz e.V.
Quelle: Cornelius Dally | Copyright: LWL-Universitätsklinikum Bochum
Hier schreibt Jonas Weber vom Minerva-Vision-Team. Mit einer Mischung aus fundierter Forschung und einer Portion Humor vermittelt er komplexe Themen verständlich und unterhaltsam.Wenn er nicht gerade über die neuesten Erkenntnisse aus der Gehirnforschung schreibt, findet man ihn bei einem guten Espresso, auf der Suche nach dem perfekten Wortspiel oder beim Diskutieren über die großen Fragen des Lebens – zum Beispiel, warum man sich an peinliche Momente von vor zehn Jahren noch glasklar erinnert, aber nicht daran, wo man den Autoschlüssel hingelegt hat.