Gesundheit

Sorgenlos und grübelfrei


Wie der Ausstieg aus der Grübelfalle gelingt
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Ihr kennt Irene von ihrem Podcast MS-Voices und ihrem Blog hier auf Minerva-Vision. Heute aber schreibt sie über ihren Partner, einem ehemaligen Soldaten mit posttraumatischer Belastungsstörung. Jens hat soviel Schlimmes erlebt, dass er andere Patienten in der Selbsthilfegruppe mit seinen Erzählungen traumatisiert. Auch manche Psychologen halten seine Erlebnisse nicht aus. Wie hilft man so jemandem? Kann Meta-Kognition der Durchbruch werden?

Triggerwarnung:
Dieser Beitrag enthält sensible Themen wie posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), traumatische Erlebnisse und deren Auswirkungen auf Betroffene sowie ihr Umfeld. Es werden Erfahrungen eines ehemaligen Soldaten mit schweren Traumata beschrieben, die möglicherweise belastend oder retraumatisierend wirken können. Menschen, die empfindlich auf solche Themen reagieren, sollten den Beitrag mit Achtsamkeit lesen und bei Bedarf Unterstützung in Anspruch nehmen.

Sorgenlos und grübelfrei – Pffff… Als ob das so einfach wäre! Aber was, wenn es wirklich einfach ist? Das „Denken über das Denken“? Wenn es wirklich einem zutiefst verzweifelten Mann wieder auf die Beine helfen kann? Ich denke an Jens, meinen Herzensmann. 

Ehemaliger Soldat in mehreren Auslandseinsätzen.

Bis zu diesen Einsätzen hat er am eigenen Leib schon Traumata erfahren, die für ein ganzes Leben reichen. Geboren in der ehemaligen DDR. Von seinen Eltern im Alter von zwei Jahren an die Armee (NVA – Nationale Volks Armee) verkauft. Aufgewachsen im Kadettenheim. Wer bei Abendessen gelacht hat, wurde bis auf die Unterhose ausgezogen und in den Bunker gesperrt – ohne Abendessen versteht sich. Wer einem Bruder (denn das waren die Kinder, Jugendlichen und später die erwachsenen Soldaten füreinander) die Matratze zerstört und eine neue besorgt hat, weil eben jener Bruder sich nachts eingenässt und somit schwere Schläge zu befürchten hatte, wurde in den Bunker gesperrt. Ausgezogen bis auf die Unterhose; manchmal mehrere Tage lang. In diesem Fall wieder mein Jens. Weiterhin sexuelle Übergriffe – das war für die Heimleitung normales Geschäft. Ich kann gar nicht so viel kotzen, wie ich es am liebsten möchte.


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Zum Soldaten erzogen; zur Kampfmaschine ausgebildet, ohne Emotionen zu erlauben. 

Aber ich weiß bei Gott, dass er ein höchst emotionaler Mensch ist, mit einer butterweichen, sensiblen Seele. Es treibt mir wieder die Tränen in die Augen, denn ich weiß ja, wie seine Geschichte weiterging. Als junger Erwachsener auf die ersten Auslands-Kampfeinsätze geschickt. Als Scharfschütze. Jeder weiß, welche Aufgabe ein Scharfschütze hat; da bedarf es keiner weiteren Erklärung. Angola, Mosambik, Süd-Sudan und zum Schluss dann Süd-Vietnam. Innerhalb dieser Einsätze wurde seine Seele gebrochen. Und damit jeder weiß, was Soldaten brechen lässt, hier ein paar Bilder. Achtung! Es wird schlimm! Ich ertrage es, darüber zu schreiben, weil es für mich nur Bilder sind. Ich habe diese Realität nicht leben müssen. 

Bereit, der Bestie Mensch ins Auge zu blicken? Here we go …

Hängende, acht bis zehn tote Kinder in Bäumen. Frauen, die von mehreren Kämpfern vergewaltigt wurden, denen man die Brüste mit Macheten abschlug, um sie dann zu töten. Die Hilflosigkeit und Ohnmacht, die Jens empfunden haben muss, ist für uns, die nie so etwas ansehen mussten, unvorstellbar. Sein Bruder, der sein engster Freund und Vertrauter war, starb an einem offenen Bauchschuss in Jens´ Armen. Er wurde von Hubschraubern aus beschossen und rannte um sein Leben. Und zwischendrin immer Blut und die Schreie von Sterbenden. Er selbst mehrfach durch Schüsse und Stichverletzungen verletzt. Und ich rede hier nicht vom kleinen Küchenmesser zum Apfelschälen. Sein Kiefer mit einem Gewehrkolben zertrümmert. Er überlebte als einziger seiner Einheit, die aus ursprünglich acht Soldaten – Brüdern – bestand.

Es ist kein Wunder, dass Jens eine schwere PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) entwickelt hat. Einer seiner damaligen Vorgesetzten entließ ihn damals, kurz nach dem Mauerfall, aus der Armee mit den Worten: „Das ist der Preis fürs Überleben.“ Zu dem Zeitpunkt war er 23 Jahre alt.

Jeder kann sich nun vorstellen, dass Jens Albträume hat, in denen er all das wieder erlebt. 

Fast jede Nacht. Wenn ich merke, dass er unruhig wird im Schlaf und russisch spricht, dann weiß ich, dass er wieder im Geschehen ist und muss ihn wecken. Noch heute scannt er seine Umgebung ab, um drohendes Gefahrenpotential zu erkennen. Und in seinen Flashbacks watet er erneut durch Schlamm und Blut; rennt erneut um sein Leben.

Aber Jens hat nie aufgegeben! Er hat sich in psychologische Behandlung begeben. Immer und immer wieder. Aber niemand konnte ihm wirklich helfen. Jeder dieser Therapeuten, und wenn ich jeder sage, dann meine ich es auch so, wollte ihn mit konfrontierenden psychotherapeutischen Techniken heilen. Diese Sitzungen endeten immer damit, dass er auf der Rückfahrt von der Therapie sein Auto anhalten musste, um sich am Straßenrand zu erbrechen. Therapieabbruch. Flashbacks. Panikattacken. Neuer Versuch einer Psychotherapie mit einem anderen Therapeuten, der geeignet schien. Mit gleichlautendem Ergebnis. Ein wahrer Teufelskreis. Man hat Jens einfach alleine gelassen. All die Jahre. Heute ist er 57 Jahre alt.

Der Flashback

Vor sieben Monaten gipfelte das alles jedoch in einem Flashback, dessen Ausmaß Jens selbst als den schlimmsten Flashback seines Lebens bezeichnet: „So schlimm war es noch nie! Ich fühle nichts mehr. Ich kann nicht mehr. Das ist meine Strafe für die Leben, die ich genommen habe.“
Ich erlebe meinen Jens als gebrochenen Mann, voller Selbstzweifel, Hilflosigkeit und Ohnmacht. Gefangen in seiner Dunkelheit, aus der er seit sieben Monaten keinen Weg raus sieht. Höchstens mich. Er bezeichnet mich als sein Glühwürmchen in diesen dunklen Zeiten. Das Schlimme für mich ist jedoch, dass ich ihn nicht heilen kann! Ich kann ihm nur helfen, ihn unterstützen, in dem, was er braucht und für ihn da sein.


Weitere Themen:

Sein behandelnder Neurologe schickt ihn seit sieben Monaten zu diversen Therapien. 

Psychotherapie (aus dem gleichen Grund abgebrochen, wie auch die bisherigen), Entspannungsgruppen wie Chi Gong. Das empfindet Jens als positiv, denn er hat das Gefühl, zumindest wieder Kontrolle über seinen Körper zu haben. Gesprächsrunden, die ihn an die Grenzen seiner Toleranz und seiner Kraft bringen, wenn zum Beispiel in der Vorstellungsrunde von einzelnen Teilnehmern gefragt wird: „Wo liegt denn die DDR?“ Oder: „Was ist PTBS?“. Diese Runde besteht aus zehn Teilnehmern. Acht Frauen mit Depressionen – was beileibe auch kein toller Zustand ist – und einem weiteren Mann mit einer Panikstörung. Meiner Meinung nach nicht für Jens geeignet. Er fühlt sich nicht ernst genommen, also beteiligt er sich auch nicht so, wie es vielleicht wünschenswert wäre.

Aber seit vergangenen Freitag habe ich Hoffnung. 

Zum ersten Mal habe ich Hoffnung, dass Jens wirklich geholfen werden kann. Sein Neurologe hat für ihn eine Gruppe organisiert, in der Metakognitive Therapie angeboten wird. Wir beide wussten bis dato nicht, was das genau bedeutet, das „Denken über das Denken“.

Diese Entwicklung geht zurück auf Adrian Wells, geb. 1962, Professor der Klinischen und Entwicklungspsychopathologischen Psychologie an der Fakultät für Medizinische und Humanwissenschaften der University of Manchester und doziert auch an der Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität Norwegens.  

Da ich von Natur aus ein neugieriger Mensch bin, habe ich mir das Buch „Sorgenlos und grübelfrei – Wie der Ausstieg aus der Grübelfalle gelingt“, geschrieben von Dr. phil. Oliver Korn und PD Dr. med. Sebastian Rudolf, besorgt. Sie sagen, dass man mit Hilfe der Metakognitive Therapie (MCT) Menschen dazu bringen kann, ihre bisherigen Denkmodelle zu durchbrechen. Also die Art und Weise, wie Menschen in bestimmten Situationen denken und wie man die Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu lenken, einsetzen kann. Dieses Buch soll dabei helfen, die sinnvollste Strategie in der jeweiligen Situation zu wählen. Ich kann also selbst den Einsatz meines „Denkapparates“ steuern.

Hilft es, über das Denken nachzudenken?

Nachdem ich mich über die Wirkungsweise der Therapie eingelesen habe, was aufgrund der klaren und keinesfalls langweiligen Ausdrucksweise der beiden Autoren leichtfällt, habe ich mich tatsächlich in einigen Bereichen wiedererkannt. Als ich meine Diagnose Multiple Sklerose erhalten habe, hat mich das erdrückt. Ich habe mir ständig Sorgen gemacht, was wohl passieren könnte, wenn ich doch im Rollstuhl landen sollte. Was würde mit meiner Arbeit passieren, wenn ich sie nicht mehr ausführen kann, wie es erforderlich ist? Ich war in ständiger Sorge um meine Zukunft.

Durch Korn und Rudolf weiß ich jetzt, dass ich mit meinen Gedanken im Objektmodus war. 

Das bedeutet, dass wir in diesem Modus Gedanken und innere Bilder wie die Realität erleben. Im Metakognitiven Modus erlebe ich aber, dass meine Gedanken (Sorgen) eigentlich nur das sind, was sie faktisch sind: „nur“ Gedanken und die inneren Bilder. Ich trete also aus mir heraus und lerne, mich aus der Entfernung zu betrachten, als mein eigener Beobachter. Das heißt, im Metakognitiven Modus reduziere ich die emotionale Intensität meiner Gedanken und inneren Bilder. Ich habe nun die Möglichkeit, meine Gedanken aufzuschieben, für einen späteren Zeitpunkt. In meinem Fall habe ich mir (damals) rein intuitiv gesagt: „Was macht es für einen Sinn, wenn ich mir heute Sorgen über etwas mache, was vielleicht nie eintritt? Da versaue ich mir ja mein ganzes Leben!“ Ich habe mich entschieden, mir erst Gedanken über all diese Fragen zu machen, wenn sie eintreten. Zumal es ja gar nicht sicher ist, ob diese Ereignisse überhaupt eintreten.

Korn und Rudolf führen anhand vieler praxisnaher Beispiele durch die Funktionsweise unseres Denkapparates und es wird schnell klar, dass wir z.B. mithilfe von Gedankenaufschub (wie ich es für mich gemacht habe) Kontrolle über die Prozesse des Grübelns und des sich Sorgen-Machens bekommen. Durch losgelöste Achtsamkeit (also die Art und Weise, wie wir uns auf unsere Gedanken, inneren Bilder und Emotionen einlassen) erhalten wir eine flexible Kontrollmöglichkeit. Wie das geht, erklären Korn und Rudolf in Metaphern und Übungen. Gleichzeitig beleuchten Sie, was diese Übungen uns zeigen, wie man die Übungen richtig durchführt und wo die typischen Fehler liegen. Sie leiten uns mit dieser Methode an, unsere Aufmerksamkeit auf das zu richten, was wirklich wichtig ist. Da kommt dann eine spezielle Form des Aufmerksamkeitstrainings ins Spiel, das Training ATT (Attention Training Technique); ebenfalls entwickelt von Wells. Sie umfasst die selektive Aufmerksamkeit, das schnelle Verlagern von Aufmerksamkeit und die geteilte Aufmerksamkeit. Die Vorgehensweisen zur Überprüfung von positiven und negativen Metakognitionen runden für mich das Ganze ab.


Weitere Themen:

Und hier schließe ich den Kreis zu meinem Jens:

Ich bin, nachdem, was ich nun alles gelesen und gelernt habe, ÜBERZEUGT davon, dass Jens mit dieser Metakognitiven Therapie geholfen werden kann. Das wird nicht einfach, Aber er muss zumindest schon mal nicht erneut die ganzen Grauen durchleben, um seinen Therapeuten ein Bild von sich zu geben. Dieses Buch eignet sich für alle interessierten Menschen, auch wenn sie selbst diese Therapien nicht in Anspruch nehmen müssen, weil sie gesund sind.  Aber es hilft, die Gedankengänge von Betroffenen zu verstehen, so ist man in der Lage, den jeweiligen Partner zu unterstützen, da manche Übungen auch durchaus Sinn machen, wenn man sie zu zweit ausübt. Die Anwendbarkeit bei den einzelnen Störungsbildern (Depression, Generalisierte Angststörung, Soziale Phobie, Posttraumatische Belastungsstörung PTBS, Zwangsstörungen) und die weitere Anwendbarkeit bei schwerwiegenden, bösartigen und chronischen Erkrankungen wird jeweils beschrieben. Für mich ein tolles Selbsthilfebuch für alle Betroffenen zwischen den einzelnen Therapiesitzungen oder für Angehörige Betroffene.

Und Jens: Bitte gib nicht auf! Du kämpfst gerade den schwersten Kampf deines Lebens. Hol dir dein Leben zurück! Hiermit kannst du es wirklich schaffen …

Wer Irene Sybertz live hören möchte, kann dies auf ihrem Podcast: MS-Voices. Ihr findet Irene auch auf Instagram, ihr Selbsthilferatgeber für MS-Erkrankte ist in jedem Buchhandel erhältlich oder im Minervastore: “Spring, damit du fliegen kannst”. Hier geht es um ein anderes Buch: Oliver Korn – Sebastian Rudolf, Sorgenlos und grübelfrei, Wie der Ausstieg aus der Grübelfalle gelingt. Selbsthilfe und Therapiebegleitung mit Metakognitiver Therapie aus dem Beltz Verlag. Dies ist keine bezahlte Kooperation, Irene ist in ihren Beiträgen völlig frei.

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