Psychologie

„Plötzlich Eltern: Unser Leben hat sich komplett verändert“ 

Erzähl mir dein Leben:

„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.

Ein Gespräch mit einer Pflegefamilie

Pflegeeltern zu sein, ist eine der herausforderndsten und gleichzeitig erfüllendsten Aufgaben, die man übernehmen kann. Sarah (38) und ihr Mann Tom (41) haben vor zwei Jahren ein Pflegekind bei sich aufgenommen. In diesem Interview sprechen sie über die unerwarteten Herausforderungen, die emotionale Achterbahnfahrt und die Momente der Freude, die sie mit ihrem Pflegekind erlebt haben.


Sarah, Tom, vielen Dank, dass ihr bereit seid, eure Geschichte mit uns zu teilen. Wie kam es dazu, dass ihr euch entschieden habt, ein Pflegekind aufzunehmen?

Sarah:
Es war ein Prozess, der sich über Jahre entwickelt hat. Wir haben selbst keine eigenen Kinder, obwohl wir es uns sehr gewünscht haben. Nach vielen Gesprächen und einigen gescheiterten Versuchen, haben wir überlegt, wie wir unser Leben trotzdem mit Liebe und Fürsorge für ein Kind füllen könnten. Freunde von uns haben bereits Pflegekinder aufgenommen, und ihre Geschichten haben uns inspiriert. Wir haben dann immer öfter darüber nachgedacht, ob es nicht auch unser Weg sein könnte.

Tom:
Es ging uns nie darum, ein Kind zu „ersetzen“. Wir haben uns bewusst für die Rolle der Pflegeeltern entschieden, weil wir einem Kind helfen wollten, das in einer schwierigen Situation ist. Uns war klar, dass es eine Herausforderung sein würde, aber auch, dass es eine Möglichkeit war, etwas wirklich Wertvolles zu tun.

Wie habt ihr euch auf die Aufnahme eines Pflegekindes vorbereitet?

Sarah:
Es gab eine Menge Vorbereitungen. Man durchläuft einige Schulungen, in denen einem die emotionalen und praktischen Herausforderungen nahegebracht werden. Wir haben uns mit Fachleuten getroffen, um zu verstehen, was es bedeutet, ein Pflegekind aufzunehmen – und was das für das Kind bedeutet. Es wird einem klar, dass diese Kinder oft viel durchgemacht haben und dass man Geduld und ein großes Herz braucht.

Tom:
Wir haben uns auch viele Gedanken über die emotionalen Aspekte gemacht. Wir wussten, dass es nicht nur um das Anbieten eines Zuhauses geht, sondern auch um viel mehr. Ein Pflegekind bringt seine eigene Geschichte mit, und oft ist diese Geschichte schwer. Wir mussten lernen, dass das Kind Zeit braucht, um Vertrauen aufzubauen, und dass wir dieses Vertrauen nicht erzwingen können.

Wann kam euer Pflegekind zu euch, und wie war der erste Tag?

Sarah:
Unser Pflegekind, Leon, kam vor fast zwei Jahren zu uns. Er war damals sieben Jahre alt und hatte schon mehrere Platzierungen hinter sich. Der erste Tag war… überwältigend. Wir wussten, dass es schwierig werden würde, aber nichts kann dich wirklich auf den Moment vorbereiten, in dem dieses kleine, unsichere Kind vor deiner Tür steht und du plötzlich die Verantwortung trägst.

Tom:
Er war sehr still, fast schon verängstigt. Wir haben ihm sein Zimmer gezeigt, das wir mit allem ausgestattet hatten, was wir dachten, dass ihm gefallen könnte. Aber er hat sich in eine Ecke gesetzt und wollte erst mal nichts sagen. Wir haben uns Zeit gelassen und versucht, ihm das Gefühl zu geben, dass er hier sicher ist, dass er nicht sofort irgendetwas tun oder sich anpassen muss. Es war ein Tag voller Anspannung, aber auch voller Hoffnung.

Wie habt ihr es geschafft, eine Beziehung zu Leon aufzubauen?

Sarah:
Das Wichtigste war, Geduld zu haben. Wir haben schnell gelernt, dass man nichts erzwingen kann. Leon hatte viel Misstrauen und Unsicherheit, was auch verständlich war, da er schon einige negative Erfahrungen gemacht hatte. Wir haben ihm von Anfang an gezeigt, dass wir für ihn da sind, egal wie lange es dauert, bis er Vertrauen fasst.

Tom:
Anfangs war es schwer, weil er sehr zurückgezogen war und seine Gefühle nicht wirklich zeigen konnte. Aber nach und nach haben kleine Dinge einen Unterschied gemacht. Er fing an, sich uns zu öffnen – es war kein großer Moment, sondern eher viele kleine Schritte. Einmal haben wir zusammen ein Puzzle gemacht, und als wir fertig waren, lächelte er mich an. Das war für mich ein Meilenstein.

Sarah:
Es gab auch Rückschläge, besonders am Anfang. Manchmal fühlte es sich an, als ob wir zwei Schritte vor und einen zurück machen würden. Aber wir haben verstanden, dass das normal ist. Leon musste lernen, dass wir nicht gehen werden, dass wir ihn nicht im Stich lassen, egal was passiert.

Was waren bisher die größten Herausforderungen für euch als Pflegeeltern?

Sarah:
Eine der größten Herausforderungen war es, mit Leons Vergangenheit umzugehen. Er hat Dinge erlebt, die ein Kind nicht erleben sollte. Manchmal zeigt sich das in seinem Verhalten, in plötzlichen Wutausbrüchen oder Rückzugsmomenten. Das war schwer, weil wir oft nicht wussten, wie wir ihm helfen können. Ich meine – was machst du, wenn sich dein Kind vor dir aufbaut und mit den Fäusten auf dich losgeht? Noch kann er mich nicht ernsthaft verletzen, aber er wird ja größer und ich bin eher zierlich! Das sind schon so Situationen, da kocht die Angst in dir hoch. Aber wir haben eine gute Begleitung durch das Jugendamt. Leon musste lernen, sich selbst zu kontrollieren und dazu musst du reden, reden, reden und verhandeln. Manchmal denkst du, du sitzt da in einer Gewerkschaftsrunde und argumentierst, was geht und was nicht. Das geht schon an die Nerven und es ist unsagbar anstrengend. Immer dann, wenn ich glaubte, das bringt ja nie was, zeigte sich dann aber ein Erfolg. Vertrauen wächst langsam, und so ist es bei Leon auch. 

Tom:
Ein anderes Problem war der Umgang mit den leiblichen Eltern. Leon hat immer noch Kontakt zu ihnen, was gut ist, aber es bringt auch Herausforderungen mit sich. Manchmal ist es für ihn verwirrend, zwei Welten zu haben – seine leiblichen Eltern und uns. Er  musste lernen, dass es bei jeder Familie unterschiedliche Regeln gibt. Ich persönlich finde, dass ihm der Kontakt zu seinen leiblichen Eltern nicht gut tut. Alle Regeln, die wir vereinbart haben, gelten dort nicht. Als er anfing, zu lange vor dem PC zu sitzen und zu spielen, haben wir das reguliert. Er durfte nur für eine bestimmte Zeit spielen und auch erst nach den Hausaufgaben. Als er heimlich weiterspielte, bekam er zunächst eine „Verwarnung“. Also die Ansage: „Das ist so nicht vereinbart. Wenn du dich nicht daran halten kannst, werden wir den Computer aus deinem Zimmer räumen und unten ins Wohnzimmer stellen, weil wir die Zeit dann kontrollieren können“. Es kam, wie so oft. Und nun steht der Computer im Wohnzimmer. Erst gab es einen Wutausbruch, dann irgendwann die Einsicht. Man darf halt auf die Wut nicht eingehen. Wenn er aber von seinen Eltern wiederkommt, hat er dort nur vor dem Fernsehen oder dem PC gesessen. Er ist dann aufsässig und will alles neu und anders haben. Seine Eltern seien ja sowieso viel besser, heißt es dann. Und dann kommt die Angst hoch, ihn zu verlieren. Aber wenn das so sein sollte, dann ist das so. Man kann einen Menschen nicht besitzen, auch ein Kind nicht. Wir tun unser Bestes und bleiben bei unserer Linie und wir hoffen sehr, dass Leon das irgendwann schätzen kann. Wir haben gelernt, dass es hier keinen klaren richtigen Weg gibt. Es geht immer darum, was für das Kind das Beste ist, und das kann sich ständig ändern.

Gab es auch besondere Momente der Freude und des Erfolgs?

Sarah:
Oh ja, auf jeden Fall! Es gibt diese kleinen Momente, in denen man merkt, dass Leon sich sicher fühlt. Einmal kam er aus der Schule nach Hause, war ganz aufgeregt und erzählte uns von einem Test, den er gut gemacht hatte. Er sprach einfach drauflos, als wäre es das Natürlichste der Welt, seine Freude mit uns zu teilen. Das sind die Momente, die das alles so wertvoll machen.

Tom:
Für mich war ein besonders schöner Moment, als er mich eines Abends gefragt hat, ob ich ihm eine Geschichte vorlesen kann. Er hat mich vorher nie darum gebeten. Das war ein Zeichen dafür, dass er sich bei uns wohlfühlt und anfängt, uns als seine „Familie“ zu sehen, auch wenn er weiß, dass wir nicht seine leiblichen Eltern sind.

Wie hat sich euer Leben durch die Aufnahme von Leon verändert?

Sarah:
Unser Leben hat sich komplett verändert. Es ist, als hätten wir eine neue Richtung eingeschlagen. Es ist nicht immer leicht, aber Leon hat unser Leben mit so viel Liebe und Sinn gefüllt. Manchmal denke ich darüber nach, wie leer unser Leben ohne ihn gewesen wäre. Jetzt ist jeder Tag voller neuer Herausforderungen, spannend, aber auch voller Freude.

Tom:
Es hat uns als Paar auch stärker gemacht. Wir müssen als Team funktionieren, uns gegenseitig unterstützen und lernen, gemeinsam mit den Herausforderungen umzugehen. Es ist nicht immer einfach, aber wir wissen, dass wir das zusammen schaffen. Leon hat unser Leben bereichert, und wir bereuen keine Sekunde, diesen Weg eingeschlagen zu haben.

Was würdet ihr anderen Menschen raten, die darüber nachdenken, Pflegeeltern zu werden?

Sarah:
Seid euch bewusst, dass es kein einfacher Weg ist. Ihr müsst Geduld haben, bereit sein, viel zu lernen, und ihr dürft keine schnellen Ergebnisse erwarten. Aber wenn ihr bereit seid, einem Kind eine Chance auf ein neues Leben zu geben, dann ist es das wertvollste Geschenk, das ihr euch selbst und dem Kind machen könnt.

Tom:
Es ist wichtig, realistisch zu sein. Pflegekinder bringen oft viel emotionales Gepäck mit, und man muss bereit sein, sie durch diese schwierigen Zeiten zu begleiten. Aber wenn man das tut, kann man eine unglaubliche Verbindung aufbauen und einem Kind Stabilität und Liebe geben, die es vielleicht nie zuvor erfahren hat.

Vielen Dank, Sarah und Tom, für eure Offenheit und dafür, dass ihr eure Erfahrungen mit uns geteilt habt.

Sarah:
Gern geschehen. Wir hoffen, dass unsere Geschichte anderen Menschen Mut macht, über diesen Weg nachzudenken.

Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:

Pflegeelternschaft ist ehrenvoll.

Machmal  muss man einen Preis zahlen, sonst wäre es ja keine Ehre. Sarahs und Toms Geschichte zeigt, dass die Pflegeelternschaft eine Herausforderung ist, die viel Hingabe erfordert. Ich erlebe es so oft, dass gerade der Kontakt zu den leiblichen Eltern eine Bruchstelle ist. Die leiblichen Eltern wollen sich in der kurzen Zeit natürlich von ihrer besten Seite zeigen und erlauben dem Kind alles, was es möchte. Und oft spielt auch die Eifersucht auf die Pflegeeltern eine Rolle. Es ist ja immer noch „ihr“ Kind – und dann wird schnell im Hintergrund intrigiert, das Kind wird instrumentalisiert und gegen die Pflegeeltern aufgehetzt. Gerade in der Pubertät kann das für die Kinder zu einer Zerreißprobe führen. Die Pubertät dient ja dazu, sich von den Eltern abzulösen und dann das eigene Ich zu entwickeln. Die Hormone fahren Achterbahn, das sexuelle Interesse erwacht und es kommt unter den Gleichaltrigen zu Konkurrenz- und Rivalitätsverhalten. Das ist schon für biologische Eltern-Kind-Beziehungen eine Herausforderung. Für ein Pflegekind und seine Bezugspersonen ist diese Phase jedoch nochmal viel härter. Leon muss sich doppelt abnabeln und muss sich dann fragen, was in ihm ist und nach welchen Regeln er zukünftig leben möchte. Parallel dazu haben sowohl Eltern, als auch Pflegeeltern die Angst, das Kind ganz zu verlieren. Das kann ins Chaos führen. In einem solchen Fall ist es extrem hilfreich, wenn man von Anfang an für das Kind eine weitere unabhängige Instanz installiert. Ein Therapeut, aber auch ein einfühlsamer Kinderarzt kann dem Kind als dritte Instanz dienen. Es muss eine dritte Person ohne Eigeninteresse sein, die Leon sein ganzes Leben begleitet hat. Sie kann hier ein Rettungs-Anker sein. Hier kann Leon sich öffnen, über alles reden und sicher sein, nicht beeinflusst zu werden. Das Ziel ist, dass Leon zu einem erwachsenen Mann heranreift, der gute Beziehungen zu beiden Elternpaaren eingehen kann, weil er seine Werte kennt. Ich habe übrigens für meine Kinder ebenfalls eine dritte Instanz installiert. Bei uns ist es eine Heilpraktikerin, die die Kinder neben dem Kinderarzt naturheilkundlich begleitet hat. 

Sie diente bereits als Ratgeber bei Schulproblemen, also Dingen, die die Kinder ungern mit mir besprechen wollten. Ich umgekehrt bin das Gleiche für ihre Kinder. Der Vorteil ist, wenn man eine solche Person von Anfang an im Leben der Kinder integriert, weiß man, dass sie auch einen guten Ratschlag bekommen. Das Wohl der Kinder meiner Heilpraktikerin liegt mir am Herzen und ich weiß, dass es umgekehrt genau so ist.   

Genau darin liegt die Stärke einer solchen „dritten Instanz“ – sie ist unbefangen und frei von den emotionalen Verstrickungen, die Eltern oft unbewusst in das Leben ihrer Kinder hineintragen. Eltern, so gut sie es auch meinen, haben immer eine eigene Agenda, sei es der Wunsch, das Kind zu schützen, es in eine bestimmte Richtung zu lenken oder einfach aus Angst, etwas falsch zu machen. Eine dritte Person kann hier als neutraler Boden dienen, auf dem das Kind oder auch der Jugendliche seine Gedanken, Ängste und Fragen offen aussprechen kann, ohne befürchten zu müssen, dass es zu Spannungen oder Missverständnissen kommt.

Es ist wichtig, dass diese Person wirklich eine langfristige Rolle im Leben der Kinder spielt, sie also nicht nur bei akuten Problemen zur Verfügung steht, sondern auch in ruhigeren Zeiten präsent ist. So entsteht eine tiefe, vertrauensvolle Beziehung, die nicht auf schnellen Ratschlägen oder oberflächlicher Problemlösung basiert, sondern auf dem Wissen, dass man sich über viele Jahre hinweg kennt. Gleichzeitig ist es auch eine Art Sicherheitsnetz für die Eltern. Das ist besser, als wenn die Kinder auf sich allein gestellt sind und sich in einer ohnehin labilen Phase an irgendeinen selbsternannten Tiktok-Guru wenden. Solche Menschen, die binnen weniger Sekunden eine ganze Generation von Jugendlichen beeinflussen kann, sind ein reales Risiko. In einer Zeit, in der soziale Medien oft mehr Einfluss haben als Familie und Freundeskreis, brauchen Kinder verlässliche, authentische Bezugspersonen, die ihnen helfen, den Unterschied zwischen gut gemeintem Rat und manipulativen Tricks zu erkennen. Wenn wir als Eltern oder Pflegeeltern darauf achten, solche neutralen Vertrauenspersonen frühzeitig in das Leben unserer Kinder zu integrieren, geben wir ihnen die Möglichkeit, in der Flut von Informationen und Meinungen einen festen Anker zu haben – jemanden, der sie nicht verurteilt, nicht lenken will, sondern ihnen Raum gibt, sich selbst zu finden. Damit machen wir den Kindern das Leben leichter, uns aber auch. 

Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.

Teilen
×