Psychologie

„Mit dir bin ich fertig.“ – Und was Laura darauf antwortete

Erzähl mir dein Leben:

„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.


In Erzähl mir dein Leben spricht Laura darüber, wie sie sich aus der Kontrolle ihres Vaters gelöst hat und warum echte Stärke manchmal ganz leise ist.

Minerva Vision:
Laura, du hast lange gebraucht, um zu verstehen, was in der Beziehung zu deinem Vater eigentlich schieflief. Kannst du uns mitnehmen?

Laura:
Ich bin mit dem Gefühl groß geworden, nicht richtig zu sein. Ich war sensibel, habe viel gefragt, war schnell verunsichert. Mein Vater war das komplette Gegenteil: laut, direkt, hart. Und wenn es irgendwo knirschte – sei es in der Schule, mit Freunden oder mit meiner Mutter – war seine Art zu helfen: Druck machen. Schocken. So hat er es selbst genannt.


Minerva Vision:
Was meinst du mit „schocken“?

Laura:
Ich habe das lange nicht verstanden. Erst vor ein paar Monaten habe ich ihn dabei beobachtet, wie er meinem Bruder einen Ratschlag gab. Es ging um eine Baustelle, irgendein Missverständnis mit einem Kollegen. Mein Vater sagte:
„Du musst die Leute schocken. Die müssen sich erschrecken. Das ist wichtig. Dann zucken die zusammen – und strengen sich mehr an.“ Und in dem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Genau so war er immer mit mir umgegangen.


Minerva Vision:
Wie hast du das früher erlebt?

Laura:
Ich dachte, ich sei nicht gut genug. Ich dachte, ich sei schwierig. Ich hatte oft ein schlechtes Gewissen, ohne zu wissen, warum. Und wenn ich schlechte Noten hatte – hatte ich Angst vor einem Gewitter. Vor diesen Momenten, in denen er explodierte. Seine Art, mit Fehlern umzugehen, war Einschüchterung. Druck. Er fixierte mich mit diesem stahlharten Blick, wurde ganz ruhig – aber eiskalt. Dann kam die „Analyse“. Er stellte nur eine Frage:
„Woran lag es?“
Und es gab nur eine akzeptierte Antwort: Es war meine Schuld. Ich hatte nicht genug getan.
Alles andere – schlechte Lehrer, zu viel Stoff, ein Blackout – galt nicht. Ich war schuld. Punkt.
Und dann sagte er den Satz, den ich bis heute auswendig kenne:
„Dann weißt du ja, was du zu tun hast.“
Das war seine Art von Erziehung: keine Umarmung, kein Trost – sondern Leistungsdruck, als Mittel zur Kontrolle. Ich war froh, wenn ich in mein Zimmer verschwinden konnte.


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Minerva Vision:
Was hat das mit deinem Selbstbild gemacht?

Laura:
Ich habe lange gedacht, dass ich immer noch mehr tun muss. Noch genauer sein. Noch besser. Ich war hart zu mir selbst. Weil ich glaubte, dass ich sonst wertlos bin. Es hat Jahre gedauert, bis ich begriffen habe, dass mein Wert nichts mit Leistung zu tun hat. Heute sage ich mir manchmal ganz bewusst: Ich bin genug. Auch wenn ich nicht perfekt bin. Und ich meine das nicht als Spruch – sondern als Erlaubnis.


Minerva Vision:
Wie fühlt sich Erfolg heute für dich an?

Laura:
Früher war Erfolg Erleichterung: Puh, kein Ärger. Alles richtig gemacht. Ich hatte auch sehr große Versagensängte. Erfolg bedeutete: unauffällig durchkommen.
Heute ist Erfolg für mich etwas ganz anderes. Er ist leise. Ich meine, ich bleibe ja ich – egal, ob ich gewinne oder verliere.


Minerva Vision:
Gab es einen Wendepunkt – oder jemanden, der dir geholfen hat, diesen Weg zu gehen?

Laura:
Ja, mein Mann.
Er hat mir gezeigt, dass es auch anders geht. Dass man sich nicht verstellen muss, um geliebt zu werden. Er hat so eine Art inneres Kind – und spielt das Leben. Mit Leichtigkeit, mit Neugier. Das war am Anfang fremd für mich, fast irritierend. Ich war am Anfang sogar empört. Aber irgendwann habe ich gemerkt: Ich darf das auch. Nicht alles kontrollieren. Nicht immer stark sein.


Minerva Vision:
Wie reagiert dein Vater darauf?

Laura:
Er verachtet es. Diese Leichtigkeit, dieses Spiel mit dem Leben – das ist für ihn Schwäche. Unnütz. Unprofessionell.
Ich glaube, in seinen Augen bin ich weich geworden. Und das ist für ihn gleichbedeutend mit Versagen.
Aber weißt du was? Ich kann ihm heute entgegentreten. Ich setze Grenzen – ruhig, aber klar.
Er versucht es trotzdem manchmal noch. Versucht, mich zu schocken, wie früher. Kürzlich sagte er – ganz ruhig, mit diesem durchdringenden Blick:
„Mit dir bin ich ja schon seit Langem fertig.“
Früher hätte mich das innerlich zerrissen. Heute blieb ich ganz still und war innerlich ganz ruhig. Und sagte nur:
„Ich weiß.“
Ich habe das nicht gesagt, um stark zu wirken. Ich war einfach bei mir und es war auch die Wahrheit. Klar weiß ich, dass er mit mir durch ist, weil ich anders bin, als er das will. Es ist einfach nur die Wahrheit. Und ich glaube zum ersten Mal war er derjenige, der sich erschrocken hat. Aber das war mir herzlich egal.

Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:

„Du bist frei!“

Laura erzählt von einem Vater, der aus seiner Sicht wohl das Beste wollte – aber nur das kannte, was er selbst erlebt oder für richtig gehalten hat: Härte. Kontrolle. Disziplin. Seine Überzeugung: Nur wer „zusammenzuckt“, strengt sich wirklich an. Das ist eine weit verbreitete Vorstellung – vor allem unter Männern, die nie lernen durften, wie man mit Verletzlichkeit liebevoll umgeht. Doch was dabei verloren geht, ist die Beziehung und die Selbstachtung.

Aber das Beeindruckende an Lauras Geschichte ist, wie sie diesen Kreislauf durchbricht. Sie spürt heute ihre eigenen Grenzen. Sie erkennt die alten Muster und reagiert nicht mehr automatisch darauf. Das ist die Arbeit mit dem „Sonnenkind“: dem inneren Anteil, der weiß, dass er liebenswert ist, auch ohne Leistung, auch ohne Angst.

Dass Laura auf den Satz ihres Vaters – „Mit dir bin ich ja schon lange fertig“ – ruhig antwortet mit „Ich weiß“, zeigt, wie stabil ihr inneres Fundament inzwischen geworden ist. Es ist ein entscheidender Satz und ich bin ehrlich gesagt aufgesprungen und habe die Faust geballt, als sie es mir erzählte. Yes! Es ist nämlich nicht mehr oder weniger als der Grundstock ihrer Freiheit. Sie braucht seine Anerkennung nicht mehr, weil sie gelernt hat, sich selbst zu erkennen. Und das ist der Kern von Selbstwert. So unendlich kostbar, so leicht zu zerstören. Die gute Nachricht: Was Laura geschafft hat, können wir alle. Und dann? Ändert sich alles. Dann können wir Beziehungen neu gestalten. Mit unseren Kindern. Mit unseren Partnern. Und sogar mit unseren Eltern.

Und die schlechte? Hat die Beziehung zu einem solchen Vater überhaupt noch eine Chance?

Ja – aber vielleicht nicht so, wie wir es uns als Kind einmal gewünscht haben. Viele Menschen hoffen, dass sich der Vater (oder die Mutter) irgendwann verändert, sich entschuldigt, Verantwortung übernimmt. Das ist ein verständlicher Wunsch. Aber oft bleibt diese Veränderung aus. Gerade Menschen, die emotional hart geworden sind, haben große Schwierigkeiten, ihre Muster zu hinterfragen, weil sie dann auch an ihre eigenen Verletzungen müssten. Und das vermeiden viele ihr Leben lang. Ich würde an Lauras Stelle nicht mit Reue oder einer Entschuldigung rechnen. Trotzdem kann die Beziehung eine neue Form finden. Die Frage ist nicht, ob der Vater sich ändert. Die Frage ist: Kannst du, Laura, dich in seiner Gegenwart anders verhalten, ohne dich zu verlieren?

Wenn du dich nicht mehr kleinmachen musst. Wenn du nicht mehr auf seine Abwertung hereinfällst. Wenn du ruhig bleiben kannst, auch wenn er versucht, dich zu provozieren. Dann entsteht eine neue Dynamik. Und manchmal, ganz manchmal, merkt der andere das. Vielleicht sogar dein Vater. Und wenn er bleibt, wie er ist? Tja, das Leben ist kein Wunschkonzert. Und Väter sind keine Wunschfiguren aus einem Feelgood-Film. Aber es ist auch eine Art Ritterschlag. Denn es zeigt: Du brauchst seinen Applaus nicht mehr, um zu wissen, dass du auf der Bühne des Lebens richtig stehst. Und dann sagen solche Väter sowas wie: „Mit dir bin ich fertig.“ Was ja eigentlich ein Kompliment sein könnte, wenn man’s von der anderen Seite betrachtet. Weil es bedeutet: Du bist gewachsen. Aber er bleibt stehen.

Vielleicht merkt er es, vielleicht nicht. Aber eines bleibt trotzdem zurück:
Deine Freiheit.

Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.

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