Hilfe, mein Sohn will nichts mehr von mir wissen
Erzähl mir dein Leben:
„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.
„Er hat mir nie verziehen.“
Ein Gespräch mit Ilona, 58, über den schmerzhaften Kontaktabbruch zu ihrem Sohn – und die Last der Vergangenheit
Minerva Vision: Ilona, möchtest du erzählen, was passiert ist?
Ilona: Es fällt mir nicht leicht, darüber zu sprechen. Aber vielleicht hilft es jemandem, der Ähnliches durchmacht. Mein Sohn, Timo, ist heute 32 Jahre alt. Vor drei Jahren hat er den Kontakt zu mir komplett abgebrochen. Ohne Erklärung, ohne Abschied. Doch ich weiß, warum: Er kann mir nicht verzeihen, dass ich früher getrunken habe.
MV: Wann begann deine Alkoholsucht?
Ilona: Es hat sich schleichend entwickelt. Mein Mann hat mich verlassen, da war Timo zehn Jahre alt. Ich war überfordert mit allem – dem Alleinsein, den Sorgen, dem Alltag. Am Anfang waren es nur ein paar Gläser Wein am Abend. Einfach, weil ich so alleine war und irgendetwas brauchte. Entspannung, Leichtigkeit – und das Gefühl, mir etwas zu gönnen. Ich schlief leichter ein und dachte, mir tut es gut. Doch irgendwann wurde daraus eine Flasche, dann zwei. Nachher habe ich mittags angefangen, den Wein wie Wasser zu trinken. Machen die in Frankreich doch auch so, dachte ich noch. Ich habe zwar gemerkt, wie sehr ich abrutsche – aber ich habe mir selbst eingeredet, dass alles normal war. Und Timo musste das alles mit ansehen.
MV: Wie hat sich das auf eure Beziehung ausgewirkt?
Ilona: Ich dachte lange, ich hätte es im Griff. Aber ich war oft nicht ansprechbar, gereizt, unzuverlässig. Ich habe wichtige Dinge vergessen – Elternabende, sein Fußballspiel, manchmal sogar, Essen zu machen. Ich habe ihn nie geschlagen oder angeschrien, aber ich war nicht da. Nicht wirklich. Und er hat natürlich versucht, die Situation zu tarnen. Er hat nie Freunde mit nachhause gebracht, weil er nicht wusste, in welchem Zustand ich war. Er war ein ruhiges Kind, in sich gekehrt und es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke, was ich ihm alles genommen habe. Weil ich zu schwach war. Aber ich war die Erwachsene, es war mein Job, sich um ihn zu kümmern. Stattdessen hat er sich um mich gesorgt. Und das Schlimme war – ich habe das sogar genossen.
„Ich habe mein Leben geändert – aber für ihn zählt das nicht.“
MV: Wann hast du aufgehört zu trinken?
Ilona: Es gab viele Momente, in denen ich hätte aufhören sollen. Aber es war ein einziger Tag vor 8 Jahren, der alles verändert hat. Timo war damals 24 und besuchte mich an Weihnachten. Ich war wieder einmal betrunken. Er stand vor mir, sah mich an – und in seinem Blick lag nur noch Enttäuschung. Keine Wut, kein Flehen, nichts. Er sagte nur: ‚Mama, du wirst dich nie ändern.‘ Dann drehte er sich um und ging. Da wusste ich: Wenn ich nicht sofort aufhöre, verliere ich ihn für immer. Am nächsten Morgen bin ich in die Klinik gegangen. Ich wusste, dass ich es alleine nicht schaffe. Ich wollte es diesmal wirklich – nicht nur für ihn, sondern auch für mich. Es war der schwerste und beste Schritt meines Lebens. Aber ich habe ihn zu spät gemacht. Seitdem habe ich keinen Tropfen mehr angerührt. Ich habe eine Therapie gemacht, mich mit meiner Vergangenheit auseinandergesetzt. Ich wollte alles wiedergutmachen.
MV: Hat dein Sohn dir eine zweite Chance gegeben?
Ilona: Anfangs schon. Als ich trocken wurde, hat er mich besucht. Wir hatten ein paar schöne Momente, doch er war immer auf Distanz. Dann wurde er Vater – und da hat er endgültig einen Schlussstrich gezogen. Er sagte, er wolle mich nicht in der Nähe seines Kindes haben. Dass er keine Oma braucht, die früher betrunken in der Ecke lag.
„Ich kann die Vergangenheit nicht ändern.“
MV: Wie gehst du mit der Situation um?
Ilona: Es gibt Tage, an denen es mich zerreißt. Ich habe ihm Briefe geschrieben, ihn um Vergebung gebeten. Ich habe alles versucht, aber er will nichts mehr von mir wissen. Er sagt, dass ich ihm seine Kindheit gestohlen habe. Und vielleicht hat er recht.
MV: Glaubst du, dass er irgendwann zurückkommen wird?
Ilona: Ich hoffe es. Aber ich habe gelernt, dass ich nichts erzwingen kann. Ich lebe mein Leben weiter – trocken, klar, aufrecht. Vielleicht wird er eines Tages merken, dass ich mich wirklich geändert habe. Vielleicht nicht. Aber die Tür bleibt offen.
„Ich liebe ihn. Und das wird sich nie ändern.“
MV: Was möchtest du anderen Eltern in einer ähnlichen Situation sagen?
Ilona: Dass Schuld ein schweres Gepäck ist, aber man sie nicht ewig mit sich herumschleppen kann. Wer Fehler gemacht hat, kann sie nicht ungeschehen machen – nur daraus lernen. Und dass Kinder, wenn sie sich abwenden, nicht unbedingt hassen, sondern sich einfach schützen wollen.
MV: Was würdest du deinem Sohn sagen, wenn er heute vor dir stünde?
Ilona: Dass ich ihn liebe. Und dass sich das nie ändern wird.
Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:
Timo hat als Kind Dinge erlebt, die ihn geprägt haben. Eine alkoholabhängige Mutter zu haben, bedeutet oft Unsicherheit, Angst und emotionale Vernachlässigung. Kinder von suchtkranken Eltern lernen früh, Verantwortung zu übernehmen, sich selbst zu schützen und ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. Wenn sie erwachsen sind, kann es sein, dass sie sich aus Selbstschutz distanzieren – weil die alten Wunden zu tief sind oder weil sie Angst haben, wieder enttäuscht zu werden.
Aber Menschen können sich ändern. Ilona hat sich ihr Problem eingestanden, sich Hilfe geholt und ist seit acht Jahren trocken. Sie hat Verantwortung übernommen und alles versucht, um die Beziehung zu retten. Dass Timo ihr dennoch nicht verzeihen kann oder will, zeigt, wie tief seine Verletzung sitzt – aber auch, dass Vergebung keine Pflicht ist.
Ist Timo also zu hart? Vielleicht. Vielleicht nicht. Seine Reaktion ist aus seiner Sicht verständlich, aber aus Ilonas Perspektive auch schmerzhaft. Er hat jedes Recht, seine Grenzen zu setzen. Gleichzeitig wäre es schön, wenn er irgendwann bereit wäre, zu sehen, dass seine Mutter heute nicht mehr die Frau ist, die ihn damals verletzt hat. Letztendlich geht es hier nicht um Schuld, sondern um Heilung – für beide Seiten. Und vielleicht braucht Timo einfach noch Zeit, um diesen Schritt zu gehen.
Man sagt, Zeit heilt alle Wunden. Das stimmt nicht. Zeit schiebt sie nur tiefer in die Haut, bis man sich an den Schmerz gewöhnt hat. Ilona lebt ihr Leben weiter. Sie trinkt nicht mehr. Sie hat ein kleines Café, eine Katze, eine Handvoll guter Freunde. Aber die Frage bleibt: Gibt es noch etwas, das sie tun kann? Was bleibt, wenn Vergebung nicht kommt?
Mein Rat: Die Tür offenlassen, aber loslassen. Timo weiß, dass sie ihn liebt. Sie hat es oft genug gesagt. Mehr kann sie nicht tun. Vielleicht kommt er zurück. Vielleicht nicht. Beides muss sie akzeptieren. Ja, es ist schade, dass er ihr zur Zeit nicht vergeben kann – aber sie hat kein Anrecht darauf. Manche Dinge wiegen für Menschen so schwer, dass sie eben nicht vergeben werden können. Und trotzdem geht jeden Morgen die Sonne auf und dein Leben geht weiter. Das Einzige, was jetzt hilft ist, sich selbst zu vergeben. Die härteste aller Lektionen. Aber sie ist nötig. Denn wenn man sich selbst nicht verzeiht, bleibt man gefangen in einer Schuld, die niemand mehr einfordert. Timo dürfte es nicht helfen, wenn sie sich martert. Darum geht es den meisten Kindern auch nicht, die ihre Eltern verlassen haben. Sie machen das nicht, um ihre Eltern zu strafen – sie tun das für sich. Am Besten führt Ilona nun ein Leben, das zeigt, dass Veränderung möglich ist. Nicht für ihn. Für sich selbst. Denn was, wenn er eines Tages zurückkommt? Dann sollte er eine Mutter vorfinden, die nicht in Schuld versinkt, sondern in sich ruht. Gefestigt. Weise. Weil sie weiß, dass das Leben auch Schattenseiten hat.
Ilona sagt, sie schreibt ihm jedes Jahr eine Geburtstagskarte. Ohne Erwartung. Ohne Forderung. Nur ein schlichtes: “Ich bin hier.” Und vielleicht, eines Tages, wird er das lesen – und verstehen.
Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.