Psychologie

„Er sitzt auf der Couch – ich mähe den Rasen im achten Monat“

Erzähl mir dein Leben:

„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.


Ein Interview mit Leonie (34), in der 34. Schwangerschaftswoche

Minerva-vision.de:
Leonie, du bekommst in wenigen Wochen dein erstes Kind. Herzlichen Glückwunsch – auch wenn der Anlass dieses Gesprächs leider ein anderer ist. Was belastet dich?

Leonie:
Danke. Ja, eigentlich sollte das eine schöne Zeit sein, aber ehrlich gesagt bin ich gerade nur erschöpft. Körperlich und emotional. Ich bin im achten Monat, ich kann kaum noch schlafen, meine Füße sind geschwollen, und trotzdem muss ich den Rasen mähen. Weil mein Freund Heuschnupfen hat. Während ich mit dem Mäher durch den Garten wuchte, liegt er drinnen auf der Couch und schaut mich schlecht gelaunt an. Er fühlt sich gestört. Von mir.

Minerva-vision.de:
Wie rechtfertigt er sein Verhalten?

Leonie:
Er sagt, ich übertreibe. Dass er halt so ist. Dass er sich zu nichts zwingen lassen will. Neulich meinte er wortwörtlich: „Ich kann nichts dafür, dass du schwanger bist.“ Ich war sprachlos. Das ist ja so herzlos. Ich meine, ich trage unser Kind. Er schaut nur zu. Dann kann er mir doch wenigstens die schwere Arbeit abnehmen! Aber nichts da!

Minerva-vision.de:
Hat er sich früher anders verhalten?

Leonie:
Nicht so deutlich. Er war schon immer bequem, aber da war auch viel Charme, viel „Ich bin halt ein bisschen eigen“. Und ich habe vieles von unserem gemeinsamen Haushalt übernommen, einfach weil es mir wichtiger war als ihm und weil ich es konnte. Ich war fit, ich habe gerne organisiert. Aber jetzt, wo ich wirklich Hilfe bräuchte, wenn ich atemlos in der Küche stehe, merke ich, wie egoistisch er ist.

Minerva-vision.de:
Wie fühlst du dich damit – auch mit Blick auf die Zukunft?

Leonie:
Wütend, verzweifelt, einsam. Ich weiß nicht, ob ich mir meinen Partner wirklich klug ausgewählt habe. Ich habe ihm gesagt, dass sich etwas ändern muss. Seine Reaktion? Schulterzucken. Er glaubt mir nicht, dass ich ihn verlasse. Wir sind schon ewig zusammen und ich habe ja immer alles gemacht.

Minerva-vision.de:
Was hält dich noch?


Weitere Themen:

Leonie:
Die Hoffnung, dass das Kind vielleicht etwas in ihm bewegt. Oder wenigstens in mir den Mut stärkt, Konsequenzen zu ziehen.

Und weißt du was? Ich kann gerade sowieso nur eines: Erst einmal dieses Kind zur Welt bringen. Mehr geht nicht. Ich bin so erschöpft, körperlich und seelisch. Ich habe keinen Nerv mehr für Diskussionen, keine Energie für Veränderungsgespräche, keine Kraft, ständig enttäuscht zu werden. Ich bin einfach fassungslos. Und trotzdem bleibt gerade nur dieser eine Gedanke: Jetzt kommt das Baby. Und dann sehe ich weiter.

Minerva-vision.de:
Glaubst du, er begreift, was auf dem Spiel steht?

Leonie:
Ich glaube, tief drin weiß er es, aber er reagiert darauf mit Trotz. Wie ein Kind, das mit verschränkten Armen dasitzt und sagt: „Ich lasse mir nichts sagen.“ Es ist fast so, als würde allein meine Erwartung, dass er etwas beiträgt, ihn provozieren. Dabei geht es doch nicht um Heldentaten. Ich brauche keinen Ritter, ich brauche einen Menschen, der Verantwortung übernimmt. Der mit anpackt. Einen Partner.

Aber stattdessen bekomme ich dieses mürrische Schweigen, weil es nicht nach seinem Kopf geht. Wenn das Kind da ist, wird sich auch nicht mehr alles um ihn drehen, sondern um das Kind. Und ich verstehe es nicht. Ich bin diejenige, die ein Baby austrägt, die nachts nicht mehr durchschläft, die allein im Garten steht und den Rasen mäht und er sitzt drinnen, als hätte er das schwerere Leben. Ich kann gerade nur eines machen: dieses Kind bekommen. Alles andere muss warten.

Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach: Der Partner als Kind – und die Frau als Mama?

Was Leonie erlebt, ist mehr als ein persönliches Drama. Es ist ein Beziehungsmuster, das sich in vielen Partnerschaften zeigt – oft schleichend, oft unerkannt: Eine emotionale Umkehr der Rollen. Während sie ein Kind austrägt, verhält sich ihr Partner selbst wie eines – trotzig, passiv, ablehnend gegenüber jeder Verantwortung. Und sie? Muss nicht nur sich selbst versorgen, sondern auch ihn mitdenken, mitschleppen, mit aushalten.

Solche Konstellationen entstehen, wenn einer der Partner tief in sich ungelöste Kindheitsprägungen mit sich trägt – etwa das Gefühl, nur dann etwas wert zu sein, wenn man „in Ruhe gelassen wird“, oder umgekehrt: nur dann gesehen zu werden, wenn man bedürftig ist. Der Mann in Leonies Geschichte wirkt, als hätte er nie gelernt, dass Nähe auch Verantwortung bedeutet. Für ihn wird Zuwendung schnell zur Bedrohung – und jede Erwartung an ihn zur Zumutung. Also zieht er sich zurück, in Trotz und Widerstand.

Das innere Kind sagt: „Ich will nicht müssen.“ Und das führt dazu, dass er nicht will, obwohl er längst sollte – als Vater, Partner, erwachsener Mensch.

Und Leonie? Steckt in der Falle des „funktionierenden Erwachsenen“. Sie ist stark, sie übernimmt – und fühlt sich gleichzeitig erschöpft, fassungslos und allein. Ihr inneres Kind wünscht sich nichts sehnlicher als Geborgenheit und Rückhalt – bekommt aber das Gegenteil: Ablehnung, Passivität, emotionale Kälte.

Was jetzt wichtig ist: Die Realität klar anzusehen. Ohne Illusionen. Leonie hat völlig recht, wenn sie sagt: „Erstmal bekomme ich dieses Kind – und dann sehe ich weiter.“ Denn genau darum geht es: Sich selbst wieder in den Mittelpunkt stellen. Nicht als Trotzreaktion, sondern als Akt der Selbstachtung.

Ein Kind zu bekommen ist eine existentielle Erfahrung. Und in dieser Zeit zeigt sich oft brutal deutlich, wie tragfähig eine Beziehung wirklich ist. Wenn dein Partner dich nicht sieht, wenn du verwundbar bist – wann dann?

Mein Rat: Hör auf dein Bauchgefühl. Nicht nur im wörtlichen Sinn, sondern emotional. Was du gerade spürst, ist nicht „hormonell“, sondern wahr. Und du darfst dieser Wahrheit trauen.

Denn: Du bist nicht zu viel. Du bist genau richtig – nur vielleicht am falschen Platz.

Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.

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