
„Wenn das eigene Kind keine Einladung bekommt“
Erzähl mir dein Leben:
„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.
„Ich habe für mein Kind so getan, als wäre es mir egal. Und es hat mich innerlich zerrissen.“
Ein Gespräch mit Nora, 41, warum es so weh tut, wenn das eigene Kind ausgeschlossen wird.
MINERVA-VISION: Nora, erzähl uns, was passiert ist.
Nora W.: Es war ein Freitagmorgen. Kita-Flur. Ich sehe die Umschläge in den Rucksäcken. Bunt, mit Tieren drauf, manche mit Stickern. Die Mutter von Paul verteilt sie wie Bonbons. Ich lächle geübt, sage sowas wie „Ach, du bist ja fleißig heute.“ Aber innerlich weiß ich längst: Mein Kind ist nicht eingeladen. Nicht zur Party, nicht zum Ausflug, nicht in diesen inneren Kreis, der irgendwie alles zu sein scheint in diesem Alter. Und in unserem Dorf.
Wie hast du dich in dem Moment gefühlt?
Klein. Ich fühlte mich wie damals in der achten Klasse, als ich die einzige war, die nicht zum Mädchenabend durfte. Ich war plötzlich nicht mehr Mutter, sondern wieder das verletzte Kind von damals. Es war Scham, Wut, Hilflosigkeit. Und dann kam sofort dieser Gedanke: Was ist mit meinem Kind? Ist er nicht nett genug? Laut? Anders? Oder liegt es an mir? In solchen Momenten machen sich Abgründe auf – und keiner sieht sie.
Hast du es deinem Kind gesagt?
Nein. Er hat irgendwann selbst gefragt. Ob es stimmt, dass Leo Geburtstag feiert. Und warum er nicht eingeladen ist. Ich habe geschluckt. Habe gesagt: „Manchmal feiern Menschen einfach im kleinen Kreis.“ Das war meine Erwachsenen-Version von: „Ich hab keine Ahnung, warum.“ Ich wollte ihn nicht belasten. Und gleichzeitig hat es mich innerlich zerrissen. Ich habe für ihn getan, als wäre es mir egal – aber es war mir alles andere als egal.
Wie hast du selbst reagiert – nach außen hin?
Ich war freundlich. Wahrscheinlich zu freundlich. Ich habe der Mutter sogar beim Rausgehen noch geholfen, eine Tüte zu tragen. Nicht, weil ich nicht wütend war – sondern weil ich tief drin gehofft habe, wenn ich nur nett genug bin, bin ich nächstes Mal vielleicht wieder drin. Wie absurd das ist, weiß ich jetzt. Damals fühlte es sich an wie Überleben.
Wie ging es deinem Sohn?
Er war traurig. Einfach still. Und das war fast schlimmer. Er hat nur gesagt: „Ist okay. Ich feier dann halt nur mit dir.“ Und ich habe genickt und gesagt: „Das wird trotzdem schön.“ Aber in meinem Kopf war ich schon in der WhatsApp-Gruppe, beim Analysieren, beim Verstecken meiner Kränkung. Denn Ausschluss tut auch uns Eltern weh. Es ist eine Mischung aus Ohnmacht und Scham. Die Sorge, das eigene Kind könnte „anders“ sein. Die Angst, dass wir selbst irgendwie mit schuld sind. Und der nagende Gedanke: Was sagen die anderen? Was ich erst später erfuhr: Er hatte versucht, sich mit Paul zu verabreden. Einfach so, von sich aus. Und Paul hatte ihm gesagt, er hätte keine Zeit. Mein Sohn hat das so leise erzählt, dass es mir das Herz doppelt gebrochen hat.
Er ist ein ruhiges Kind. Sanft. Einer, der lieber beobachtet als unterbricht. Und ich sehe oft, wie gerade diese Kinder durchs Raster fallen. Sie drängen sich nicht auf. Sie springen nicht laut durchs Gruppenbild. Sie sind da und werden doch übersehen. Dieses Unsichtbarsein ist hart. Und als Mutter will man am liebsten reinspringen, ihn auffangen, für ihn laut sein, ihn integrieren. Aber das bringt ja nichts. Ich habe mit meiner Schwester gesprochen, sie ist Lehrerin. Sie kennt solche Kinder. Sie kennt auch mich. Und sie hat nur gesagt: „Du musst nicht alles reparieren. Sei einfach da. Und vergiss nicht: Du warst genauso. Still, klug, ein bisschen scheu. Und aus dir ist auch etwas geworden. Du hast deinen Weg gefunden, das wird er auch.“
Was hättest du gebraucht in dem Moment?
Eine andere Mutter, die einfach sagt: „Ich weiß, wie sich das anfühlt.“ Wir reden so viel über Gemeinschaft – aber genau da, wo sie am nötigsten wäre, sind wir oft allein. Vor der Kita. Mit einem Kloß im Hals. Am liebsten hätte ich mit Pauls Mutter nie wieder auch nur ein Wort gesprochen. Aber ich habe mich zusammengerissen und mir nichts anmerken lassen.
Was hast du daraus gelernt?
Dass ich nicht alles kontrollieren kann. Dass Kinder ihre Erfahrungen machen müssen und dürfen. Und dass ich als Mutter das nicht verhindern kann. Aber ich kann da sein. Zuhören. Ich lerne gerade, dass das reicht. Und dass es oft mehr Nähe schafft als jedes Eingeladenwerden.
Und wie geht es euch heute?
Wir haben unsere eigene kleine Tradition draus gemacht. Wenn so etwas passiert, kochen wir Lieblingsessen, machen einen Filmabend – und feiern das, was wir haben. Das Leben geht weiter, auch wenn man nicht auf jeder Hochzeit tanzt. Aber es stärkt etwas. Ich habe aufgehört, dazugehören zu wollen. Und das ist gar nicht so schlecht.
Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:
Die Eltern-Mafia:
Was Nora erlebt hat, ist keine Kleinigkeit. Es ist eine sehr reale Erfahrung von Beziehung, oder besser von ihrem Bruch. Denn in der Welt von Kindern bedeuten Geburtstage Zugehörigkeit. Für Erwachsene übrigens auch, selbst wenn sie es seltener zugeben. Wenn ein Kind nicht eingeladen wird, spüren Eltern instinktiv: Hier ist etwas in Unordnung. Und das ist nicht falsch. Doch es ist wichtig, wie wir damit umgehen. Viele Eltern – so wie Nora – tun zunächst etwas, das sehr menschlich ist: Sie halten den Schmerz zurück, um das Kind zu schützen. Sie erklären, überspielen, funktionieren. Doch gleichzeitig spüren Kinder genau, was wir fühlen.
In vielen Elternkreisen herrscht ein unterschwelliger Wettbewerb: Wer kennt wen? Wer wird eingeladen? Wer gehört dazu? Man tauscht sich aus, besucht sich, plant gemeinsame Ausflüge und wer nicht mitmacht, fällt raus. Für viele Mütter ist das belastend. Denn mit jedem ausbleibenden „Wir könnten ja mal was zusammen machen“ stellt sich die Frage: Was stimmt mit mir nicht? Oder mit meinem Kind?
Aber genau hier liegt der Denkfehler:
Wir verwechseln Zugehörigkeit mit Sichtbarkeit. Doch was ein Kind wirklich stärkt, ist nicht, wie oft es irgendwo mitläuft, sondern wie sicher es sich in seiner eigenen kleinen Welt fühlt. Wenn wir um jeden Kontakt kämpfen, senden wir unterschwellig: „Dein Wert hängt davon ab, wer dich einlädt.“ Aber das stimmt nicht. Wenn wir im Vergleich leben, leben unsere Kinder im Druck. Wenn wir im Vertrauen leben, leben sie in Freiheit
Und dann? Dann darfst du loslassen.
Wir brauchen keine Einladungen, um zu wissen, dass wir dazugehören, zu uns selbst, zu unseren Kindern, zu unserem eigenen kleinen Kosmos. Und manchmal ist es genau dieser Rückzug aus dem Rennen, der am meisten Halt gibt. Wir müssen nicht die Welt für unsere Kinder reparieren. Nur da sein.
Besonders berührt hat mich der Satz über das Kind: „Er ist ein ruhiges Kind. Sanft. Einer, der lieber beobachtet als unterbricht.“ In meiner Arbeit habe ich viele solcher Kinder erlebt. Sie sind oft nicht die Lautsprecher der Gruppe, aber sie haben eine sehr feine Wahrnehmung. Leider passen sie nicht immer in die engen sozialen Raster unserer frühen Bildungseinrichtungen. Und oft fühlen sich ihre Eltern mitverletzt, wenn das Kind übersehen wird.
Mein Rat wäre nicht, lauter zu werden. Sondern klarer. Vor allen Dingen, indem man sein Kind nicht infrage stellst, sondern indem du es bestärkst. Es ist das Fundament, auf dem ein Kind Selbstwert aufbauen kann, der nicht davon abhängt, ob der Name auf einem Umschlag steht.
Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.