Psychologie

Emma hilft beim Sterben

Viele Menschen werden kurz vor ihrem Tod sehr unruhig – dann hilft der Emma-Effekt!

Ivana Seger arbeitet als Palliativschwester in einem stationären Hospiz. Zusammen mit ihren beiden Labradoren Sissi und Helga besucht sie 5 palliative Einrichtungen und gründete den Verein „Tröstende Pfoten“. Wir wollten wissen, wie die Idee entstand. 

Ich habe schon immer im sozialen Bereich, also mit Menschen gearbeitet. Ursprünglich als Altenpflegerin und daraufhin in einer psychiatrischen Einrichtung mit psychisch kranken Menschen. Vier Jahre lang war ich auf dieser Station tätig und lernte das Ausmaß solcher Krankheiten, insbesondere Depressionen, kennen. Man kam einfach nicht an diese Menschen ran. Egal, was man versuchte, die Menschen blieben tot traurig. Aber dann kam der Tag, der alles veränderte. Ich werde ihn nie vergessen! Wie immer erzählten sich die Patienten gegenseitig traurige Geschichten und starrten ausdruckslos vor sich hin. Plötzlich erhob sich der Erste, der Zweite, der Dritte, der Vierte … Ein Lächeln machte sich in jedem ihrer Gesichter breit. Ich konnte meinen Augen kaum trauen. Sowas hatte ich dort noch nie erlebt. Was war geschehen? Ich schaute mich um und sah einen Mann, der seine Frau besuchte – im Schlepptau sein Hund. Dieser Hund hatte es geschafft, alleine durch seine Anwesenheit die Stimmung meiner Patienten so zu verändern, wie es keinem Menschen, nach meinen 4 Jahren Erfahrung dort, gelungen war. Da ging mir ein Licht auf. 17 Jahre lang begleitete mich die Idee, mit einem Therapiehund zu arbeiten. In dieser Zeit informierte ich mich intensiv und habe es dann mit 40 Jahren endlich geschafft, mein Leben nochmal komplett zu ändern. Ich bewarb mich im Hospiz und stellte ihnen meine Idee vor. Das Hospiz machte mit, obwohl sie sowas noch nie zuvor ausprobiert hatten. Mein Ziel war es nun, den geeigneten Welpen zu finden. Dann suchte und fand ich Emma.“

Anhand welcher Kriterien hast du Emma ausgesucht?

„Da meine Mutter gezüchtet hat, bin ich schon mit Hunden aufgewachsen. Ich hatte also ein gewisses Gespür für Hunde, vor allem aber für Welpen. Klar war, er musste ein ruhiges Wesen haben, sollte von sich aus auf Menschen zugehen, sich gerne streicheln lassen und eine sehr hohe „Stresstoleranzgrenze“ besitzen, um später in den Einsätzen auch die nötige Ruhe weitergeben zu können. Ich fragte Züchter, ob es möglich wäre, 6 Wochen lang, jeden zweiten Tag zu kommen und meine sogenannten „Welpentests“ durchzuführen. Und tatsächlich – durch diese Tests stellte ich fest, welcher Welpe am Ende am wenigsten gestresst war, welcher ruhig blieb. Es war meine treue Emma.“

Wie kann man sich die Arbeit von deinen Therapiebegleithunden konkret vorstellen?

„Ich erinnere mich noch gut an eine Geschichte, die mich nachhaltig berührt hat. Es war mein erster Arbeitsag im Hospiz, Emma war damals vier Monate alt und an meinem ersten Probearbeitstag nicht mit dabei. Ich lernte Frau G. kennen, sie war „Gast“ in unserer Einrichtung. Einen traurigeren Menschen hatte ich nie zuvor gesehen. Sie wollte bloß, dass ich die Gardinen hoch ließ, mehr wollte sie von mir aber nicht wissen. Sie lag einfach nur da, weinte und scheute jeglichen Blickkontakt. Einen Menschen so zu sehen, machte mich sehr emotional. Am zweiten Tag im Hospiz hatte ich die kleine Emma dabei, um sie schon mal langsam an das Hospiz zu gewöhnen. Denn es ist wichtig, die Hunde immer und immer wieder an ihren neuen Arbeitsplatz zu gewöhnen. Ein Hospiz ist ein ganz fremder Ort, mit Gerüchen, die ein Hund sonst eher meiden würde. Ich wurde an dem besagten Tag also erneut für Frau G. eingeteilt. Wieder geschah das Gleiche, nur diesmal fragte ich sie: „Mögen Sie eigentlich Hunde?“ Sie schaute mir zum ersten Mal in die Augen, lächelte und sagte: „Ich liebe Hunde.“ Daraufhin ließ ich Emma durch den Türrahmen sehen und siehe da – es änderte sich alles! Frau G. strahlte bis über beide Ohren, als sie Emma sah. Sie breitete ihre Arme aus und ich legte Emma zu ihr ins Bett. Frau G. fand durch Emma wieder etwas Freude an ihrem Leben. Sie sagte immer „Komm Emma, wir essen jetzt. Ich habe Hunger“. Emma schaffte etwas, was kein Mensch schaffte. Und das mit ihrer bloßen Anwesenheit. Einfach da sein. Nähe und Wärme ausstrahlen. Beruhigen.

Kannst du mir erklären, warum Therapiebegleithunde Menschen so gut beim Sterben begleiten können?

Dazu erstmal eine kurze Erklärung vorab … Viele Menschen werden kurz vor ihrem Tod plötzlich sehr unruhig. Obwohl ihr Körper so geschwächt ist, macht sich eine so große Unruhe in ihnen breit, dass man sie kaum beruhigen kann. Diese „präfinale Unruhe“ versuchen wir dann mit verschiedenen Therapien, wie zum Beispiel der Aroma, und -Musiktherapie, oder speziellen Medikamenten zu lindern. Doch manchmal hilft alles nichts. Da kommt der Therapiebegleithund erneut ins Spiel.

Wir achten darauf, dass unser Gast und auch der Hund gemütlich liegen. Dann legen wir die Hand der sterbenden Person auf den Bereich des Atemzentrums des Hundes und siehe da – 1, 2, 3 – die Unruhe ist weg! Angehörige sind häufig erstaunt und fragen mich, wie ich das mache. Ich entgegne: „Ich habe gar nichts gemacht – das ist der Emma-Effekt!*“ Über 100 Gäste sind bereits mit der Hilfe meiner Therapiebegleithunde ganz friedlich verstorben. Wir wissen bis heute nicht genau, was an ihnen so beruhigend wirkt. Vermutlich die Wärme ihres Körpers. Außerdem sind meine Hunde bei der Arbeit so ruhig und fokussiert, man konnte fast meinen, sie seien Stofftiere.

Ich frage mich nun, kann diese Aufgabe ein jeder Hund übernehmen?

„Gute Frage. Grundsätzlich kann ich sie mit „nein“ beantworten. Hunderassen wie Labradore, Retriever, Australian Shepherd und Border Collies eignen sich eher. Vor allem Labradore haben eine hohe Stresstoleranzgrenze. Im Prinzip kann jeder Hund, unabhängig von seiner Rasse ein guter Therapiebegleithund werden, vorausgesetzt er erfüllt die Kriterien. Es ist wichtig, den richtigen Welpen auszusuchen, der ausgeglichen, ruhig, neugierig und sehr menschenbezogen ist. Ich persönlich denke, dass sich „Listenhunde“, wie beispielsweise Pitbulls weniger eignen. Es erfordert auch enormes Vertrauen von allen Menschen, die im Hospiz arbeiten, von den Gästen als auch deren Angehörigen. Je stärker die Bindung und das Vertrauen zwischen Therapiebegleithund und Halter, desto besser funktioniert die Zusammenarbeit. Man sollte viel beachten. Nur weil ein Hund lieb ist und sich gerne streicheln lässt, bedeutet das nicht, dass er der Aufgabe gewachsen ist. Da gehört so viel mehr zu.“

Was macht die Arbeit der Hunde im Hospiz außergewöhnlich?

„Normale Hunde könnten das nicht. Sie würden rein instinktiv eine Einrichtung wie ein Hospiz meiden, denn sie können den Tod riechen. Es gehört ganz viel Gewöhnung dazu. Man muss den Hunden beibringen, dass der Tod etwas Normales ist und dass er dazu gehört. Bei der Sterbebegleitung muss ich dem Hund signalisieren, dass alles OK ist und dass er einen guten Job macht. Sie müssen zudem lernen, dass alle Zu, und Abgänge (z.B. Dauerkatheter, Sauerstoffschlauch, Drainagen, Braunülen, Port) absolut, Tabu sind, ansonsten besteht die Gefahr, dass der Hund Medikamente wie beispielsweise Morphium aufnehmen kann. Da das tödlich enden könnte, ist präzises und gewissenhaftes Arbeiten erforderlich. Deshalb empfehle ich auch eine professionelle Ausbildung von einem halben bis zu einem dreiviertel Jahr. Von zwei-tägigen „Ausbildungen“ oder Ähnlichem rate ich dringend ab.“

Wenn deine jetzigen Hunde Sissi und Helga tagtäglich mit Sterbenden in Berührung kommen, können sie denn noch fröhlich sein?

„Aber ja! Sehr fröhlich sogar. Ganz wichtig ist mir hierbei Arbeit und „Freizeit“ ganz strikt voneinander zu trennen. Wir arbeiten täglich nur zwei Stunden und danach ziehe ich ihnen ihre Halstücher aus. Das ist vom Prinzip her so ähnlich wie bei den Blindenführhunden, die ihr Geschirr angezogen – und dadaurch signalisiert bekommen, dass sie nun „arbeiten“ müssen. Zuhause angekommen, haben die beiden dann die restlichen 22 Stunden Zeit zum auspowern, toben, spielen, laufen, schwimmen, kuscheln ausruhen und und und. Hunde trauern sehr wohl und deshalb ist es so wichtig, dass sie außerhalb der Arbeit „Hund sein dürfen“ und sich vollkommen ablenken können. Ich achte strengstens darauf, dass ihre Belastung nie zu hoch ist.

Wie reagiert dein Umfeld auf deinen Beruf?

„Ich werde oft gefragt: „Wie kannst du bloß im Hospiz arbeiten?“ Das zeigt ja eigentlich nur, dass es immer noch sehr viele Vorurteile gibt. Hospiz bedeutet übersetzt „Herberge“ und eine Herberge ist ein Ort, an dem man herzlich empfangen und versorgt wird, um sich auf seinen weiteren Weg vorzubereiten. Genau das ist ein Hospiz. Wir möchten diese Menschen sowie auch ihre lieben Angehörigen auf diesem schweren Weg in allen Bereichen begleiten und sie ihren Wünschen entsprechend versorgen. Ich finde es schade, dass diese Einrichtung und auch der „Tod“ nach wie vor solche Tabuthemen sind. Denn eines ist auf jeden Fall klar:Die Geburt und der Tod verbinden uns alle. Da ich mehr Öffentlichkeitsarbeit für die Themen „Hospiz und Sterben“betreiben wollte, schrieb ich ein Buch: „Der Emma-Effekt“. Als ich anfing mit Therapiebegleithunden zu arbeiten, war diese Arbeit noch in den Kinderschuhen und wurde eher belächelt. Emma und ich waren quasi Pioniere in Hessen. „Ein Hund im Krankenhaus? Ein No-Go.“ Viel zu unhygienisch sei dies. Ja, Hygiene spielt eine große Rolle! Aber wenn man alle Auflagen (regelmäßige Tierarztkontrollen, Krallen schneiden, Fellpflege, etc.) beachtet, dann ist ein Hund im Krankenhaus, bzw. im Hospiz mehr als „ nur“ ein Hund. Er ist ein Eisbrecher und ein ganz besonderer Seelentröster.

Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann, dass so wertvolle Einrichtungen wie Hospize, von der Öffentlichkeit so wahrgenommen werden, wie sie es auch verdienen. Des weiteren wünschte ich, dass, wenn man mit einem Hund – also einem Lebewesen mit ganz eigenen Bedürfnissen – arbeitet, immer das Wohl des Hundes an oberster Stelle stehen muß. Nur wer seinen Hund artgerecht fordert und fördert, wird mit etwas belohnt, was man mit keinem Geld der Welt kaufen könnte: Bedingungsloses Vertrauen.“

Zum Weiterlesen

In Ivana Segers Buch „Der Emma-Effekt“, erklärt sie das Phänomen ausführlicher und erzählt von den schönsten Momenten und rührenden Geschichten, die sie zusammen mit ihrer Therapiebegleithündin erlebt hat. Zahlreiche Fotos und authentische Briefe von Angehörigen lehren uns viel über das Leben und auch das Sterben.

Teilen
×