„Die stille Trauer um ein ungeborenes Kind“
Erzähl mir dein Leben:
„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.
Es gibt kein Grab, deshalb verstehen es viele nicht.
Eine Fehlgeburt ist ein stiller Verlust, der oft nicht gesehen und auch deshalb nicht verstanden wird. Dabei kann er für die betroffenen Frauen schmerzvoll sein. Maria (34) hat vor einem Jahr ihr ungeborenes Kind verloren. In diesem Gespräch spricht sie offen über den Schmerz der Fehlgeburt, die Einsamkeit, die oft damit einhergeht, und den langen Weg, den sie gegangen ist, um ihre Trauer zu verarbeiten.
Maria, vielen Dank, dass du bereit bist, über dieses so sensible Thema zu sprechen. Wie hast du dich gefühlt, als du erfahren hast, dass du schwanger bist?
Maria:
Es war überwältigend. Ich kann gar nicht sagen, wie unglaublich glücklich ich war. Mein Mann und ich hatten schon eine ganze Weile versucht, schwanger zu werden, und als der Test endlich positiv war, konnten es kaum glauben. Ich erinnere mich daran, wie ich den Test in den Händen hielt, meine Hände zitterten und ich habe dreimal überprüft, ob es wirklich war. Es war, als würde ein Traum in Erfüllung gehen. Wir haben sofort angefangen, Pläne zu schmieden, uns Namen zu überlegen, und ich habe mir vorgestellt, wie unser Leben mit dem Baby aussehen würde. Weihachten, Sankt Martin, alles schien perfekt.
Wann hast du erfahren, dass etwas nicht stimmt?
Maria:
Es war in der elften Woche, bei einer Routineuntersuchung. Ich hatte keine Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmen könnte. Alles fühlte sich normal an. Aber ich war ja noch nie schwanger, woher also hätte ich wissen sollen, was normal war oder nicht. Aber als der Arzt den Ultraschall machte, war plötzlich diese Stille im Raum. Vorher sprach er noch mit mir und scherzte, dann schlug die Stimmung schlagartig um. Ich werde nie diesen Gesichtsausdruck des Arztes vergessen, als er sagte, dass er keinen Herzschlag mehr sehen kann. Dieses tiefe Mitleid in seinen Augen, und dann lief die Welt langsamer. Mein Verstand hat sofort gewusst, was das bedeutet, aber meine Gefühle nicht. Ich war in Schockstarre. Der Arzt sagte noch, das die Fruchtbarkeit nach einer Fehlgeburt ansteigen würde, wir sollten noch etwas warten, aber wir würden sicherlich ein Kind bekommen. Es tat ihm sehr leid. Mein Mann hat geweint.
Wie hast du in den ersten Tagen nach der Fehlgeburt gefühlt?
Maria:
Es war, als ob mir der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Ich habe mich leer und verloren gefühlt, fast, als wäre ich selbst nicht mehr richtig da. Der Schmerz war überwältigend, aber gleichzeitig fühlte ich mich seltsam taub. Die Welt um mich herum ging weiter, aber für mich stand alles still. Ich hatte dieses Kind bereits in meinem Herzen, und der Gedanke, dass es plötzlich weg war, war unerträglich. Mein Mann hat sofort getrauert, aber ich konnte es nicht.
Ich fühlte mich auch unglaublich einsam, obwohl ich von Menschen umgeben war, die mich unterstützten. Niemand konnte wirklich verstehen, was ich durchmachte, und ich wusste nicht, wie ich meine Gefühle ausdrücken sollte. Ich kann das anders nicht beschreiben. Von außen wirkte ich wahrscheinlich unbeteiligt, und ein Teil von mir war es innerlich auch. Ein anderer Teil war in Trauer gefangen.
Wie bist du mit deiner Trauer umgegangen? Hattest du das Gefühl, dass du genug Unterstützung bekommen hast?
Maria:
Ich hatte das Glück, dass mein Mann unglaublich verständnisvoll war. Er hat mir Raum gegeben, zu trauern, und war immer da, wenn ich reden wollte. Aber auch für ihn war es schwer, weil er auf seine eigene Weise trauerte. Er war aber viel offener als ich – er ließ seine Trauer zu und war dadurch wahrscheinlich auch schneller damit durch. Ich fing später an, dafür dauerte es viel länger. Vielleicht haben wir nacheinander getrauert, so konnte immer der eine den anderen stützen. Wir haben uns oft gefragt, warum es uns passiert ist, aber es gab keine Antworten.
Das Problem mit Fehlgeburten ist, dass sie oft nicht wirklich sichtbar sind. Es gibt keine offizielle Trauerfeier, keinen sichtbaren Verlust, den andere Menschen begreifen können. Viele Menschen wussten gar nicht, dass ich schwanger war, also wussten sie auch nichts von unserem Verlust. Das hat die Trauer sehr einsam gemacht. Manchmal bekam ich den Eindruck, dass andere Menschen dachten, ich sollte „einfach weitermachen“. Sie haben gesagt: „Ihr könnt es ja noch einmal versuchen“ oder „Das passiert so vielen Frauen“. Kann sein, aber das tröstete mich nicht. Ich fühlte mich nicht mehr zugehörig, unverstanden.
Ich habe irgendwann angefangen, eine Therapeutin aufzusuchen, um über meine Gefühle zu sprechen. Das hat mir sehr geholfen, weil ich dort einen Raum hatte, in dem ich meine Trauer ausleben konnte, ohne mich dafür rechtfertigen zu müssen. Ich konnte endlich über die tiefe Leere sprechen, die ich verspürte, und das hat mir geholfen, Schritt für Schritt wieder in den Alltag zurückzufinden.
Wie hat die Fehlgeburt dein Leben und deine Sicht auf das Muttersein verändert?
Maria:
Die Fehlgeburt hat vieles in mir verändert. Früher habe ich das Muttersein als etwas fast Selbstverständliches gesehen, als etwas, das man plant und dann irgendwann passiert. Aber jetzt weiß ich, dass es keine Garantie gibt. Ich habe die Kontrolle über meinen Körper verloren, und das hat mich ängstlich gemacht. Ich sehe jetzt, wie zerbrechlich das Leben ist und wie wenig wir manchmal in der Hand haben. Ich hatte Angst, dass ich niemals Mutter werden könnte. Diese Angst sitzt tief, und auch wenn ich jetzt wieder zuversichtlicher bin, bleibt immer eine gewisse Unsicherheit. Ich habe aber in der Therapie gelernt, dass ich mein Leben nicht nur von diesem einen Wunsch abhängig machen darf. Es ist wichtig, für sich selbst da zu sein, auch wenn man den größten Schmerz erlebt. Es gibt keinen „richtigen“ Weg, mit so einem Verlust umzugehen, und ich musste lernen, mir selbst Zeit zu geben, das zu akzeptieren.
Was hat dir in den schwersten Momenten am meisten geholfen?
Maria:
Am meisten haben mir die kleinen Dinge geholfen. Gespräche mit meinem Mann, Spaziergänge in der Natur, Momente, in denen ich einfach nur weinen konnte, ohne mich schuldig zu fühlen. Es war wichtig, meine Gefühle zuzulassen, auch wenn sie überwältigend waren. Ich habe versucht, nicht ständig stark sein zu müssen, sondern den Schmerz zuzulassen, auch wenn das sehr schwer war.
Es hat auch geholfen, mich mit anderen Frauen auszutauschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Ich habe online Foren gefunden, in denen Frauen offen über ihre Fehlgeburten sprechen, und das war unglaublich tröstlich. Endlich hatte ich das Gefühl, dass ich nicht alleine bin, dass andere Menschen meinen Schmerz verstehen. Das hat mir geholfen.
Wie fühlst du dich heute, ein Jahr nach der Fehlgeburt?
Maria:
Es gibt immer noch Tage, an denen der Schmerz wieder hochkommt. Besonders bei bestimmten Auslösern – wenn ich Babys sehe oder an den Tag der Untersuchung zurückdenke. Aber ich habe gelernt, mit diesem Schmerz zu leben. Er ist ein Teil von mir geworden, aber er definiert mich nicht mehr komplett. Ich wünsche mir, wieder schwanger zu werden und habe gleichzeitig Angst davor. Wahrscheinlich liegt es daran, dass es bisher noch nicht geklappt hat. Der Körper lässt nur das zu, was der Mensch auch verkraften kann. Ich möchte so gerne ein Kind, ich wünsche mir nichts sehnlicher und habe gleichzeitig Angst. Mein Mann und ich haben uns überlegt, ob wir auch ohne Kinder glücklich werden können. Vielleicht kommt eine Adoption infrage, oder wir nehmen ein Pflegekind. Das könnten wir ganz unabhängig von meinem Alter machen, weil hier ja keine biologische Uhr tickt. Das nimmt mir den Druck. Wir denken immer noch daran, es noch einmal zu versuchen, aber wir nehmen uns Zeit. Ich will nichts überstürzen und mir den Raum lassen, den ich brauche.
Was würdest du anderen Frauen sagen, die eine Fehlgeburt erleben?
Maria:
Ich würde ihnen sagen, dass sie sich die Zeit nehmen sollen, die sie brauchen. Jede Frau trauert anders, und es gibt keinen „richtigen“ oder „falschen“ Weg. Es ist okay, sich traurig, wütend oder verloren zu fühlen. Du musst nicht sofort wieder stark sein oder nach vorne schauen, wenn du es noch nicht kannst.
Es ist auch wichtig, mit jemandem zu sprechen. Sei es dein Partner, eine Freundin oder ein Therapeut – du musst diesen Schmerz nicht alleine tragen. Fehlgeburten sind oft ein stiller Verlust, aber du hast das Recht, zu trauern und gehört zu werden.
Und vergiss nicht: Du bist nicht allein. So viele Frauen erleben diesen Verlust, auch wenn kaum darüber gesprochen wird. Es gibt Menschen, die deinen Schmerz verstehen und dir in dieser schweren Zeit beistehen können.
Vielen Dank, Maria, dass du so offen und ehrlich über deine Erfahrungen gesprochen hast.
Maria:
Es war mir wichtig, darüber zu sprechen. Ich hoffe, dass meine Geschichte anderen Frauen hilft, die ähnliches durchmachen, und ihnen zeigt, dass es okay ist, zu trauern – und dass es irgendwann auch wieder Hoffnung gibt.
Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:
Schmerz muss gefühlt werden
„Dann klappt es halt beim nächsten Mal“ – wenn ich solche Ratschläge höre, läuft es mir oft kalt den Rücken runter. Nicht, weil sie nicht stimmen. Es ist natürlich gut, anderen Menschen Hoffnung zu geben. Gar keine Frage. Aber bevor jemand neue Hoffnung schöpfen kann, muss er zunächst durch die Trauer hindurch. Trauer reinigt, sie dient dazu, altes loszulassen. Wer sofort weitermacht, riskiert, dass die Trauer nach innen geht und dort eine Art Eigenleben führt. Das ist wie eine offene Wunde, die sich nur äußerlich verschließt, während sich innen Eiter und Bakterien ausbreiten. Das klingt jetzt nicht appetitlich, dafür ist es anschaulich und ich hoffe, ihr versteht mich. Ein frischer Schmerz bietet die Chance auf innere Reinigung, wenn er ausgelebt und gefühlt wird, anstatt ihn einfach wegzuschieben. Viele von uns wollen den Schmerz am liebsten sofort loswerden, wollen ihn nicht spüren. Das ist verständlich, schließlich fühlt sich Trauer schwer an, erdrückend, manchmal geradezu überwältigend. Aber wenn wir ständig versuchen, sie zu verdrängen, dann wird sie sich irgendwo in uns festsetzen. Sie wird Teil unseres inneren Lebens, ohne dass wir es vielleicht bewusst merken. Und irgendwann tritt sie dann an anderer Stelle zutage – in Form von Ängsten, Unruhe oder sogar körperlichen Beschwerden. Ich erlebe es so oft, dass Menschen in meiner Praxis sitzen und sich nicht erklären können, warum sie nicht glücklich sein können, oder warum sie unter Bluthochdruck leiden, oder diese unerklärliche Schwermut in sich tragen. Und das unangenehme Gefühl wird immer stärker.
Es ist, als würden wir versuchen, einen großen Ball unter Wasser zu drücken. Wir spüren den Widerstand, den Druck. Wir denken, wenn wir ihn nur stark genug nach unten drücken, wird er verschwinden. Aber irgendwann, wenn unsere Kräfte nachlassen, schießt er mit umso größerer Wucht wieder an die Oberfläche. Die Trauer, die wir nicht zulassen, verhält sich genau so.
In unserer Gesellschaft ist Trauer oft etwas, das man möglichst schnell hinter sich bringen soll. Funktioniere weiter, mach einfach weiter, als wäre nichts passiert – das ist die unausgesprochene Erwartung. Doch diese Eile verhindert, dass wir wirklich heilen. Die verletzte Seele braucht Zeit, um ihre Wunden zu schließen und kehrt dann oft weiser und stärker ins Leben zurück. Habt Mut zu trauern. Und nehmt euch die Zeit, die dafür notwendig ist. Und dann geht das Leben auch wieder weiter. Anders, vielleicht, aber auch schöner.
Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.