
Die große Freiheit oder der Anfang vom Chaos?
John hatte es nur gut gemeint. Wirklich.
„Ich dachte, vielleicht braucht sie einfach mehr Abwechslung. Frische Luft. Neue Reize. Vielleicht wird sie dann ruhiger, weißt du?“ Ich wusste genau, worauf das hinauslief. „John. Bitte sag mir nicht, dass du versucht hast, deine Katze an der Leine spazieren zu führen.“ Er schloss die Augen und seufzte. „Okay, dann sag ich es nicht.“
Ich lehnte mich zurück. „Erzähl.“
„Ich hab so ein Spezialgeschirr besorgt, mit Klettverschlüssen und Schnallen. Sie hat mich dabei angesehen, als wäre ich der größte Idiot auf diesem Planeten. Aber ich dachte mir, na gut, erst mal drinnen ausprobieren.“
„Und?“
„Katze ist erstarrt. Einfach umgefallen wie ein nasser Sack. Lag auf der Seite und hat mich nur angestarrt.“
Ich nickte. Klassiker.
„Irgendwann hat sie sich dann bewegt. Sehr langsam. Wie ein uralter Roboter. Also dachte ich mir, hey, wird schon. Also ab nach draußen.“
Ich konnte mir die Szene lebhaft vorstellen.
„Kaum hatte ich sie auf die Wiese gesetzt, ist sie förmlich explodiert. Ich schwöre dir, sie ist senkrecht in die Luft geschossen wie eine Rakete. Dann ist sie in Panik verfallen, hat sich in der Leine verheddert, sich ein paar Mal überschlagen und versucht, sich aus dem Geschirr zu befreien wie Houdini auf Speed.“
„Oha.“
„Ja, oha. Die Nachbarn haben gegafft, als würde ich meine Katze foltern. Irgendwann hat sie sich dann so wild gewunden, dass sie sich doch aus dem Geschirr befreien konnte. Und dann?“
„Lass mich raten: Sie ist wie ein geölter Blitz ins nächste Gebüsch geflüchtet?“
„Exakt. Ich bin hinterher – und hab mich im Dornenbusch verheddert. Ich sah aus wie ein verdammtes Kaktus-Männchen, während Madame Chaos sich irgendwo im Dickicht versteckt hielt.“
Ich biss mir auf die Lippe, um nicht zu lachen. „Wie hast du sie wieder rausbekommen?“
„Ich hab eine halbe Stunde mit ihrer Lieblingsleckerlipackung geraschelt und sie mit Engelszungen beschworen. Am Ende hat sie sich gnädigerweise dazu herabgelassen, zurückzukommen. Ich hab sie geschnappt, ins Haus getragen und beschlossen: Das war das erste und letzte Mal, dass ich meine Katze an die frische Luft führe.“
„Klingt nach einer fairen Entscheidung.“
„Ja, das dachte ich auch.“ John ließ den Kopf hängen. „Aber seitdem markiert sie überall.“
„Oh.“ Ich lehnte mich nach vorne. „Erzähl mir mehr.“
„Seit diesem verdammten Spaziergang pisst sie überall hin. Mein Sofa, meine Schuhe, sogar meinen Rucksack. Ich weiß nicht mehr weiter.“
Ich seufzte. „Okay, John. Dann lass uns mal eine kleine Katzen-Therapie starten.“
Warum markiert sie plötzlich?
Ich stand auf und begann, im Raum herumzugehen, während ich nachdachte. „Das hier ist ein klassischer Fall von Unsicherheit, John. Deine Katze hat draußen die Kontrolle verloren – und jetzt versucht sie, sich die Kontrolle über ihr Zuhause zurückzuholen.“
Er sah mich ratlos an. „Aber warum ausgerechnet so?“
Ich deutete auf Prinzessin Chaos, die uns von ihrem Kratzbaum aus beobachtete. „Katzen markieren aus drei Hauptgründen: Revieranspruch, Stress oder um sich selbst zu beruhigen. Dein Spaziergang hat ihr das Gefühl gegeben, dass ihr Territorium nicht mehr sicher ist.“
„Aber sie war doch immer nur drinnen!“
„Eben. Und jetzt hast du sie in eine völlig unkontrollierbare Situation gebracht. Draußen hat sie sich komplett ausgeliefert gefühlt – und als sie zurückkam, musste sie ihre Welt wieder mit ihrem Duft bestätigen.“
John verzog das Gesicht. „Ihr Duft ist Pisse.“
Ich grinste. „Ja, das ist ein Teil der Wahrheit.“
Die Lösung: Sicherheit zurückgeben
Wir mussten ihr das Gefühl geben, dass sie ihr Zuhause wieder im Griff hatte – ohne dass sie überall markierte. Als Erstes sollten wir ihr Revier stärken. Ich empfahl John, an den markierten Stellen Diffusoren aufzustellen oder ein Tuch an ihrem Kopf zu reiben und damit über die betroffenen Stellen zu wischen, um Wohlfühlpheromone zu setzen. Außerdem sollte er dort, wo sie markiert hatte, Futter oder ihr Lieblingsbett platzieren – Katzen pinkeln selten dort, wo sie fressen oder schlafen.
„Und was ist mit ihrem Stress?“, fragte er.
„Keine weiteren Experimente mit der Leine“, erklärte ich ihm. „Falls du sie trotzdem an draußen gewöhnen willst, dann nur langsam – mit offenen Fenstern oder einem abgesicherten Balkon.“
Zudem sollte er ihr zusätzliche Rückzugsorte anbieten, wie Höhlen oder erhöhte Plätze, damit sie sich sicherer fühlte. Ein weiteres Problem war ihre aufgestaute Energie. Ich riet ihm, täglich mehr Jagdspiele mit ihr zu machen. Wenn sie sich kontrolliert auspowern konnte, würde sie weniger Stress durch Markieren abbauen müssen.
Tägliche Rituale waren ebenfalls wichtig.
Feste Fütterungszeiten, Spieleinheiten und Kuschelzeiten würden ihr Sicherheit geben. Katzen lieben Vorhersehbarkeit. John rieb sich das Gesicht. „Okay, das klingt nach einem Plan. Ich probier’s aus.“ Ich sah Prinzessin Chaos an, die sich streckte und unschuldig gähnte. „Mach das. Und sag mir Bescheid, wenn sie wieder deine Wände umdekoriert.“ Ein paar Wochen später bekam ich eine Nachricht. „Du wirst es nicht glauben. Keine neuen Markierungen, die Wohnung riecht nicht mehr nach Pumakäfig.“ Ich grinste, als ich die Nachricht las. Es hatte sich wieder einmal gezeigt, dass es nie um Umerziehung ging – sondern darum, die Welt aus Katzenperspektive zu verstehen. Und wenn man das tat, bekam man eine zufriedene Katze. Und eine heile Wohnung.
Hier schreibt das Redaktionsteam des Katzenmagazin Our Cats. Unser Motto: Sei glücklich, lebe flauschig – und bei dem Rest helfen wir dir gerne. Wenn du uns magst, kauf uns am Kiosk. Alle 4 Wochen gibt es eine brandneue Our Cats. Und wenn du mehr über aktuelle Fälle lesen willst: dieser Beitrag stammt aus unserem Buch. “Ich wohn hier nur” kannst du dir bei Amazon bestellen, oder im www.minervastore kaufen. Letzteres wäre uns lieber, dann verdienen wir nämlich mehr.
