
Die 2 großen Rollen: Goldenes Kind und Sündenbock
In Familien mit einer narzisstischen Mutter sind die Rollen oft früh verteilt: Das eine Kind wird vergöttert, das andere kritisiert. Das „Goldene Kind“ soll die perfekte Fassade wahren, Erwartungen erfüllen und glänzen – koste es, was es wolle. Der „Sündenbock“ hingegen trägt alles, was die Mutter nicht fühlen will: Wut, Scham, Schuld. Wer in einem solchen System aufwächst, spürt oft intuitiv, dass etwas nicht stimmt – kann es aber lange nicht benennen.
Als Nora in der fünften Stunde resigniert seufzte und sagte: „Ich glaube, ich war für meine Mutter ihr größtes Problem“, wusste ich, dass wir an einem wichtigen Punkt angekommen waren. Sie erinnerte sich, wie ihre Mutter einmal voller Wut folgende Sätze entgegengeschleudert hat: „Wenn du nicht wärst, dann wäre ich glücklich. Wärst du doch so wie dein Bruder, du bist Schuld, dass ich so unglücklich bin.“
Nora ist 38, Mutter zweier Kinder, erfolgreiche Architektin, äußerlich souverän. Doch in sich trägt sie eine Rolle, die dazu nicht passte – sie fühlte sich für alles schuldig. Sie war in ihrer Kindheit der Sündenbock, ihr Bruder war das goldene Kind. Fehlt ein Geschwisterkind – das macht es noch komplizierter – wechseln sich die Rollen sogar ab. Je nachdem, was gerade gebraucht wird.
Aber eines bleibt gleich: Keine dieser Rollen hat etwas mit dem wahren Wesen des Kindes zu tun.
Erkennst du dich in einer der folgenden Rollen wieder? Oder sogar in beiden?
Das goldene Kind
„Du bist etwas ganz Besonderes.“
Das goldene Kind ist die Trophäe. Es soll strahlen – für die Mutter, nicht für sich selbst. Es soll perfekt sein, angepasst, erfolgreich, hübsch, höflich. Und es bekommt dafür – scheinbar – Zuwendung. Lob. Beachtung. Bewunderung.
Aber: Diese Zuwendung ist nicht echt. Sie ist konditioniert.
Das goldene Kind lernt schnell: Ich bin nur etwas wert, wenn ich Erwartungen erfülle.
Es wird überhöht – und gleichzeitig emotional vernachlässigt.
Sein Dilemma: Es darf keine Schwächen zeigen. Keine Angst haben. Nicht traurig sein.
Denn das würde das perfekte Bild zerstören – und damit die fragile Selbstinszenierung der Mutter gefährden.
In narzisstischen Familiensystemen spricht die Mutter oft nicht vom Kind, sondern als Kind:
„Wir haben in der Schule einen Preis gewonnen.“
„Wir üben jetzt Klavier für den Wettbewerb.“
„Wir lassen uns von Rückschlägen nicht einschüchtern.“
Es geht nicht um das Kind. Es geht um sie – um ihr Bild, ihren Stolz, ihren Spiegel.Was bleibt dem Kind? Ein Gefühl von Enge. Von Fremdheit im eigenen Leben. Und tief in sich: eine Angst, nicht mehr geliebt zu werden, wenn es echt wird.
Der Sündenbock
„Mit dir hatte ich es immer am schwersten.“
Der Sündenbock ist das Gegenteil des goldenen Kindes – und doch genauso funktional.
Er ist der emotionale Mülleimer der Familie. Alles, was stört, was schwer auszuhalten ist, wird ihm zugeschrieben:
– die schlechte Stimmung
– das Ungleichgewicht
– die vermeintlichen Probleme der Mutter
Nora zum Beispiel wurde immer dann von ihrer Mutter angeschrieen, wenn ihr Bruder mit einer schlechten Note nachhause kam. „Eine 5 von Harald ist mehr wert, als jede 1 von dir“, zischte ihr die Mutter entgegen. „Ich musste mich in den Flur stellen, vor den großen Garderobenspiegel. Ich sollte mir mein Gesicht ansehen, dass ja so hässlich sei, während sie durch den Flur ging und kübelweise Hass über mich ausschüttete“. Diese Szene ist so eindrücklich wie erschütternd – und leider keine Seltenheit in narzisstisch geprägten Familiensystemen. Die Botschaft an das Kind ist nicht nur: „Du bist nicht gut genug“, sondern: „Dein Erfolg stört. Er passt nicht zu der Rolle, die du ausfüllen sollst. Dein Schmerz ist nicht erlaubt. Deine Freude bedroht mich.“
Was Nora erlebt hat, ist emotionale Gewalt in einer besonders perfiden Form:
Sie wurde nicht nur abgewertet – sie wurde gezielt entwertet, beschämt, zum Blitzableiter gemacht. Ein tragischer Ausdruck der Unfähigkeit einer Mutter, Verantwortung für ihre eigenen Gefühle zu übernehmen. Kinder sind keine Mülleimer. Sie sind keine Spiegel. Und sie sind niemals verantwortlich für den Zustand ihrer Eltern.
Aber als genau das wird der Sündenbock genutzt. Und deshalb ist er immer „zu“. „Zu sensibel“, zu „empfindlich“, „zu laut,“ „zu anstrengend.“ Und das Schlimme ist: Je mehr er sich bemüht, umso mehr Ablehnung erfährt er. Denn in dem Moment, in dem er gut sein könnte, gerät die ganze Ordnung ins Wanken. Die Rollen sind ja festgelegt und Nora war eben der Sündenbock und musste von der Mutter immer wieder in diese Rolle gedrängt werden. Solche Kinder glauben irgendwann deshalb: „Mit mir stimmt etwas nicht. Ich bin falsch!“. Die Wahrheit aber ist: Es ist nicht das Kind, das falsch ist, sondern das Umfeld.
Als ich Nora sagte:„Du hast als Kind versucht, eine Mutter zu retten, die sich selbst nicht retten konnte. Aber du warst nicht dafür verantwortlich. Du warst einfach nur Kind. Und das hätte reichen müssen. Und ein Kind, das man vor den Spiegel stellt, um es zu beschämen, wird nicht mutiger – es wird gebrochen.“, begann etwas in ihr zu schmelzen. Wir brauchten viele Taschentücher. Und dann fragte sie nach dem „Warum“. Das geht den meisten so. Bevor man heilt, will man verstehen.
Warum gerade die Empathischen oft zu Sündenböcken werden
Der Sündenbock ist nicht „das schlechte Kind“. Im Gegenteil: Oft ist er das feinfühligste, wachste, stärkste Kind in der Familie. Aber genau das macht es gefährlich – aus Sicht der narzisstischen Mutter. Denn dieses Kind spürt, was nicht stimmt. Es fragt nach. Es rebelliert – oder zieht sich zurück. Und das ist bedrohlich. Denn wer fühlt, könnte ja das System entlarven. Eine Mutter, die ihre Kinder in zwei Rollen aufteilt – oder die in einem Kind nur diese beiden Rollen sehen kann, ist ja extrem limitiert. Sie sieht nur schwarz und weiß, gut und böse, aber nicht all diese kleinen Zwischentöne, die man braucht, um ein Kind erfolgreich großzuziehen. Die narzisstische Mutter stößt also an Grenzen. Sie ist nicht in der Lage, die Komplexität von anderen Menschen – insbesondere von Kindern – auszuhalten. Meist aufgrund eigener unerlöster Kindheitsverletzungen. Oft haben sie selbst emotionale Verwundungen erlebt – oft ohne Zugang dazu. Ein Kind, das tief fühlt, das Grenzen setzt oder Gerechtigkeit will, triggert diese alten, unbewältigten Verletzungen.
Aber statt sich dem zu stellen, bekämpft sie das Kind – weil es sie an etwas erinnert, das sie nicht fühlen will. Nicht laut. Nicht immer sichtbar. Aber unaufhörlich. Das zeigt sich oft nicht nur in den großen, offensichtlichen Dramen – sondern gerade in den kleinen, leisen, scheinbar nebensächlichen Dingen.
Wie du erkennst, dass du der Sündenbock warst – und warum es nicht deine Schuld ist
Hier sind einige typische, konkrete Anzeichen, an denen Menschen oft erst viel später erkennen, dass sie im Familiensystem die Rolle des Sündenbocks hatten:
Geburtstage werden vergiftet
Das goldene Kind bekommt teure, durchdachte Geschenke, eine aufwändige Feier und die echte Freude der Eltern. Harald, Noras Bruder, bekam zu Geburtstagen Dinge wie ein BMX-Fahrrad, Lego-Baukästen oder eine Stereo-Anlage.
Nora hingegen bekam nur praktische Dinge, wie Hausschuhe, Handtücher oder Bettwäsche.. Oder eine blaue, kratzige Spitzenbluse. „Ich habe jedes Mal weinend vor den ausgepackten Geschenken gesessen, weil ich so enttäuscht war“, erinnert sie sich. Zur Strafe, weil Nora so undankbar war, tauschte ihre Mutter die Geschenke um und kaufte sich selbst etwas. Noch heute feiert Nora ihren Geburtstag nicht gerne, die Erfahrung sitzt tief. Ihrer Mutter ist das Recht. Sie ist nämlich immer in Urlaub, wenn Nora Geburtstag hat.
Das ist typisch. Oft finden Eltern erwachsener Kinde Ausreden, um den Geburtstag ihrer Kinder nicht feiern zu müssen. Dann werden Reisen so gelegt, dass sie nicht da sind, oder im Zweifelsfall wird ein Streit vom Zaun gebrochen, damit man die Feier umgehen kann.
Kleidung macht es sichtbar
Das goldene Kind wird schön gemacht, mit Stolz präsentiert. Es hat neue Kleidung, wird regelmäßig zum Friseur geschickt, seine Bilder finden sich auf der Vitrine oder werden im Haus aufgehängt. Der Sündenbock trägt abgelegte Kleidung, oder Sache, die zu eng oder zu klein sind.
Nora spielte Tennis und ihre Sachen wurden irgendwann zu eng.„Das reicht doch“, sagte die Mutter. „Stell dich nicht so an“. Erst als Noras Vater mitkam und sah, wie eng die Sachen saßen, sprach er ihre Mutter an und Nora bekam neue Sportsachen. Harald hingegen, das „goldene Kind“, wurde selbstverständlich gut und teuer gekleidet. Es gibt unzählige Beispiele, die sich auf alle Lebensbereiche erstrecken.Das goldene Kind wird gelobt, wenn es eine 3 schreibt: „Du hast dein Bestes gegeben!“ Der Sündenbock bekommt bei einer 1 ein Achselzucken oder: „War ja nur Mathe.“ Nora erinnert sich: „Ich wurde nie für etwas gelobt. Höchstens, wenn ich meinem Bruder geholfen habe – dann war ich plötzlich nützlich.“
Du bist egal
Das goldene Kind darf fühlen. Wird getröstet. Bekommt Verständnis. Oft in übergroßem Maße. Der Sündenbock hingegen wird ignoriert. Belehrt. Als „zu empfindlich“ abgetan. Ignoriert. „Wir waren einmal in einem Ferienhaus, in dem wir die Läuse bekamen. Ich lief eine Woche mit juckendem Kopf umher und es hieß nur: „Stell dich nicht so an“. Dann bekam mein Bruder die Läuse und fing an, in der Nacht zu weinen. Meine Mutter sprang sofort auf, wusch ihm die Haare. Saß sorgenvoll neben seinem Bett und schaute genauer hin, auch bei mir. Mein Kopf war voll mit Krabbeltieren und die Kopfhaut war rot und zerbissen. Am nächsten Tag ging sie in die Apotheke. Mein Bruder wurde als erstes behandelt, ich danach. Und es gab natürlich kein Wort der Reue.
Niemand kann dich leiden
Das goldene Kind darf „einfach sein“ – es wird angenommen. Der Sündenbock muss sich immer erklären, anpassen, rechtfertigen.
„Meine Mutter hat immer gesagt: selbst dein Vater kann dich nicht leiden. Das Einzige, was er an dir mag, ist deine Leistung. Ich hatte immer Angst, wenn ich keine guten Noten bringe, kann ich nicht mehr ihr Kind sein. Sie hat nicht ausgesprochen, dass sie mich dann verstoßen würde, aber irgendwie habe ich es gespürt.“
Ja – das ist ein Satz, der mitten ins Herz trifft. Und eine Haltung, die Kinder über Jahre hinweg formt, verzweifeln lässt – und schließlich auf Abstand zu sich selbst bringt. Kein Kind sollte jemals denken müssen, dass es seine Zugehörigkeit erst verdienen muss. Denn Liebe – echte, tragende, haltende Liebe – ist keine Belohnung für gute Noten. Und Ablehnung ist keine Konsequenz für Fehler. Ein Kind braucht das sichere Gefühl: Ich bin willkommen – nicht weil ich etwas leiste, sondern weil ich da bin.
Was die Mutter in diesem Satz sagt, ist ein Verrat an genau diesem kindlichen Urvertrauen.
Sie vermittelt: Du bist nur dann richtig, wenn du funktionierst. Du bist nur dann tragbar, wenn du leistest. Dein Wert ist nicht in dir – er ist in deiner Nützlichkeit. Ein Kind, das ständig beweisen muss, dass es liebenswert ist, wird sich selbst verlieren – und alles dafür tun, um endlich gesehen zu werden. Auch die Eltern wurden irgendwann nicht gesehen. Aber das entschuldigt nicht, dass sie dieses Muster weitergeben.
Die Schuldfrage ist immer schon geklärt
Wenn es Streit gibt, wird automatisch das Sündenbock-Kind verantwortlich gemacht. Selbst wenn es nicht beteiligt war. „Wenn irgendetwas schiefging, war es immer meine Schuld. Es hieß immer: wir wissen ja, wie du bist.“
Wenn ein Kind in einer Familie regelmäßig die Schuld bekommt, auch wenn es gar nicht beteiligt war, dann geht es nie um Wahrheit. Es geht um Macht. Um Ordnung. Darum, dass jemand „unten“ stehen muss – damit das System stabil bleibt. Das ist emotionale Misshandlung. Und sie beginnt da, wo Erwachsene ihre Verantwortung auf ein Kind abwälzen – weil sie selbst keine Integrität leben können. Kein Kind ist von Natur aus schwierig. Aber ein Kind, das systematisch missverstanden, nicht gesehen und instrumentalisiert wird, wird reagieren. Nicht, weil es böse ist – sondern, weil es überleben will. Die Verantwortung liegt bei den Erwachsenen. Immer.

Zum Weiterlesen: “Aschenkind” von Livia Brand. Viele Kinder narzisstischer Mütter wachsen äußerlich „gut“ auf. Sie sind gepflegt. Werden pünktlich zur Schule gebracht. Haben eine Brotdose mit geschnittenem Obst. Was fehlt, ist nicht das Sichtbare – es fehlt das Gesehenwerden. Betroffene wissen im Inneren, dass etwas nicht stimmt, haben aber keine Worte dafür. Ein Selbsthilfe-Ratgeber für alle, die glauben, nicht richtig zu sein. Es kann sein, dass die Ursache gar nicht in dir liegt.