
Der Sündenbock und das Märchen von Frau Holle
Was viele als Kindergeschichte lesen, ist für manche bittere Realität: Wer in einer Familie mit einer narzisstischen Mutter zur „Pechmarie“ gemacht wird, erfährt oft Ablehnung statt Liebe – einfach, weil man nicht ins Bild passt.
Goldmarie und Pechmarie – zwei Rollen, ein System
Fast jeder kennt das Märchen von Frau Holle. Zwei Mädchen. Zwei Wege. Zwei Ergebnisse. Die eine ist fleißig, gehorsam, brav – sie hilft, ohne zu klagen, sie macht, was man ihr sagt. Und das, obwohl sie schlecht behandelt wird. Am Ende aber wird sie mit Gold überschüttet, so heißt es. Die andere ist verwöhnt. Der Liebling. Bequem, langsam, unwillig – sie macht, was sie muss, aber nicht aus Überzeugung. Am Ende wird sie mit Pech übergossen. Goldmarie gut. Pechmarie schlecht.
So einfach scheint die Moral.
Was, wenn wir das Märchen als Familiensystem lesen?
Und dann gehen diese beiden Kinder ins Leben hinaus. Und da werden sie von der Welt gespiegelt. Und die Welt sieht, was die Mutter nicht sehen konnte.
Goldmarie, der Sündenbock, wird zu einem Kind, das funktioniert. Das sich anpasst. Das leistet. Das spürt, was erwartet wird – und es liefert. Sie wird belohnt. Aber nicht für ihr Wesen – sondern für ihre Nützlichkeit. Für ihr „Ja“. Für ihr Ertragen. Für ihren Gehorsam. Und sie wird nicht von ihrer Mutter belohnt, sondern vom Schicksal. Viele Sündenböcke entwickeln sich zu Erwachsenen, die „funktionieren“, überdurchschnittlich viel leisten, sich anpassen – und gleichzeitig sehr traurig sind. Denn sie haben gelernt, anderen zu dienen, nicht sich selbst zu leben. Viele dieser Menschen kommen irgendwann an einen Punkt, an dem sie trotz äußerlichem Erfolg spüren:
Ich bin erschöpft. Ich funktioniere. Aber ich lebe nicht wirklich.
Pechmarie scheitert – nicht, weil sie “böse” ist, sondern weil sie nichts tut, weil sie nicht wachsen will. Sie hat alles bekommen, ohne dafür zu leisten, weil sie das goldene Kind war. Doch genau deshalb hat sie nie gelernt sich anzustrengen, mit Widerstand umzugehen und eine echte Beziehung zu sich aufzubauen. Und das ist der eigentliche Kern: Sie bleibt innerlich stehen. Sie erwartet, dass die Welt sie belohnt – einfach so. Weil es doch immer so war. Oft werden goldene Kinder neidisch, wenn der Sündenbock später im Leben weiterkommt und fühlen sich ungerecht behandelt, haben aber keine Werkzeuge, um etwas zu verändern und scheitern – nicht an der Welt, sondern an ihrer inneren Trägheit. Denn das Leben, anders als die Mutter bevorzugt nicht. Es prüft: Was machst du aus dem, was du hast? Und so steckt in Frau Holle auch sehr viel Trost. Es ist ein Märchen über Reifung. Auch wenn du dich klein fühlst. Auch wenn du dienen musstest, zu früh, zu viel. Auch wenn du übersehen wurdest: Dein Weg zählt. Es zeigt, wer sich dem Leben nicht entzieht – sondern es annimmt und mitgestaltet – wird getragen.
Warum ich?
In Wahrheit ist es so: Viele Geschwister werden in Rollen gedrängt:
– Die eine glänzt – und wird idealisiert
– Die andere stört – und wird kritisiert
Nicht weil sie besser oder schlechter sind.
Sondern weil das System zwei Plätze braucht: einen oben, einen unten.
Geschwisterliebe? Oft unmöglich.
In vielen Familien wiederholt sich das Märchen.
Ein Kind wird zum Goldkind erklärt. Es wird gelobt, bewundert, in Schutz genommen.
Das andere wird zum Sündenbock gemacht. Es wird kritisiert, kleingehalten, beschämt.
Die Mutter vergleicht, stichelt, lobt selektiv:
„Warum kannst du nicht ein bisschen mehr sein wie deine Schwester?“
„Dein Bruder macht das einfach, ohne großes Drama.“
Sie stellt sich selbst dabei oft als die verständnisvolle Vermittlerin dar – aber sie ist es, die die Rollen verteilt, die die Bühne baut, auf der einer glänzen darf und der andere untergehen muss.
Und so entsteht kein Miteinander, sondern ein Graben zwischen den Geschwistern.
Ein stiller Krieg. Aus Neid. Aus Verletzung. Aus der schmerzhaften Erfahrung, dass man aufeinander eifersüchtig ist – obwohl man sich vielleicht lieben würde, wenn man denn dürfte.
Wie sollen sich Kinder verstehen, wenn sie lernen, dass es in der Familie nur Platz für eine Rolle gibt – und nur einer gewinnen kann? Denn wer die Pechmarie war, glaubt oft: Ich war nicht genug.
Und wer die Goldmarie war, spürt: Ich durfte nie ich selbst sein. Und das perfide daran: Die Mutter braucht diesen Graben. Denn er sichert ihre Machtposition. Solange die Kinder sich untereinander vergleichen, streiten, konkurrieren, kommt niemand auf die Idee, nach oben zu schauen. Dorthin, wo die Strippen gezogen werden. Wo entschieden wird, wer glänzen darf – und wer Pech am Rücken trägt. Sobald also die Mutter ins Spiel kommt, ist die Rollenverteilung klar.
Und später im Leben?
Die Rollen enden nicht mit der Kindheit. Das goldene Kind trägt weiter den Druck der Perfektion.
Es will es „allen recht machen“. Es funktioniert. Es lächelt. Aber oft ist es innerlich leer. Der Sündenbock trägt die Last der Schuld. Zweifelt an sich. Fühlt sich falsch. Zieht Menschen an, die ihn abwerten – weil das vertraut ist. Beide sind entwurzelt. Beide sehnen sich danach, gesehen zu werden – nicht als Rolle, sondern als Mensch.
Wenn es so ist,
– …dass du dich neben deiner Schwester klein fühlst, ohne es zu wollen
– …dass du deinem Bruder nie verziehen hast, obwohl du weißt, dass er auch nur ein Kind war
– …dass du dich schuldig fühlst, obwohl du nur du selbst warst
…dann ist das kein Beweis für deine Unversöhnlichkeit.
Es ist der Beweis dafür, dass die Rollen von damals heute noch wirken.
Du darfst aussteigen
Das Kind, das zum Sündenbock wurde, ist heute vielleicht eine Frau oder ein Mann, die bei jeder Kritik innerlich erschrecken. Die sich rechtfertigen, bevor sie überhaupt verstanden haben, worum es geht. Die sich nicht trauen, einfach da zu sein – weil sie gelernt haben:
Ich bin nur sicher, wenn ich nichts falsch mache. Aber genau in diesem Schmerz liegt eine besondere Kraft. Denn wer so tief verletzt wurde, trägt auch einen tiefen Wahrheitssinn in sich. Der Sündenbock leidet – ja. Aber er ist auch der Erste, der das Spiel durchschaut. Der Erste, der sich fragt: Will ich das weiter mitspielen? Und vielleicht der Einzige, der die Kraft findet, auszusteigen.
Das tut weh. Es macht einsam. Aber es macht auch frei. Und genau deshalb ist es oft der Sündenbock, der am Ende wirklich glücklich wird – nicht, weil ihm die Welt Applaus spendet,
sondern weil er sich selbst wiedergefunden hat.
Ich möchte dir heute sagen:
„Es war nicht deine Schuld.
Du warst nur das Kind, das am meisten fühlte.
Und dafür bestraft wurde.“

Zum Weiterlesen: “Aschenkind” von Livia Brand. Viele Kinder narzisstischer Mütter wachsen äußerlich „gut“ auf. Sie sind gepflegt. Werden pünktlich zur Schule gebracht. Haben eine Brotdose mit geschnittenem Obst. Was fehlt, ist nicht das Sichtbare – es fehlt das Gesehenwerden. Betroffene wissen im Inneren, dass etwas nicht stimmt, haben aber keine Worte dafür. Ein Selbsthilfe-Ratgeber für alle, die glauben, nicht richtig zu sein. Es kann sein, dass die Ursache gar nicht in dir liegt.