Kolumne

Berufsorientierung

– ohne Hund.

So gesehen … | Die Kolumne von Anna Maria Ram.

Neulich im Geschichtsunterricht:

„Mili, welche Bedeutung bei Kleidern hatte die Farbe Rot im Mittelalter?“

„Öhm, König!“

„Ja, okay, bitte in einem ganzen Satz antworten!“

„Weil, wegen König!“

„Hmm, schon ganz gut, geht das etwas ausführlicher?“

„Weil wegen König, rot!“

„Ähm, ja, nicht ganz falsch, vielleicht etwas mehr ins Detail gehen….BITTE!“

„Wie war noch mal die Frage?“

„Also gut, einen Versuch noch: Welche Bedeutung hatte die Farbe Rot im Mittelalter?“

„Aaah, ich weiß!“

„Dann bitte, leg los!“

„Weil rot, weil König, weil [holt tief Luft] ALAAAARRRRMMM!!!“

Die Ferien mögen lange hinter uns liegen, aber in den Pubertieren, die ich täglich vor mir zähmen darf, scheint die Sommersonne noch immer holografisch durchzuscheinen, ganz ohne kognitiven Widerstand zu leisten.

Nicht verwunderlich, wenn wir bedenken, dass ihnen in den sozialen Netzwerken in diversen lebenswichtigen Challenges suggeriert wird, dass es immens fortbildende Wirkung hat, sich motorisch fragwürdig zu frauenfeindlichen Raptexten in überdimensionalen Designerklamotten zuckend über den Schulhof zu bewegen, so dass die nicht mehr berufstätige Nachbarschaft zwischen Notruf und Weihwasser hin- und hergerissen ist.

Und das Beispiel aus dem Geschichtsunterricht ist dabei kein Einzelfall. Vielleicht kann ein Experte von außerhalb der Perspektivlosigkeit der Talahons- und Talahühnern entgegenwirken, ganz klassisch, mit einer Berufsberatung durch das Jobcenter.

Hieß, wie jeder sicherlich weiß, früher „Agentur für Arbeit“. Das „Agentur“ hätte ich beibehalten und, bezogen auf meine adoleszente Konfettikanone jugendlicher Schulabhänger, gerne durch etwas Künstlerisches ersetzt.

„Wann kommt denn der Jiggo vom Center?“, will Wesley im Arbeitslehreunterricht wissen, während ich mir im hinteren Teil des Klassenraums an der Heizung zu schaffen mache.

„Wesley, es wäre schön, wenn du die höfliche Anrede nutzen könntest!“, seufze ich frustriert, auch wegen der ausgefallenen Heizung und beschließe diesen Winter nicht zu erfrieren.

„Hab‘ ich doch, auf dem HOF rede ich doch auch so!“, entgegnet Wesley, als es fordernd an der Tür klopft.

„Frau Ram?“, steckt der stellvertretende Schulleiter den Kopf in die Tür und mein Augenlid zuckt urplötzlich, weil ich direkt, wie bei einem Amoklauf die „Wir tun so, als machen wir normalen Unterricht!“- Liste in meinem Kopf abspule, in der Hoffnung einige der Köpfe vor mir arbeitet mit.

„Guten MORGÄÄHN, Herr Dingeldi!“, schallmeit die Truppe vorbildlich und ich entspanne mich augenblicklich etwas.

„Ja, bitte?“, krächze ich heiser, langsam spüre ich meine Beine wieder.

„Da unten steht ein Mann mit einem Koffer vor dem Sekretariat, der will glaube ich zu Ihnen, er sagt, er kommt vom Jobcenter!“, führt Herr Dingeldi aus und wirft einen subtil kontrollierenden Blick in die noch immer aufrechtstehende Runde.

„Wieso steht ihr denn noch?“, wundert sich Kollege Dingeldi und erneut beginnt sich eine schleichende Taubheit meiner Sinne zu bemächtigen, wie das perfekte erste Opfer in einem Horrorfilm!

„Wir üben die National-Hümmänä!“, freut sich Mohamed über seine blitzschnelle Kreativität.

Oh Gott, gleich geht’s los, gleich regnet es Blut vom Himmel und die biblischen Plagen kehren zurück!

„Aha, na dann lasst mal hören!“, lauert Herr Dingeldi und wagt einen weiteren Schritt in die Klasse. Wilde Blicke in meine Richtung sagen mir, dass hier wirklich niemand weiß, was jetzt zutun ist und auch Mohamed rudert wild mit den Armen, in einer Art Versuch zu dirigieren.

„Können wir uns erst einmal aufwärmen? Das macht man vor jedem Spiel so!“, versucht Wesley krampfhaft die Situation zu retten und davon abzulenken, dass einige der Mädels mit ihren Kunstfingernägeln krampfhaft versuchen unterm Tisch auf Google die richtigen Tasten für die Wörter „National-Hümmänä-Lyrics“ zu treffen.

„Lasst mal gut sein, danke euch!“, winkt Dingeldi augenzwinkernd ab, „ich schicke Ihnen den Herrn Harz nach oben, okay?“, schließt der Kollege und ich schwöre, ich hätte beinah angefangen in meine Tischschublade zu kübeln.

Mit dem Schließen der Tür beginnt die erstaunlich präzise Logistik der Neuntklässler, Tische und Stühle zu einer gruppenfreundlichen Sozialform zusammenzurücken, was natürlich nicht ohne begleitende Sprüche vonstattengeht.

„Nimm deine Füße vom Stuhl, walla!“

„Setz dich doch auf die!“

„Häng ma nich, walla!“

„Wo häng ich, deine Mutter …!“

„Hat jemand meinen Lippgloss gesehen?“

Ein weiteres, eher verhaltenes Klopfen an der Tür unterbricht den Bazar der guten Laune und die Jugendlichen nehmen auf ihren Stühlen Platz und drehen unheilvoll, fast lauernd, wie in „Der Exorzist“, zeitgleich die Köpfe zur Tür.

„Herreiiiin!“, trillern die Kids, was mich von außen dazu veranlasst hätte, außer Landes zu fliehen, aber der gute Herr Harz, seines Zeichens Berufs-Jiggo vom Jobcenter, scheint Leid gewohnt zu sein und öffnet selbstbewusst und todesmutig unsere Höhlenwand.

„Guten Morgen, liebe 9a, ihr dürft euch heute mit mir über eure Zukunft unterhalten!“, freut sich Herr Harz und schaut so dermaßen motiviert in die Truppe, dass ich erwarte, er holt gleich noch eine Ladung veganer Energiebällchen aus seinem Koffer und stimmt „Aramsamsam“ an.

„Woah, ist das ne echte Rolex?“, staunt Mili, als Herr Harz neben ihm im Sitzkreis Platz nimmt.

„Ja, die hat mir meine Frau geschenkt!“, antwortet Harz freundlich und öffnet seinen Koffer mit Broschüren.

„Kann Ihre Frau noch welche Uhren klären?“, will Mohamed wissen.

„Wie heißt Ihre Frau?“, will Wesley wissen.

„Benutzt Ihre Frau auch Lippgloss?“

Ich wusste es, geht wieder in die falsche Richtung, wie ein Wandertag in der Wüste.

Aber Harz-Jiggo scheint sehr gut geschult und hält erstaunliche zwanzig Minuten durch, bevor auch sein Augenlid anfängt leicht zu zucken.

„Dann lasst uns jetzt mal zu euren Vorstellungen von Berufen kommen!“, wird Harz schließlich etwas lauter, „wer von euch hat sich denn eine Frage zu einem Beruf überlegt?“

Ich werde nervös. Niemand scheint meine Hausaufgabe bearbeitet zu haben. Plötzlich hebt Mili grinsend die Hand. Mir schwant Böses. Erneut begebe ich mich innerlich an meinen Safe-Place, eine Tiki-Bar in Hawaii, wo meine Schüler nicht hinkommen, weil sie dafür kein Visum bekommen würden.

„Welchen Abschluss braucht man, um Mafiaboss zu werden?“, will meine albanische Spaßkanone wissen.

„Au ja, braucht man einen Führerschein für ganztägig GTA zu spielen?“

„Ohh, ohh, und zählt es als Überstunden, wenn man Extensions in Überlänge der BFF [Besten Freundin Forever] in die Haare macht?“

Herr Harz nestelt umständlich einige Berufs-Informationsbroschüren aus seinem Koffer und startet einen weiteren Versuch etwas mäßig Sinnvolles in die Runde zu werfen.

„Wenn es euch interessiert, hier habe ich euch etwas mitgebracht, mit ihr euch jetzt erst einmal etwas beschäftigen könnt“, freut er sich über die kurz erkämpfte Aufmerksamkeit.

„Wir dürfen uns damit beschäftigen?“, fragt Wesley triumphierend.

„Sicher, gerne, fühlt euch frei, werdet KREATIV!“, motiviert Harz-Jiggo versehentlich, die Hyänen- artig zum Sprung ansetzenden Jugendlichen.

Ich schwitze.

Jetzt braucht diese bockige Heizung auch nicht mehr zu funktionieren!

„Geil!“, freut sich Mohamed, „da steht drin, man verdient als Trainer schon richtig gut Geld!“

Was passiert hier?

„Ja, aber dafür musst du mit Big Mamas trainieren.“

„Deine Mama is big!“

„Walla ich geb dir gleich big!“

„Hab meinen Lippgloss gefunden!“

Sehe ich richtig???? Lesen die? Können die das?

Tatsächlich! Einer außerkörperlichen Erfahrung gleich, sehe ich, schwebend über meinem an der Heizung lehnenden Körper, wie meine Neuntklässler ihre Nasen eifrig in völlig WLAN-freie Job-Broschüren stecken und, naja, LESEN!

Eine winzige Träne bahnt sich den Weg über meine schlecht geschminkten Wangen, kann man seinen Augen trauen, wie herrlich!

Harz-Jiggo erhebt sich unauffällig von seinem Platz, reicht mir ein Taschentuch und flüstert: „Die werden halt irgendwann dann doch erwachsen, dann macht es einfach Klick!“

Und wer weiß, vielleicht wird einer von ihnen ja Heizungsmonteur und kann uns in den kommenden Wintern vor dem Erfrieren retten.

Ein Hoch auf den Jobcenter-Jiggo, macht es gut und packt euch warm ein – der Winter kommt.


Anna Maria Ram arbeitet als Pädagogin im hessischen Schuldienst. Dabei begleiten sie phasenweise ihre Deutschen Boxer, alle aus dem Tierschutz, in Klassen mit besonderen Ansprüchen und Lernschwierigkeiten. Anna Maria ist ebenfalls Buchautorin. Ihr Buch „Die anderen sind eh schlauer als uns!“ erscheint im Minerva Verlag. Für das Magazin „HundeWelt“ schreibt sie regelmäßig ihre eigene Kolumne. Hier auf Minerva VISION liegt ihr Schwerpunkt auf den Skurilitäten des Alltags.


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