Wie Fritzis tödliche Erkrankung ihren Schrecken verlor
Als ihre Eltern mit der damals acht Wochen alten Fritzi wegen eines Hustenanfalls ins Krankenhaus fuhren, wussten sie noch nicht, dass ihre Tochter an der seltenen Erkrankung „Morbus Pompe“ leidet. Das Glück im Unglück führte die Familie aus Stadtlohn schließlich ans UKM, wo auf den Schock der bislang normalerweise tödlich verlaufenden Erkrankung ein Wettlauf gegen die Zeit folgte – und wo heute, dank eines noch nicht zugelassenen Medikaments, eine symptomfreie Fritzi auf eine (fast) normale Kindheit und Entwicklung hoffen darf.
Münster (ukm/lwi). „Fritzi hatte einen schweren Anfall von trockenem Husten, der nicht wieder aufhörte“, erzählt Mutter Daniela Oenning von dem Abend, der das Leben ihrer Familie auf den Kopf stellen sollte. „Erst auf dem Weg zum Krankenhaus beruhigte sie sich wieder, so dass wir fast umgedreht wären.“ Ein Glück, dass sie es nicht getan haben. Im Krankenhaus in Coesfeld stellte eine Ärztin fest, dass im linken Lungenflügel des erst acht Wochen alten Mädchens keine Atemgeräusche wahrnehmbar waren und überwies Fritzi aus Kapazitätsgründen an das St. Franziskus-Hospital in Münster. Dort entdeckten die Ärztinnen und Ärzte in der Bildgebung ein etwa fünf- bis sechsfach vergrößertes Herz, das praktisch den gesamten linken Lungenflügel verdrängt hatte. Mit dem Rettungswagen ging es für Fritzi ins UKM (Universitätsklinikum Münster).
Nur einer von 40.000 Menschen ist betroffen
Einen so schnellen und intensiven Krankheitsverlauf kurz nach der Geburt hatte dort auch Prof. Thorsten Marquardt, Leiter des Schwerpunktes Stoffwechselerkrankungen an der UKM-Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, in über 30 Jahren noch nicht gesehen. Der Verdacht auf „Morbus Pompe“ kam ihm und seinem Team wegen der typischen Anzeichen glücklicherweise schnell. „Bei der Erkrankung fehlt dem Körper ein Enzym, das die Zuckerkette Glykogen abbaut. Dadurch sammelt es sich in den Muskeln und macht diese funktionsunfähig. Muskelschwäche und ein stark vergrößertes Herz sind typische Symptome“, erläutert der Experte für seltene Erkrankungen. Etwa einer von 40.000 Menschen ist davon betroffen – damit zählt die Pompe-Erkrankung nicht nur zu den seltenen (einer von 2.000), sondern sogar zu den ultraseltenen Erkrankungen (einer von 10.000).
Morbus Pompe endete früher tödlich
„Als ich 1992 am UKM angefangen habe, war das gar nicht behandelbar und man musste den Eltern nach der Diagnose sagen, dass ihr Kind den ersten Geburtstag nicht erleben wird“, blickt Marquardt zurück. Die Kinder wurden in ihrer kurzen Lebenszeit immer muskelschwächer bis Atmung und Kreislauf versagten. Als 2006 die erste und bis heute noch übliche Therapie zugelassen wurde, veränderte sich die Prognose für die Betroffenen – sie überlebten immer öfter bis ins Jugendalter, lagen aber oft bewegungsunfähig an der Beatmungsmaschine.
2019 hatte Marquardt einen jungen Patienten, bei dem diese Therapie das Fortschreiten der Krankheit aber nicht verlangsamte. Marquardt begann zu recherchieren und stieß auf ein US-amerikanisches Unternehmen, dessen Medikament bis dahin aber weder zugelassen, noch überhaupt an Kindern erprobt war, und bat um Hilfe. Die kam, das Medikament wurde dem Jungen damals im Rahmen eines Einzelheilversuchs verabreicht und hatte eine Wirkung, die alle Erwartungen übertraf.
Medikament enthält fehlendes Enzym
Auch Fritzi sollte nun davon profitieren, musste aber zunächst noch auf die Verdachtsdiagnose „Morbus Pompe“ getestet werden. „Das alles war eine echte Horrorzeit“, blickt Fritzis Vater Dirk Könning auf die Tage zurück, „in denen nicht klar war, ob man etwas findet und ob es behandelbar ist“. Bei Fritzi bestätigte sich der Verdacht, doch das US-Unternehmen wollte das Mittel kein zweites Mal – zumal für ein noch so junges Kind – zur Verfügung stellen, solange kein Versuch mit dem bisherigen Medikament unternommen worden war. Unter Zeitdruck wandte Marquardt sich direkt an den Geschäftsführer – mit Erfolg. Fritzi bekam als weltweit zweites Kind das Medikament, das im Wesentlichen das fehlende Enzym enthält, und zeigte sofort Verbesserungen. Die Erkenntnisse aus Münster flossen in eine multinationale Studie des Herstellers ein, damit bald eine Zulassung des Arzneimittels erfolgen kann.
Heute ist Fritzi 16 Monate alt
Heute ist Fritzi 16 Monate alt, läuft frei, „quasselt viel“, wie die Eltern sagen, und zeigt insgesamt eine normale altersgerechte Entwicklung. Damit ihre Körperabwehr die wohl lebenslänglich wöchentlich zu verabreichenden Enzyme nicht abstößt, muss ihr Immunsystem etwa zwei Mal im Jahr supprimiert, also medikamentös unterdrückt werden. „Deshalb versuchen wir natürlich, sie so gut wie möglich vor Infektionen zu schützen“, sagen die Eltern, haben dabei aber natürlich auch die soziale Entwicklung ihrer Tochter im Blick. Ab August soll Fritzi in eine Großtagespflege gehen, eine kleine Gruppe mit neun Kindern. Im Moment freuen sich die Eltern und Fritzis älterer Bruder Ben aber einfach über diesen Verlauf, der für viele andere Kinder nicht möglich war und häufig noch immer nicht möglich ist. „Wir hatten sehr viel Glück“, sagen Daniela Oenning und Dirk Könning. „Im Moment sind wir jede Woche freitags für die Gabe der Enzyme hier – und diesen Tag nehmen wir natürlich sehr gerne in Kauf.“
„Als ich 1992 am UKM angefangen habe, war das gar nicht behandelbar und man musste den Eltern nach der Diagnose sagen, dass ihr Kind den ersten Geburtstag nicht erleben wird“ Prof. Marquardt
Marquardt ist es wichtig, Eltern von betroffenen Kindern auf diese positive Entwicklung und die Heilungsmöglichkeit aufmerksam zu machen, die auch für ihn nichts Alltägliches ist. Viele wüssten nichts von dieser Option, sagt er – und andere nehmen dafür viele Widrigkeiten in Kauf: Aktuell erwartet Marquardt eine Familie aus Dänemark am UKM, die künftig wöchentlich nach Münster kommen wird, um die Therapie für ihr Kind hier durchführen zu lassen.
Foto (UKM): Fritzi während ihrer wöchentlichen Medikamentengabe am UKM – zusammen mir Ihren Eltern Daniela Oenning und Dirk Könning sowie Prof. Thorsten Marquardt (r.), Leiter des Schwerpunktes Stoffwechselerkrankungen an der UKM-Klinik für Kinder- und Jugendmedizin – Allgemeine Pädiatrie.
Der Kommentar von Claudia aus dem Minerva-Vision-Team:
Weil jemand den Mut hatte, die Extrameile zu gehen
Fritzis Geschichte zeigt eindrucksvoll, was Medizin heute leisten kann – wenn Ärztinnen und Ärzte den Mut haben, über den Tellerrand hinauszuschauen. Eine Diagnose, die einst als Todesurteil galt, verlor ihren Schrecken, weil Menschen wie Prof. Marquardt nicht stehen bleiben. Statt sich mit dem Offensichtlichen abzufinden, hat er weitergefragt, weitergesucht – und den Mut gehabt, neue Wege zu gehen.
Das ist mehr als reine Wissenschaft. Es ist Menschlichkeit im besten Sinne. Es braucht nicht nur Fachwissen, sondern die Bereitschaft, sich stetig fortzubilden, internationale Entwicklungen im Blick zu behalten und auch mal unkonventionelle Entscheidungen zu treffen – genau das hat Fritzi das Leben gerettet. Aber es war ein Weg ins Ungewisse und viele Menschen scheuen davor zurück. Könnte ja gefährlich werden! Aber wenn man immer nur das Gleiche macht, wird man auch immer nur das Gleiche erreichen. Neue Wege zu gehen ist immer riskant – aber manchmal die einzige Chance. Fritzis Geschichte ist ein Paradebeispiel dafür, warum es in der Medizin nicht nur um Lehrbücher geht, sondern darum, vorhandenes Wissen auszubauen und sich gut zu vernetzen.
Prof. Marquardt hat genau das getan. Er hat nicht aufgegeben, als es keine einfache Lösung gab. Er hat hinterfragt, recherchiert und internationale Kontakte genutzt – bis er das Medikament fand, das Fritzi das Leben rettete. Und obwohl es noch nicht zugelassen war, entschied er sich mutig für den Einzelheilversuch. Das erfordert nicht nur medizinisches Wissen, sondern Herz, Verantwortung und die Bereitschaft, Neuland zu betreten.
Auch für Fritzis Eltern war es ein gewagter Schritt – ein Sprung ins Unbekannte. Sie mussten sich mit dem Gedanken anfreunden, dass es keine Garantie gibt. Aber wer hätte den Strohhalm nicht ergriffen, der sich ihnen darbot? Und wie schön, dass alles so gut gegangen ist. Heute sehen sie, wie ihre Tochter läuft, wie sie lacht und wie sie lebt – nur, weil jemand den Mut hatte, die Extrameile zu gehen.
Fritzis Geschichte erinnert uns daran, dass Fortschritt nicht von allein geschieht. Er braucht Menschen, die bereit sind, mehr zu tun als das Nötigste, die sich nicht mit „Das war schon immer so“ zufriedengeben. Menschen, die verstehen, dass Stillstand manchmal das eigentliche Risiko ist. Und das ist eine universelle Weisheit. Sie gilt nicht nur in der Medizin – sie gilt im Leben. Was uns jetzt bleibt, ist, diese Geschichte bekannt zu machen. Damit andere Kinder, die an Morbus Pompe erkranken, auch geheilt werden können. Also tut Gutes, und redet darüber. Denn manchmal kann man auch so Leben retten.