
Warum Loslassen so schwer ist
Und wie es trotzdem gelingt
Hier schreibt die Ute. Über 50, mit mehr Lebenserfahrung als Faltencremes im Badezimmerschrank. Liebt Bücher, guten Rotwein und Gespräche, die auch mal wehtun dürfen. Sie hält nichts von Schönheitswahn und Fitness-Apps, aber viel von ehrlichen Worten und warmem Apfelkuchen. Mit Sahne. Und jeden Dienstag schenkt sie uns ihre Gedanken.
Es gibt ja diese Ratgeber, die uns weismachen wollen, Loslassen sei ein Kinderspiel. „Lass los und du bist frei!“ steht da. Als könnte man ein altes Leben einfach abstreifen wie eine zu enge Bluse nach einem zu üppigen Abendessen. Ich lache dann immer. Denn ich kenne niemanden, der sagt: „Ach, heute hab ich spontan beschlossen, alles loszulassen — und zack, war ich erleuchtet!“
Loslassen ist schwer. Es ist verdammt schwer.
Wir hängen an Menschen, an Dingen, an Erinnerungen, an alten Geschichten, die wir uns seit Jahrzehnten erzählen. Wir halten an Beziehungen fest, die schon lange in Schieflage sind, an Möbeln, die längst auseinanderfallen, an einem Bild von uns selbst, das schon gar nicht mehr stimmt.
Warum?
Weil wir uns an Vertrautem festklammern wie an einer rettenden Planke. Weil wir glauben, ohne diese Planke unterzugehen. Wir wissen, dass die Beziehung uns unglücklich macht, dass die Jeans aus 1995 uns nie wieder passen wird, dass der Job uns auslaugt. Aber es ist bekannt, es ist gewohnt — und alles, was wir kennen, vermittelt uns Sicherheit.
Die Angst vor der Leere
Loslassen bedeutet, eine Lücke zu schaffen. Und diese Leere, dieses unheimliche „Dazwischen“, in dem wir nicht mehr die Alten sind, aber auch noch nicht die Neuen — das macht uns Angst.
Wir fürchten, dass nach dem Loslassen nichts mehr kommt. Dass wir uns verlieren. Dass wir dann ohne Halt durch ein endloses All treiben.
Doch genau hier liegt der Knackpunkt: Wer nicht loslässt, hält sich selbst klein. Er bleibt in der Vergangenheit stecken, anstatt Platz für Neues zu schaffen.
Ich kenne das gut. Ich bin Weltmeisterin im Festhalten. Ich hebe alte Briefe auf, alte Klamotten, sogar Tassen mit abgebrochenem Henkel, weil sie „so viele Geschichten erzählen“. Geschichten, die meistens niemand mehr hören will — nicht mal ich selbst.
Kleine Schritte statt große Sprünge
Wie also gelingt das Loslassen? Ganz sicher nicht mit einem Riesenknall oder einer radikalen Aufräumaktion (obwohl ich die Vorstellung mag, einmal das ganze Leben in einen Container zu werfen und mit einem Cabrio in den Sonnenuntergang zu fahren).
In Wahrheit beginnt Loslassen leise. In kleinen Schritten.
- Eine Schublade ausräumen. Nur eine.
- Einen Brief lesen, ihn vielleicht sogar ein letztes Mal streicheln — und dann wegwerfen.
- Einen Menschen in Gedanken verabschieden, ohne gleich alles in Drama und Tränen aufzulösen.
- Einmal NEIN sagen, wo man sonst immer JA gesagt hätte.
Loslassen bedeutet nicht, dass uns etwas egal sein muss. Es bedeutet, dass wir anerkennen: Alles hat seine Zeit. Und manches ist vorbei.
Freiraum für das, was kommen darf
Ich glaube, am Ende geht es beim Loslassen nicht um Verzicht, sondern um Einladung. Wir machen Platz. Für eine neue Liebe. Für ein neues Hobby. Für uns selbst. Denn wer zu sehr am Alten hängt, hat keine Hand frei fürs Neue. Und, ganz ehrlich: Wie oft haben wir losgelassen und später gedacht — „Warum eigentlich nicht schon viel früher?“
Und falls du scheiterst?
Dann ist das auch okay. Loslassen ist kein Wettbewerb. Manchmal braucht es Jahre. Manchmal gelingt es nur ein kleines bisschen, manchmal gar nicht. Wir müssen nicht über Nacht zu meditierenden Zen-Mönchen werden. Ich jedenfalls halte noch immer an einer alten Vase fest, die aussieht wie ein gescheiterter Töpferkurs in der Mittelstufe. Ich schaue sie an, seufze und denke: „Nächstes Jahr, wirklich!“ Aber dann gieße ich die Blumen hinein, stelle sie auf den Tisch — und finde sie plötzlich doch wieder schön. Loslassen ist kein endgültiger Sieg. Es ist ein ständiges Üben. Ein freundliches Zureden an uns selbst. Und manchmal, nur manchmal, schaffen wir es — und merken: Diese Leere, vor der wir so viel Angst hatten, ist gar nicht leer. Sie ist voller Möglichkeiten.
Die Ute vom Dienstag