Sativex und die weißen Ratten -Warum ich mein Cannabis-Medikament abgesetzt habe
Mein Leben mit MS:
Hallo und herzlich willkommen bei MS-Voices! Ich bin Irene, und hier dreht sich alles um das Leben mit Multipler Sklerose (MS). Als ich vor einigen Jahren die Diagnose erhielt, hat sich mein Alltag auf den Kopf gestellt – und ich war plötzlich mit unzähligen Fragen, Ängsten und Herausforderungen konfrontiert. In diesem Blog möchte ich meine persönlichen Erfahrungen mit euch teilen und Menschen eine Stimme geben, die unter MS leiden. Wie ist das wirklich, mit MS zu leben? Wie verändert es den Alltag, die Beziehungen und die Zukunftsplanung? Hier gibt es ehrliche Einblicke, praktische Tipps und die ein oder andere Anekdote aus meinem Leben – direkt aus dem Herzen einer Betroffenen.
Jeder vierte Nutzer von medizinischem Cannabis entwickelt eine Abhängigkeit – das haben Forscher mit einer Metaanalyse über 3.681 Patienten rausgefunden. 25 % nach DSM-5-Kriterien, genauso hoch wie bei Kiffern, die es zum Spaß machen.
Ich gehöre nicht zu diesen 25 %. Trotzdem habe ich mein Sativex abgesetzt. Von heute auf morgen. Ohne Rücksprache mit meinem Neurologen. Die Gründe waren andere – aber genauso beschissen.
14 Studien, ein Ergebnis
3.681 Menschen mit medizinischem Cannabis aus 5 verschiedenen Ländern. 29 % der Anwender entwickelten in den letzten 6-12 Monaten eine Cannabiskonsumstörung nach DSM-5-Kriterien. Nach den älteren DSM-IV-Kriterien waren es 24 %.
Über alle Zeiträume war jeder vierte Nutzer betroffen. Genauso hoch wie bei Leuten, die Cannabis zum Vergnügen konsumieren.
Besonders gefährdet: Menschen mit psychischen Erkrankungen und chronischen Schmerzen. Also genau die, denen medizinisches Cannabis helfen soll. Pervers, oder?
Zwei Jahre Sativex – und dann die Ratten
Ich habe das Spray zwei Jahre genommen. Für meine MS-Spastik. Hat auch funktioniert – verkrampfte Muskeln wurden lockerer, Schmerzen weniger. Soweit, so gut.
Dann kamen die Albträume. Weiße Ratten, die sich an weißen Kalkwänden über meinem Kopf rausgewunden haben. Klingt harmlos? War es nicht. Diese Träume haben mir jedes Mal unfassbare Angst gemacht. Schweißgebadet aufgewacht, Herzrasen, komplette Panik.
War das vom Sativex? Keine Ahnung. Aber diese verdammten Ratten-Albträume waren der erste Grund, warum ich über Schluss machen nachgedacht habe.
Ein Polizist öffnet mir die Augen
Der zweite Grund war ein Gespräch mit einem befreundeten Polizisten. Ich erzählte ihm, dass ich täglich 50 km zur Arbeit fahre – unter Sativex. Offiziell erlaubt, stand im Beipackzettel.
Seine Antwort hat mich erschreckt: “Irene, was, wenn du einen Unfall baust und es kommt raus, dass du dieses Zeug genommen hast? Die Versicherung wird dir eine Mitschuld geben. Oder noch schlimmer: Was, wenn du einen Unfall mit Personenschaden verursachst? Kannst du damit leben?”
Und weiter: “Wir als Polizei, wenn wir dich anhalten und du zeigst uns deinen Wisch – wir machen dir keine Probleme. Die Probleme fangen an, wenn es kracht.”
Das hat gesessen. Richtig.
Meine Reaktionsfähigkeit
Ehrlich gesagt hatte ich schon gemerkt, dass ich nicht mehr genauso reagiere unter Sativex. Nicht besoffen oder total weggetreten, aber auch nicht hundert Prozent da.
50 km Arbeitsweg jeden Tag. Landstraße, Autobahn, Stadtverkehr. Da musst du blitzschnell reagieren können. Sonst ist Schicht im Schacht.
Die Krux: Das Medikament hat geholfen. Spastik besser, weniger Schmerzen. Aber mit diesem Risiko beim Autofahren konnte ich nicht leben.
Knall auf Fall Schluss
Ich habe nicht mit meinem Neurologen geredet. Kein langsames Ausschleichen, keine Beratung. Einfach aufgehört. War wahrscheinlich nicht die cleverste Entscheidung, aber es fühlte sich richtig an.
Die Albträume waren weg. Die Sorge ums Autofahren auch. Dafür kamen die Krämpfe zurück.
Jetzt nehme ich Baclofen. Wirkt nicht so gut wie Sativex, aber ich schlafe ruhiger und fahre entspannter. Die weite Strecke zur Arbeit ist mittlerweile weg, aber es gibt immer noch genug Situationen, wo ich blitzschnell reagieren muss.
25 % Abhängigkeitsrisiko ist nicht nichts
Die Studie zeigt: Auch medizinisches Cannabis macht abhängig. 25 % ist nicht wenig. Besonders betroffen sind Menschen mit Depressionen und chronischen Schmerzen.
Bei MS haben wir oft beides. Wir sind also doppelt im Risiko.
Die Wissenschaftler fordern mehr Überwachung und bessere Vorbeugung von Abhängigkeiten. Macht Sinn – nur weil Cannabis legal verschrieben wird, heißt das nicht, dass es harmlos ist.
Was ich daraus gelernt habe
Medizinisches Cannabis kann helfen. Hat es bei mir auch. Aber es ist kein harmloses Kräutchen, auch wenn es der Arzt verschreibt.
Die Albträume mit den weißen Ratten waren vielleicht nicht typisch für Cannabis-Abhängigkeit. Aber sie waren real und haben mich fertig gemacht.
Die Sache mit dem Autofahren war noch wichtiger. Ja, es ist offiziell erlaubt, unter Sativex zu fahren. Aber wenn was passiert, stehst du trotzdem blöd da.
Manchmal ist das, was wirkt, nicht das, womit du leben kannst. Baclofen ist schwächer, aber ich komme damit besser klar.
An alle Cannabis-Nutzer
Falls du zu den 75 % gehörst, die keine Abhängigkeit entwickeln: Gut für dich. Cannabis kann bei MS-Spastik und Schmerzen echt helfen.
Falls du merkst, dass da mehr läuft als nur Behandlung: Red mit deinem Arzt. 25 % Abhängigkeitsrisiko sind real.
Und falls du wie ich Bedenken beim Autofahren hast: Hör auf dein Bauchgefühl. Auch wenn es offiziell okay ist – du musst damit leben können.
Bei mir war es eine Entscheidung zwischen besserer Symptomkontrolle und ruhigerem Gewissen. Ich habe mich für das ruhigere Gewissen entschieden.
Die weißen Ratten sind jedenfalls weg. Das ist schon mal was.

Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, diesen Beitrag zu lesen! Ich hoffe, dass meine Erfahrungen dir ein Stück Klarheit oder Ermutigung schenken konnten. Als ich die Diagnose MS bekam, fühlte ich mich oft allein und überfordert. Genau deshalb habe ich ein Buch geschrieben, das ich selbst damals so dringend gebraucht hätte. „Spring, damit du fliegen kannst.: Ein Selbsthilfe-Ratgeber für MS-Erkrankte und ihre Angehörigen.“ Es ist bei Minerva-Vision erschienen. Wenn du Interesse hast, schau es dir gerne an – vielleicht ist es genau das, was auch dir weiterhelfen kann. Oder hör dir meinen Podcast „MS-Voices“ an. Bis zum nächsten Mal!
Du hast auch MS und möchtest mit mir in meinem Podcast darüber sprechen? Dann schreib mir eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.




