
Neues Schmerzmittel, das nicht süchtig macht.
Der Junge, der keinen Schmerz spürte und was wir alle davon haben
Manchmal schreibt das Leben Geschichten, die so verrückt sind, dass man sie keinem Drehbuchautor durchgehen lassen würde. Zum Beispiel die von einem 13-jährigen Jungen, der ohne mit der Wimper zu zucken über glühende Kohlen lief. Nicht, weil er besonders mutig oder schmerzfrei „im Kopf“ war, sondern weil er tatsächlich keinen Schmerz spüren konnte. Das ist wirklich geschehen, und zwar in Nord-Pakistan. Ein junger Straßenkünstler ging über Feuer, stach sich Messer in die Arme, blutete und hatte keine Schmerzen. Durch Zufall hörten Forscher aus Cambridge davon und besuchten den Jungen, um dieses Phänomen zu untersuchen.
Schmerz ist ein Fremdwort
Dieser Junge und mehrere seiner Verwandten hatten eine extrem seltene Genmutation. Die blockierte einen ganz bestimmten Natriumkanal in den Nervenzellen, und zwar den sogenannten NaV1.8-Kanal. Normalerweise sorgt dieser Kanal dafür, dass Schmerzsignale überhaupt erst an unser Gehirn weitergeleitet werden. Bei dieser Familie war das nicht der Fall. Einige der Verwandten hatten Knochenbrüche, zweien fehlte ein Stück Zunge. Aber Schmerzen? Niemals. Und plötzlich wurde aus einer kuriosen Straßenshow die Grundlage für eine medizinische Revolution.
Suzetrigin hat das Potenzial zum Game-Changer
Kluge Köpfe in der Forschung dachten sich: „Was, wenn wir diesen Mechanismus gezielt nutzen könnten, um Millionen Menschen zu helfen?“ Heraus kam Suzetrigin, ein völlig neuer Wirkstoff gegen Schmerzen. Statt das zentrale Nervensystem lahmzulegen, wie es Opioide tun, blockiert Suzetrigin nur diesen einen Kanal in den peripheren Nerven. Ergebnis: Schmerzsignale kommen gar nicht erst im Gehirn an. Das bedeutet: kein High, keine Euphorie, kein Suchtrisiko — dafür gezielte Schmerzlinderung.
Und das ist eine Riesensache!
Gerade in Zeiten, in denen wir mit den Folgen der Opioid-Krise kämpfen, ist ein Schmerzmittel ohne Abhängigkeitspotenzial ungefähr so revolutionär wie ein Schokokuchen, der nicht dick macht. “Ein Meilenstein in der Schmerzmedizin” nennt die US-Behörde für Arzneimittelsicherheit Suzetrigin, das unter dem Namen “Journavx” für den amerikanischen Markt Anfang 2025 zugelassen wurde. Denn wir haben nun ein Schmerzmittel, das gezielt helfen kann, ohne Sucht, ohne Euphorie, ohne die Seele in Watte zu packen. Aber bevor wir jetzt alle anfangen, halleluja zu singen: Die nüchternen Fakten holen uns auf den Boden zurück.
In Europa bremst die EU gerade heftig
Für eine Zulassung werden mehr Studien gefordert, vor allem unabhängige und langfristige Daten. Und das hat einen guten Grund. Denn Suzetrigin wirkt tatsächlich, aber nur sehr spezifisch: bei akuten, kurzzeitigen Schmerzen, zum Beispiel nach einer Operation. Selbst da fällt das Urteil nicht gerade himmelhoch jauchzend aus. Bei einer kleinen Zehen-OP, um mal ein Beispiel zu nennen, war Suzetrigin deutlich weniger wirksam als ein simpler Mix aus Paracetamol und einem niedrig dosierten Opioid. Weniger Schmerzen? Fehlanzeige. Bessere Verträglichkeit? Naja.
Und was ist mit den chronischen Schmerzen, bei denen so viele Menschen verzweifeln? Hier wird es richtig ernüchternd. „Die Studien bei chronischen Schmerzen sind gescheitert“, sagt Dr. Dietmar Überall, Präsident der Deutschen Schmerzliga. Klare Worte, die nicht nach Wundermittel klingen, sondern eher nach: Zurück auf Start. Es bleibt also dabei: Ja, Suzetrigin ist ein Fortschritt — aber kein Gamechanger. Kein Allheilmittel, das wir alle so gerne hätten. Kein „Zauberknopf“, mit dem wir den Schmerz einfach ausschalten.
Am Ende zeigt uns diese Geschichte mal wieder, wie viel Geduld, Forschung und vor allem Ehrlichkeit es in der Medizin braucht. Und dass auch hinter jeder Wundermedizin oft nur ein ganz normales Medikament steckt, mit Licht und Schatten. Oder, wie ich gerne sage: Nicht alles, was auf der Straße brennt, ist ein Wunder. Und nicht jeder Junge, der keine Schmerzen fühlt, bringt uns wirklich die Lösung. Aber immerhin eine gute Geschichte.
Hier schreibt Jonas Weber vom Minerva-Vision-Team. Mit einer Mischung aus fundierter Forschung und einer Portion Humor vermittelt er komplexe Themen verständlich und unterhaltsam.Wenn er nicht gerade über die neuesten Erkenntnisse aus der Gehirnforschung schreibt, findet man ihn bei einem guten Espresso, auf der Suche nach dem perfekten Wortspiel oder beim Diskutieren über die großen Fragen des Lebens – zum Beispiel, warum man sich an peinliche Momente von vor zehn Jahren noch glasklar erinnert, aber nicht daran, wo man den Autoschlüssel hingelegt hat.