
Mental Load: Unsichtbare Lasten erkennen und bewältigen
Wenn das Orchester im Kopf zu schnell spielt.
Letzte Woche saß ich mit meiner Freundin Tabea auf einer Bank unter blühenden Linden. Ihre Kinder spielten irgendwo in der Ferne, ihr Kaffee war längst kalt. Aber sie hielt ihn noch immer in der Hand, wie etwas, das man festhalten muss, damit es nicht überläuft.
„Ich habe das Gefühl, ich denke für fünf Leute mit“, sagte sie.
Tabea arbeitet halbtags, ist Mutter von zwei Kindern, Ehefrau, Geburtstagsorganisatorin, Erinnerungsmaschine, Nachsorgeinstanz. Und sie ist müde. Nicht vom Spielen, sondern vom Denken.
Das stille Orchester im Kopf
Was Tabea beschreibt, nennen Psycholog:innen „Mental Load“: die mentale Arbeit, die im Hintergrund geschieht. Unsichtbar, nicht bezahlbar, aber dauerhaft spürbar. Es ist das Planen, Erinnern, Koordinieren. Es ist das Wissen, wann die nächste Impfung ansteht, wie viel Brot noch da ist, was in der Brotdose landet, ob der Regenschutz im Kindergarten hängt. Und wenn nicht, wer dann schnell losrennt.
Gerade Frauen tragen einen Großteil dieser Last. Nicht, weil sie mehr Zeit hätten. Und auch nicht, weil es ihnen besser läge. Sondern, weil kulturelle Skripte sie dazu drängen. Rollenerwartungen, tief verwurzelt in Erziehung und Gesellschaft, schreiben Müttern und Partnerinnen den Part der stillen Dirigentin zu. Die, die daran denkt, bevor etwas vergessen wird. Die, die auffängt, bevor etwas fällt.
Diese permanente geistige Aktivität – ein To-do-Listen-Tetris im Kopf – führt zu höherem Stress, reduzierter Lebenszufriedenheit und nicht selten zu einer schleichenden Erschöpfung, die sich schwer in Worte fassen lässt. Eine Umfrage der Plattform The Conversation zeigt: Mütter denken signifikant häufiger an Haushaltsaufgaben als Väter. Nicht, weil sie sich gerne den Kopf zerbrechen. Sondern, weil sie sonst niemand tut.
Wenn Denken zu viel wird
Studien zeigen, wie eng mentale Überlastung mit Angst und Aufschiebeverhalten verwoben ist. Wer viel im Kopf jongliert, kommt oft nicht ins Handeln, paradoxerweise. Man sitzt vor einer simplen Aufgabe, aber sie bleibt liegen. Weil dahinter zwanzig andere Gedanken toben, die alle um Aufmerksamkeit rufen.
Ich kenne das gut. Es gibt Tage, da starre ich auf meine Einkaufsliste, als wäre sie ein unlösbares Rätsel. Und doch ist es nur Brot, Milch, Käse. Aber mein Kopf ist voll, mit allem, was sonst noch bedacht werden will.
Es gibt Hoffnung: Selbstkontrolle, so zeigen psychologische Studien, wirkt wie ein innerer Kompass. Wer Strategien zur emotionalen Selbststeuerung entwickelt hat, lässt sich weniger schnell in die Prokrastination treiben. Es hilft, wenn man sich nicht von der inneren Überflutung tragen lässt, sondern in kleinen Schritten ans Ufer geht.
Kleine Rettungsbojen im Alltag
Ich habe über die Jahre ein paar Strategien gesammelt. Von Freundinnen, aus Gesprächen, aus Erfahrung. Keine ist perfekt. Aber zusammen formen sie ein Netz, das trägt:
1. Verantwortung wirklich teilen.
Nicht nur Aufgaben. Sondern das Denken darüber. Tabea hat angefangen, ihrem Partner zu sagen: „Plane du bitte die gesamte Woche fürs Abendessen.“ Und siehe da: der Mann, der sich nie fürs Kochen interessiert hat, wurde plötzlich kreativ. Verantwortung erzeugt Mitdenken.
2. Alles raus aus dem Kopf.
Ich schreibe viel auf. Mit der Hand, mit Stift, auf Papier. Was raus ist, muss nicht mehr jongliert werden. Manchmal schreibe ich auch Dinge auf, die ich bewusst nicht erledigen werde. Das entlastet ebenfalls.
3. Rituale statt spontaner Heldentaten.
Montags gibt’s Tiefkühlpizza. Donnerstags keine Termine. Wer immer neu erfindet, verbraucht zu viel Energie. Rituale sind wie Geländer im Kopf.
4. Wahrgenommen werden.
Tabea hat einmal eine Woche lang aufgeschrieben, was sie alles „nebenbei“ denkt und erledigt. Sie hat es ihrem Partner gezeigt. Er war still. Und berührt. Seitdem fragt er öfter: „Was liegt dir gerade im Kopf?“
5. Alleinzeit kultivieren.
Ich gehe manchmal ohne Ziel spazieren. Kein Podcast, kein Telefon. Nur meine Schritte und die Stadt. Es dauert, bis der Kopf leiser wird. Aber irgendwann spricht nur noch der Wind.
Vielleicht beginnt Veränderung mit Anerkennung
Mental Load lässt sich nicht einfach abschaffen. Aber sie lässt sich sichtbar machen. Und geteilte Last wiegt leichter.
Vielleicht ist es Zeit, dass wir nicht mehr die stillen Dirigentinnen sind, sondern dass wir lernen, das Orchester zu teilen, Taktstock inklusive. Vielleicht ist es ein Akt der Selbstfürsorge zu sagen: Ich kann heute nicht alles denken. Denkst du für mich mit?
Und vielleicht, wenn wir das oft genug tun, wird aus einer erschöpften Tabea irgendwann eine Frau, die ihren Kaffee wieder warm trinkt.
Clara Jansen
Der Kommentar von Nina, unserem Mental-Health-Coach: Es geht um den Wunsch nach Hilfe!
Was du beschreibst, ist nicht nur das Phänomen des Mental Load, sondern ein stiller Schrei nach Gleichwürdigkeit in unseren Beziehungen – eine der zentralen Säulen meiner Arbeit. Tabea erlebt keine persönliche Schwäche, sondern eine strukturelle Schieflage. Sie trägt Verantwortung in einem Maß, das ihre Würde verletzt – nicht durch äußere Gewalt, sondern durch das stetige, unausgesprochene „Mitdenken-Müssen“, das ihr zugeschrieben wird. Das innere Orchester, das zu schnell spielt, ist ein Zeichen dafür, dass die Beziehung zu sich selbst und zu den anderen aus dem Gleichgewicht geraten ist.
Wir müssen lernen, das unausgesprochene „Ich kann nicht mehr“ als Einladung zu gegenseitiger Fürsorge zu verstehen. Denn echte Verantwortung – wie ich immer wieder betone – lässt sich nicht delegieren. Sie lässt sich nur gemeinsam tragen. Es braucht in Familien keine perfekten Lösungen, sondern mutige Gespräche. Es ist ein Akt der Integrität, wenn Tabea zu ihrem Partner sagt: „Plane du.“ Es ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Ausdruck von Selbstrespekt, wenn eine Frau sagt: „Ich kann heute nicht alles denken.“ Kinder lernen nicht durch Worte, sondern durch Beziehungen. Wenn sie erleben, dass Eltern auf ihre Grenzen achten, dass Fürsorge keine Einbahnstraße ist, dann wachsen sie zu empathischen Menschen heran. Die stille Dirigentin muss nicht verschwinden. Aber sie darf den Taktstock auch einmal aus der Hand legen, in dem Vertrauen, dass das Orchester weiterspielt.
Der Kommentar von Jonas, unserem Experten für Neurobiologie: Ich musste beim Lesen schmunzeln und dann wieder tief seufzen.
Weil ich Tabea sofort vor mir sehe. Und viele andere auch. Frauen (und übrigens auch ein paar Männer), die ihren Kaffee eher festhalten als trinken, aus Angst, dass das letzte bisschen Kontrolle auch noch überläuft. Was du da beschreibst, ist kein Einzelfall. Es ist systemisch. Es ist Mental Load. Es ist der unsichtbare Stress, den man nicht auf dem Kontoauszug sieht, aber irgendwann auf dem EKG.
Das Gehirn, liebe Leute, ist keine Festplatte mit unendlichem Speicher. Es ist ein sensibles Organ, das Ruhe braucht. Es gibt einen Grund, warum wir auf Ideen kommen, wenn wir duschen – und nicht, wenn wir fünf Einkaufslisten gleichzeitig im Kopf sortieren. Wir sind nicht gemacht für Dauerfeuer im Kopf. Irgendwann kommt der Punkt, da denken wir so viel, dass wir das Denken verlernen.
Ich finde deinen Text so stark, weil er nicht in die klassische Selbstoptimierungsfalle tappt. Keine App, kein Timer, kein „Du musst nur effizienter priorisieren“. Nein! Du sagst: Teil die Verantwortung. Gib ab. Sprich aus. Und manchmal: Geh einfach spazieren. Allein. Ohne Podcast. Das ist nicht Egoismus, das ist erste Hilfe fürs Hirn! Und ganz ehrlich: Wenn wir anfangen, nicht nur den Müll zu teilen, sondern auch das Denken, dann wird unsere Gesellschaft gesünder. Und vielleicht – ganz vielleicht, gibt es dann mehr Menschen wie Tabea, die wieder ihren Kaffee warm trinken. Und lachen. So richtig. Von Herzen. Denn, kleine Erinnerung am Rande: Lachen ist auch Medizin. Und die ist sogar rezeptfrei.