Gesundheit

In meinem Kopf war nichts als Schwärze!

Diagnose MS. Ein Gespräch mit Irene Sybertz von MS-Voices.Ein Gespräch mit Irene Sybertz von MS-Voices.


Diagnose MS – was ging durch deinen Kopf? Was waren deine ersten Gedanken und Gefühle?

Ehrlich gesagt war ich weder in der Lage zu denken, noch zu fühlen. Naja, fast. Ich hatte das Gefühl, als hätte sich der Boden unter meinen Füßen aufgetan. Ich hatte das Gefühl zu fallen.
Endlostief. In meinem Kopf war erst mal nichts, als Schwärze. Der erste Gedanke, der dann kam war: Shit. Der Anfang vom Ende. Ich wusste es zu dem Zeitpunkt nicht, aber ich habe geahnt, dass diese Diagnose, bzw. diese Krankheit Auswirkungen auf mein ganzes Leben haben würde. Beruf (ich war damals die Hauptverdienerin), Privatleben (meine Ehe stand damals schon nicht mehr zum Besten), aber auch auf meine Wünsche, Träume und Pläne. Und dann dachte ich: „Glück gehabt, es ist nicht tödlich“ und „Reiß dich zusammen, da musst du jetzt durch“.


Das einzige, was ich zu der Krankheit wusste war, dass diese eben nicht tödlich oder ansteckend ist und dass man nicht zwangsläufig im Rollstuhl landet.

Gab es rückblickend erste Anzeichen, an denen man die Erkrankung hätte erahnen können?

Hier kommt jetzt das ins Spiel, was ich immer bemängele: die fehlende Aufklärung in der Öffentlichkeit. Jeder kennt die TV-Spots zu Schlaganfall, Herzinfarkt, Darm- oder Brustkrebs.
Multiple Sklerose ist die häufigste neurologische Erkrankung im Erwachsenenalter. Immerhin sind in Deutschland rund 250.000 Menschen von der Diagnose betroffen; Tendenz steigend.
Innerhalb der letzten 15 Jahren hat sich die Zahl verdoppelt! Und niemand hält es für nötig, aufzuklären. Dabei darf man nicht vergessen, dass die Kosten für diese Krankheit mit zu den
höchsten überhaupt zählen! Laut Statista.com betragen die Gesamtkosten, pro Patient wohlgemerkt, durchschnittlich € 39.998 Euro. Davon sind rund 17.165 Euro die direkten
Gesundheitskosten, also für Medikamente, Laborkosten, ambulante Hilfe und Krankenhausaufenthalte. Dann die direkten nicht-medizinischen Kosten von rund 5.922 Euro
(hier belegen die Kosten der privaten Unterstützung den Löwenanteil. Die Indirekten Kosten – wenig charmant auch Produktivitätsverluste genannt – nehmen einen Anteil vom 16.911 Euro
ein Hierunter fallen z.B. kurzfristige Abwesenheitszeiten, aber auch Langzeitkrankheit und der vorzeitige Ruhestand. Also: ein dickes Brett! Und trotzdem wird nicht aufgeklärt…
Aber ich schweife ab.

Hätte ich vorher mehr über diese Krankheit gewusst, hätte ich all die Anzeichen, die sich bis zu diesem ersten Schub (von dem ich heute weiß, dass es einer war)
wesentlich besser gedeutet. Meine Symptome, hatten sich ja über drei Tage lang herauskristallisiert! Ich hatte Gefühlsstörungen im rechten Bein; konnte plötzlich keinen Stift
mehr halten bzw. dann in der Folge nicht mehr schreiben, mein rechtes Bein hat nicht mehr zuverlässig funktioniert und es kam zu Treppenstürzen, weil es einfach „weg“ war; Ich hatte
extreme Gleichgewichtsprobleme und übelst mit Schwindel zu kämpfen und obendrauf mit massiven Blasenproblemen. Nicht zu vergessen meine Wortfindungsstörungen. Heute weiß ich,
dass das ganz typische Symptome und Anzeichen der Multiplen Sklerose sind.

Wie geht es nun weiter? Was macht man als erstes nach der Diagnose? An wen wendet man sich?

Als erstes? Direkt nach der Diagnose? Ganz viel weinen, verzweifeln, hadern, wütend sein und alle um mich herum wegbeißen. Aber das war meine erste Reaktion nach der Diagnose.
Heute weiß ich, dass eine sogenannte „MS-Schwester“ die erste Wahl sein sollte Zur Erklärung: MS-Schwestern gehören zum medizinischen Fachpersonal. Sie sind Krankenschwestern bzw. Krankenpfleger, die mindestens zwei Jahre in einer neurologischen Arztpraxis oder auf einer neurologischen Station in einem Krankenhaus gearbeitet haben. Sie haben Aus- und Fortbildungen über die DMSG e.V (Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft) in Sachen MS erhalten und sind, für ich, DAS Bindeglied zwischen Menschen mit MS und den behandelnden Ärzten. Sie nehmen sich ganz viel Zeit die Krankheit zu erklären und auch den ersten Schrecken zu nehmen. Sie machen das, was ich mir so sehr wünsche, dass es auch in der Öffentlichkeit getan wird: Sie klären auf. Und: die Diagnose wird ja oft erst im Krankenhaus, während eines akuten Schubes gestellt. Unmittelbare Folge ist eine „Kortison-Stoßtherapie“, das heißt, fünf Tage je 1000 mg Kortison.
Das ist ein Haufen Zeugs. Und man wird, vom Krankenhaus aus, in eine Anschlussheilbehandlung in eine entsprechende Reha-Klinik geschickt. Mein Rat? Unbedingt machen! Denn hier werden die ersten Schritte in Sachen Therapien festgelegt, man hat die Ruhe, zu sich zu kommen und kann Kontakte mit „Gleichgesinnten“ knüpfen. Wenn man dann aus dem Krankenhaus raus ist: Kontakt zur DMSG aufnehmen. Die haben Antworten auf fast alle Fragen.

Was braucht man vor allem in der ersten Zeit? Was hat dir geholfen?

Ruhe, um alles zu verarbeiten. Menschen, die einem Mut machen. Menschen, die einen in den Arm nehmen (das braucht gar nichts gesprochen werden). Verständnisvolle Arbeitgeber, Freunde, Partner und Familien. Aber auch konkrete Hilfe z.B. beim Einkaufen, im Haushalt oder auch einfach nur eine Hand oder einen Arm, um Treppenstufen zu bewältigen. Aber mein Fels in der Brandung war damals meine Deutsche Langhaar-Schäferhündin Polly. Sie hat gespürt, dass es mir nicht gut ging. Bis zu ihrem letzten Atemzug hat sie wie eine Klette an mir gehangen; auf mich aufgepasst und mich zum Lachen gebracht. Sie hat mein Herz und meine Seele gestreichelt. Sie war meine Heldin auf vier Pfoten. Und jetzt ist es mein Jens. Er behandelt mich wie einen normalen, gesunden Menschen. Er beobachtet mich im Stillen und sieht, wann ich Hilfe brauche. Und selbst dann fragt er mich erst, ob ich Hilfe möchte. Oder er kommt zu mir, sieht mich an und sagt: „Was hältst du davon, wenn wir das so, oder so machen?“ und zeigt es mir. Er lässt mir die Möglichkeit selbst zu entscheiden, ob ich seine Hilfe annehmen möchte oder nicht, denn ich möchte mir meine noch vorhandenen Fähigkeiten, so lange wie möglich,erhalten. Das geht aber nicht, wenn mir alles abgenommen wird! Seine Liebe zu mir, seine Blicke, seine Worte, die vielen Kleinigkeiten im Alltag, die er unternimmt, um mir und uns ein schönes Leben zu bereiten, geben mir unglaublich viel Kraft.

Leider ist MS ja nicht heilbar. Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es denn? Was kann man tun?

Ja, du hast recht. MS ist nach wie vor nicht heilbar. Die bleibt einfach und zeckt sich fest. Aber Multiple Sklerose lässt sich heute in vielen Fällen gut behandeln. In Prinzip eine Kombination
verschiedener Maßnahmen. Ziel ist es, die Symptome eines akuten Schubes abzumildern; den Krankheitsverlauf so beeinflussen, dass mögliche Langzeitfolgen verhindert werden. In Sachen Symptom- Behandlung gibt es mittlerweile eine Reihe toller Therapien: Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Sporttherapie, Hippo-Therapie, komplementären Methoden oder Psychotherapie; aber auch Hilfsmittel beispielsweise bei einer Gehbehinderung.

Gibt es Medikamente? Oder vielleicht auch homöopathische Mittel?

Ja, es gibt Medikamente. Aber jedem muss bewusst sein, dass die alle nicht heilen! Sinn und Zweck dieser Medikamente ist es, den Verlauf zu beeinflussen bzw. die drohende Behinderung.
Das passiert einmal mit Medikamenten aus der Immunmodulation; da kann die Immunantwort im Körper beeinflusst und sozusagen umprogrammiert werden. Sie dienen also dazu, die Verständigung der Immunzellen untereinander zu beeinflussen. Folge ist aber, dass keines dieser Medikamente „Hustenbonbons“ sind und teilweise ziemlich heftige Nebenwirkungen
haben. Dann gibt es, je nachdem, in welchem Stadium die MS sich befindet, die Immunsuppression; in Prinzip so etwas wie eine „milde“ Form der Chemotherapie. Da werden Immunzellen in ihrer Funktion unterdrückt, um damit die schädigenden Attacken auf das Nervensystem zu verhindern. Für mich persönlich war das die schlimmste Therapie. Ich hatte so viele Nebenwirkungen, dass ich letztendlich keine Lebensqualität mehr hatte. Aber bei vielen anderen funktioniert es.


Homöopathie? Ich sage Vorsicht! Finger weg! Da kann man ganz viel falsch machen.

Zum Beispiel regen Echinacea oder das berühmt berüchtigte Umckaloabo das Immunsystem an! Und das wollen wir ja unter allen Umständen verhindern. Wenn Homöopathie, dann nur zur
Behandlung der bzw. einiger Symptome und nur (!) in Absprache mit dem behandelnden Neurologen.

Was sind typische Symptome?

Oh, das kann sehr unterschiedlich sein. Die Krankheit mit den 100 Gesichtern eben. Aber einige davon sind:

  • Kraftlosigkeit in Armen und Beinen,
  • Gangstörungen,
  • Gefühlsstörungen wie zum Beispiel Kribbeln am Körper oder der Verlust des Tastsinns am Finger,
  • Unsicherheiten beim Gehen und Stehen,
  • Blasen- und/oder Darmentleerungsstörungen,
  • Abnorme Müdigkeit und Ermüdung (Fatigue),
  • Störungen des Sehnervs,
  • Kognitive Störungen, wie zum Beispiel die Dauer der Konzentration oder Vergesslichkeit,
  • Sprechstörungen,
  • Unsicherheit bei Ziel- und Zeigebewegungen, zum Beispiel beim Greifen von Dingen,
  • Trigeminusneuralgie,
  • aber auch sexuelle Störungen bei Männern und Frauen
  • oder auch psychische Störungen; hier insbesondere Depressionen.

Als Schub bezeichnet man das (massive) Auftreten bereits bekannter oder neuer Symptome über eine Dauer von mindestens 24 Stunden. Eine Infektion (irgendeine andere Entzündung im Körper, wie zum Beispiel Grippe oder entzündete Gelenke) muss als Ursache Ausgeschlossen sein. Eine Verschlechterung infolge einer Hitzewelle (das ist das sogenannte Uhthoff Phänomen) ist nicht als Schub zu bewerten.

Ist MS vererbbar?


Ganz klare und kurze Antwort: nein! MS ist keine Erbkrankheit im klassischen Sinne. Es gibt nur eine genetische Prädisposition, was bedeutet, dass jemand, der einen Betroffenen in der
Familie hat, selbst ein leicht erhöhtes Risiko trägt, an Multiple Sklerose zu erkranken. Das bewegt sich aber 0,… Prozentbereich

Wie sage ich meinen Angehörigen, dass ich die Diagnose MS habe?

So, wie es ist: Ich habe Multiple Sklerose. Ich weiß selbst noch nicht, was das alles bedeutet und mit sich bringt, aber ich brauche jetzt eure Hilfe und Unterstützung.

Was kann ich als angehörige Person tun?


Erstmal, und das ist ganz wichtig, informieren! Am besten auf den Seiten der DMSG: www.dmsg.de. In den einzelnen Landesverbänden werden auch immer wieder ganz tolle Aktionen wie zum Beispiel Gesprächsrunden für Neuerkrankte angeboten. Hingehen! Den Partner unterstützen, ohne sich selbst zu vergessen. Akzeptanz, Verständnis und Empathie. Ganz viel reden mit dem Partner, denn die MS kann, je nach Verlauf, das komplette Leben durcheinander wirbeln. Und als Partner sollte ich mich möglichst früh entscheiden, ob ich bereit bin, alles das mitzutragen. Wenn nicht, dann ist eine saubere Trennung die beste Variante. Zorn, Streit und Niedergeschlagenheit sind schon nicht gut für gesunde Menschen. Aber im Fall eines MSlers ist das absolut kontraproduktiv.

Wo finde ich Gleichgesinnte?


Erste Anlaufstelle: die DMSG. Wie gesagt: hier bekommt man kompetente Antworten auf die meisten Fragen. Am Anfang der Erkrankung nicht unbedingt im Internet recherchieren oder gar
auf Facebook. Im Internet gibt es in Sachen MS genauso viele Verschwörungstheorien, wie zu Corona-Zeiten. Und auf Facebook tummeln sich auch sehr viele, die auf diese Theorien reinfallen und das dann auch verbreiten. Später, wenn man gefestigt ist, ist das kein Ding. Aber bis dahin sollte die DMSG der erste Ansprechpartner sein, die auch den Kontakt zu
Selbstgruppen vor Ort vermittelt. Mein Rat? Hingehen! Da kann man ganz viel aus erster Hand erfahren.


Hast du ganz persönlichen Tipps und Tricks?


Das ist gar nicht so einfach. Eigentlich kommen immer neue dazu; andere fallen weg. Aber ein Tipp, den ich immer befolge ist der: „Tu, was dir gut tut!“ Umgib dich mit Menschen, die dir gut tun; Dingen, die dir gut tun; Unternehmungen, die dir Freude machen. Entdecke neue Hobbys. Halte inne, genieße den Moment, freu dich an den Kleinigkeiten, denn die Machen in der Summe das Leben aus. Und ganz wichtig: trauere nicht dem hinterher, was du nicht mehr kannst. Die Liste dessen, was du kannst, ist deutlich länger. Spring in dein neues Leben und du wirst sehen, dass du fliegen kannst.

Irene Sybertz ist die Frau hinter unserem Podcast MS-Voices. Wir möchten mit diesem Podcast eine Stimme sein für alle, die unter MS leiden. Ihr seid nicht alleine. Ihr findet Irene Sybertz auch hier auf Minerva-Vision und auf Instagram. Außerdem hat Sie einen Selbsthilferatgeber für MS-Erkrankte geschrieben. Und zwar den, den sie selbst gebraucht hätte. “Spring, damit du fliegen kannst” liegt nun im Wartezimmer vieler Neurologen und ist in jedem Buchhandel erhältlich oder direkt im www.minervastore.de.

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