„Ich wünschte, sie wäre tot – und kann doch nicht ohne sie leben“
Erzähl mir dein Leben:
„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.
Ein Interview über den tiefen Zwiespalt einer Zwillingsbeziehung
Sie sind wie Spiegelbilder, sagt man. Zwei Körper, eine Seele. Aber was, wenn dieses Spiegelbild etwas zeigt, das man nicht ertragen kann? Was, wenn der eigene Zwilling gleichzeitig die größte Wunde und die einzige Heimat ist, die man kennt?
Hannah* (Name geändert) ist 42 Jahre alt. Sie hat eine Zwillingsschwester, mit der sie eine der kompliziertesten Beziehungen führt, die man sich vorstellen kann. Sie hasst sie. Und sie verfolgt sie. Sie möchte, dass sie stirbt – und fühlt sich gleichzeitig leer, wenn sie nicht in ihrer Nähe ist.
Hannah, wann hast du zum ersten Mal gespürt, dass deine Schwester für dich mehr Feindin als Schwester ist?
Hannah:
Ich glaube, das war mir nicht immer bewusst. Als Kind waren wir einfach „die Zwillinge“. Wir trugen dieselben Kleider, gingen in dieselbe Klasse, bekamen dieselben Geschenke. Unsere Eltern fanden das süß. Wir waren zwei perfekte Mädchen, immer zusammen, immer ein Team – nach außen.
Aber innerlich? Ich wusste irgendwann, dass sie mich nicht liebt. Oder nein, das ist zu einfach. Sie hat mich nie wirklich gesehen. Ich war immer die zweite Geige. Wenn sie einen Witz machte, lachten die Leute. Wenn ich denselben Witz machte, war es nur eine Kopie. Wenn sie weinte, nahm man sie in den Arm. Wenn ich weinte, hieß es: „Jetzt übertreib nicht.“ Ich habe früh verstanden: Ich war nur eine schlechtere Version von ihr.
Gab es einen Moment, in dem der Hass wirklich hochkam?
Hannah:
Ja. Ich glaube, es war unser 14. Geburtstag. Unsere Mutter hatte für uns einen Kuchen gebacken, Schokoladenkuchen mit Kerzen – immer genau dieselben für uns beide. Es war Tradition, dass wir gemeinsam die Kerzen auspusten. Ich weiß noch, wie ich dachte: „Ich hasse sie. Ich hasse sie so sehr. Ich wünsche mir, dass sie nicht mehr da ist.“ Ich habe mir an diesem Tag gewünscht, dass sie stirbt. Und ich habe mich so dafür geschämt, dass mir schlecht wurde.
Aber weißt du, was das Komische ist? Als ich diesen Gedanken hatte, drehte sie sich zu mir um und grinste. „Wünsch dir was!“, sagte sie. Und ich wünschte mir, dass sie mich endlich sieht.
Und hat sie dich je gesehen?
Hannah:
Nein. Sie hat mich benutzt. Ich war immer da, wenn sie niemand anderen hatte. Ich war ihr Publikum, ihre Statistin. Ich habe sie bewundert, ich habe sie gehasst, ich habe sie nachgeahmt, um ihr näher zu sein. Und wenn ich dachte, dass ich ihr endlich ebenbürtig bin, dann hat sie mich wieder fallen lassen.
Es gab so viele Momente, in denen sie mich demütigte, ohne dass es jemand merkte. „Ach, Hannah, du bist so süß, wenn du versuchst, witzig zu sein!“ „Hannah, das steht dir aber nicht so gut wie mir.“ Es war subtil, aber ich wusste immer, dass ich auf meinem Platz bleiben sollte: Hinter ihr.
Aber du bist ihr trotzdem immer gefolgt?
Hannah:
Ja. Und ich hasse mich dafür. Sie wollte in eine bestimmte Clique? Ich wollte auch rein. Sie hat sich die Haare blond gefärbt? Ich habe es ihr nachgemacht. Sie hat eine bestimmte Musik gehört? Ich habe sie gehasst – aber sie trotzdem rauf und runter gehört.
Ich wollte ihr beweisen, dass ich es wert bin. Dass sie mich beachten muss. Und gleichzeitig wollte ich, dass sie verschwindet. Dass ich endlich frei bin.
Hast du je darüber gesprochen? Ihr gesagt, wie du dich fühlst?
Hannah:
Einmal. Ich war 21, und wir hatten uns mal wieder gestritten. Ich weiß nicht mehr, worum es ging, wahrscheinlich um irgendeinen Mann, den sie toll fand und den ich auch toll fand – weil ich immer toll fand, was sie toll fand.
Ich habe ihr ins Gesicht geschrien: „Ich hasse dich! Ich wünschte, du wärst tot!“ Und sie? Sie hat gelacht. Hat mir auf die Schulter geklopft und gesagt: „Ach, Hannah. Du wärst doch nichts ohne mich.“
Und das war der Moment, in dem ich verstanden habe: Vielleicht hat sie recht.
Bist du je von ihr weggekommen?
Hannah:
Nie ganz. Ich habe es versucht. Ich bin in eine andere Stadt gezogen, habe eine Beziehung angefangen, die nichts mit ihr zu tun hatte. Aber dann passierte etwas in ihrem Leben – eine Trennung, ein Jobverlust – und plötzlich war ich wieder da. Habe sie getröstet, habe mich gebraucht gefühlt.
Und dann war ich wieder das kleine Mädchen, das sich nichts sehnlicher wünscht als ein Zeichen von ihr. Eine Anerkennung. Irgendwas. Und als sie sich wieder gefangen hatte? Hat sie mich ignoriert. Bis zum nächsten Mal.
Gibt es einen Teil von dir, der sich versöhnt hat?
Hannah:
Ich weiß nicht. Vielleicht. Ich habe verstanden, dass ich nie eine Schwester hatte. Ich hatte eine Gegnerin. Eine Rivalin. Und ich habe verstanden, dass ich selbst schuld bin, weil ich sie immer noch in meinem Leben lasse.
Manchmal stelle ich mir vor, sie würde sterben. Einfach, weil ich dann endlich nicht mehr hoffen müsste, dass sie mich sieht. Dass sie mich liebt. Dass ich ihr endlich egal sein könnte.
Aber dann stelle ich mir eine Welt ohne sie vor. Und ich weiß, dass es nicht geht. Weil ich dann niemanden mehr hätte, an dem ich mich messen kann. Ich würde mich verlieren.
Wenn sie das hier lesen würde – was würdest du ihr sagen?
Hannah (lacht bitter):
Sie wird es nicht lesen. Und wenn doch, würde sie mich fragen: „Warum gibst du mir so viel Raum in deinem Leben?“ Und ich hätte keine Antwort darauf.
Zwillingsbeziehungen sind oft romantisiert. Doch für viele sind sie kein Geschenk, sondern ein lebenslanger Kampf um Identität, Aufmerksamkeit und Abgrenzung. Hannah ist nicht allein mit ihrem Gefühl – viele Zwillinge erleben dieses unauflösbare Band aus Hass und Liebe. Und die Frage bleibt: Kann man sich je von jemandem befreien, der von Geburt an Teil von einem ist? Vielleicht gibt es darauf keine einfache Antwort. Vielleicht ist die einzige Lösung, sich irgendwann selbst so zu lieben, dass man den Blick des anderen nicht mehr braucht. Aber das ist leichter gesagt als getan.
Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:
„Du musst kein halber Mensch bleiben.“
Hannah, was du beschreibst, ist nicht nur eine schwierige Geschwisterbeziehung – es ist eine existenzielle Identitätsfrage. Wer bist du, wenn du nicht im Schatten deiner Schwester stehst? Was bleibt von dir übrig, wenn du nicht mehr darauf wartest, dass sie dich sieht?
Ich glaube, du hast dein Leben lang nach ihrer Anerkennung gesucht, weil du in ihr etwas gesehen hast, was du für dich selbst nicht gefunden hast: Wert, Bedeutung, Identität. Das ist das Fatale an symbiotischen Zwillingsbeziehungen – sie sind so eng, dass sie sich gegenseitig Luft zum Atmen nehmen. Und manchmal auch das Recht, ganz man selbst zu sein.
Du fragst dich, warum du sie hasst, warum du dir wünschst, sie würde sterben – und warum du doch immer wieder zu ihr zurückläufst. Ich denke, die Antwort ist einfach: Du hast deine eigene Existenz nie ohne sie definiert. Ihr seid zusammen aufgewachsen, ihr wurdet immer als Einheit gesehen, und vielleicht hat sie irgendwann angefangen, diese Rolle zu genießen – während du darunter gelitten hast.
Aber das bedeutet nicht, dass du dich ewig in diesem Kreislauf aus Sehnsucht und Ablehnung gefangen halten musst. Du hast ein eigenes Leben. Und es wird Zeit, es auch als solches zu begreifen.
Das Erste, was du tun kannst, ist aufzuhören, auf ihre Anerkennung zu warten. Sie wird dich nicht auf die Weise sehen, die du dir erhoffst. Nicht, weil du ihr egal bist, sondern weil sie ihre eigene Sicht auf eure Beziehung hat – und diese wird sich nicht plötzlich ändern. Aber dein Wert hängt nicht davon ab, ob sie dich endlich wahrnimmt. Du kannst auch ohne ihre Bestätigung existieren.
Dann solltest du dich fragen: Wer bist du eigentlich ohne sie? Welche Entscheidungen würdest du treffen, wenn du nicht ständig in ihrem Schatten stehen würdest? Was liebst du wirklich – und nicht nur, weil sie es liebt? Stell dir vor, du wärst als Einzelkind aufgewachsen. Wer wärst du dann? Vielleicht gibt es Anteile an dir, die du nie ausgelebt hast, weil du immer in Relation zu ihr gedacht hast. Vielleicht gibt es Wünsche, Träume, Hobbys, Interessen, die gar nichts mit ihr zu tun haben. Es ist an der Zeit, sie zu entdecken.
Und ja, vielleicht bedeutet das auch, den Kontakt zu ihr nicht mehr als Schicksal zu betrachten. Nur weil ihr Zwillinge seid, heißt das nicht, dass ihr euch verstehen oder lieben müsst. Es gibt keine Regel, die besagt, dass man eine toxische Beziehung aushalten muss, nur weil sie Familie ist. Wenn der Kontakt dir mehr schadet als guttut, darfst du ihn begrenzen – oder sogar abbrechen. Das bedeutet nicht, dass du versagst. Es bedeutet, dass du dich schützt.
Aber bevor du wirklich frei wirst, musst du deine Wut zulassen. Denn du hast allen Grund, wütend zu sein. Wütend darüber, dass du dich immer minderwertig gefühlt hast. Wütend darüber, dass sie dich klein gehalten hat. Wütend darüber, dass du es zugelassen hast. Aber dann musst du diese Wut loslassen. Denn Wut, die nicht verarbeitet wird, bleibt wie ein Gift in deinem Leben. Sie hält dich dort fest, wo du längst nicht mehr sein willst. Du brauchst keine Rache, du brauchst keinen Triumph – du brauchst Frieden.
Und Frieden wirst du nur finden, wenn du dich selbst lieben lernst – ohne Spiegel. Zwillinge wachsen damit auf, sich immer in Relation zu jemand anderem zu sehen. Sie werden ständig verglichen, ständig als Einheit betrachtet. Aber du bist kein halber Mensch. Du bist komplett. Auch allein.
Vielleicht fühlt es sich ungewohnt an, dieses neue Selbstbild. Vielleicht wird es dich noch lange in alte Muster zurückziehen. Aber du kannst jetzt die Entscheidung treffen, dass dein Leben nicht länger eine Reaktion auf ihre Existenz sein soll. Dass du für dich selbst leuchten darfst – ob sie es sieht oder nicht.
Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.