„Ich kann keine Kinder bekommen – und meine Schwester ist schwanger“
Erzähl mir dein Leben:
„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.
„Der Schmerz zerreißt mich.“
Ein Gespräch mit Naszli, 33 Jahre alt, die seit Jahren mit Unfruchtbarkeit kämpft. Vor kurzem erfuhr sie, dass ihre jüngere Schwester schwanger ist. Sie spricht über die schwierige Mischung aus Freude für ihre Schwester und dem tiefen Schmerz, selbst keine Kinder bekommen zu können, sowie über ihre innere Auseinandersetzung mit diesen Gefühlen.
Nazli, vielen Dank, dass du bereit bist, über dieses Thema zu sprechen. Wann hast du erfahren, dass du keine Kinder bekommen kannst?
Nazli:
Es ist jetzt etwa vier Jahre her, als mein Mann und ich beschlossen, eine Familie zu gründen. Ich dachte damals, es würde ganz natürlich passieren, wie bei vielen anderen. Aber nach einem Jahr ohne Erfolg fingen wir an, uns Sorgen zu machen. Es folgten unzählige Arzttermine, Tests und Untersuchungen. Am Ende kam die Diagnose: Unfruchtbarkeit. Die genauen Ursachen waren nicht vollständig klar, aber der Arzt sagte, dass meine Chancen auf eine natürliche Schwangerschaft extrem gering seien.
Das war ein schwerer Schlag. Ich hatte immer davon geträumt, Mutter zu werden, und ich wollte viele Kinder. Am liebsten 4. Die Vorstellung, keine eigenen Kinder haben zu können, hat mich in ein tiefes Loch gestürzt. Mein Mann war ebenfalls traurig, aber er kam schneller darüber hinweg. Ich fühlte mich oft isoliert, als ob niemand wirklich verstehen konnte, wie tief dieser Schmerz ging.
Und wie hast du reagiert, als du erfahren hast, dass deine Schwester schwanger ist?
Nazli
Das war ein sehr schwieriger Moment für mich. Meine Schwester Dima ist fünf Jahre jünger als ich und erst seit kurzem verheiratet. Als sie mir von ihrer Schwangerschaft erzählte, war es einer dieser Augenblicke, in denen ich zwei völlig gegensätzliche Emotionen gleichzeitig fühlte. Einerseits war ich aufrichtig glücklich für sie – wirklich! Ich liebe sie von Herzen und wusste, wie sehr sie sich ein Kind gewünscht hat.
Aber gleichzeitig durchzuckte mich ein Schmerz, den ich kaum beschreiben kann. Es war, als ob all die Jahre des Wartens und der Hoffnungslosigkeit plötzlich auf einmal in mir zusammenbrachen. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht vor ihr in Tränen auszubrechen. Ich wollte nicht, dass sie meine Traurigkeit spürt, denn das war ihr Moment, ihr Glück.
Wie hast du es geschafft, in diesem Moment deine Emotionen unter Kontrolle zu halten?
Nazli:
Ehrlich gesagt, es war unglaublich schwer. Ich habe sie umarmt, gelächelt und ihr gratuliert, aber innerlich war ich komplett überwältigt. Ich musste mich zwingen, ruhig zu bleiben und nicht von meinem eigenen Schmerz erdrückt zu werden. Nachdem ich nach Hause gegangen war, habe ich lange geweint. Mein Mann war da und hat mich getröstet, aber es war eine Mischung aus Trauer, Wut und Scham. Ich habe mich für meine Gefühle geschämt – ich wollte nicht eifersüchtig oder verbittert sein, aber die Realität war, dass ich es war.
Ich habe später versucht, mit meiner Schwester offen darüber zu sprechen. Ich wollte, dass sie weiß, dass ich mich für sie freue, aber dass es für mich eben auch schwer ist. Dima war sehr verständnisvoll, aber ich glaube, es war trotzdem unangenehm für sie. Sie konnte natürlich nicht nachvollziehen, was in mir vorgeht, und das erwarte ich auch nicht. Vielleicht hätte ich im Nachhinein besser gar nichts gesagt. Es ist mein Schicksal, nicht ihres.
Wie sieht eure Beziehung jetzt aus? Hat sich etwas verändert, seitdem sie schwanger ist?
Nazli:
Ja, es hat sich schon etwas verändert. Nicht unbedingt, weil wir uns weniger mögen oder weniger eng miteinander sind, aber es gibt diese unsichtbare Barriere, die ich spüre. Ich weiß, dass Dima sich freut, über ihre Schwangerschaft zu reden, über die Vorbereitungen, das Babyzimmer und all die aufregenden Dinge, die auf sie zukommen. Aber gleichzeitig merke ich, dass sie vorsichtig ist, wenn sie mit mir darüber spricht. Sie will mich nicht verletzen, und das verstehe ich. Aber genau das schafft diese Distanz zwischen uns.
Es tut mir weh, dass ich nicht so unbeschwert mit ihr über das Baby sprechen kann, wie ich es mir wünschen würde. Früher haben wir alles miteinander geteilt, und jetzt gibt es dieses riesige Thema, bei dem ich einfach nicht mitfühlen kann. Ich versuche, so gut es geht, für sie da zu sein, aber es gibt Momente, in denen ich mich einfach zurückziehen muss, weil es zu schmerzhaft ist.
Hast du das Gefühl, dass es in deinem Umfeld Unterstützung für deine Situation gibt?
Nazli:
Ja und nein. Mein Mann ist großartig, wirklich. Er versteht meine Gefühle, auch wenn es für ihn selbst schwer ist, damit umzugehen. Ich habe auch einige enge Freunde, die wissen, was ich durchmache, und sie sind sehr unterstützend. Aber das Thema Unfruchtbarkeit ist generell eines, über das nicht viel gesprochen wird. Es gibt diesen unausgesprochenen Druck in der Gesellschaft, dass Frauen Kinder bekommen sollten, und wenn das nicht passiert, wird das oft stillschweigend hingenommen oder gar tabuisiert.
Mit meiner Familie ist es etwas komplizierter. Meine Eltern wissen natürlich, dass ich Schwierigkeiten habe, schwanger zu werden, aber sie verstehen die Ursache nicht wirklich oder sie wollen es nicht verstehen. Sie reden nicht darüber und verstehen deshalb auch die Tiefe des Schmerzes nicht wirklich. Für sie ist Dimas Schwangerschaft natürlich ein Grund zur Freude und das ist es ja auch. Aber manchmal fühle ich mich, als wäre ich im Schatten ihrer Freude – als würde mein eigenes Leiden übersehen oder nicht ganz ernst genommen.
Wie gehst du selbst mit dieser schwierigen Mischung aus Freude für deine Schwester und Trauer um dein eigenes Schicksal um?
Nazli:
Es ist ein täglicher Kampf, ehrlich gesagt. Es gibt Tage, an denen ich das Gefühl habe, dass ich es akzeptieren kann – dass ich meinen Frieden damit finde, dass ich vielleicht niemals eigene Kinder haben werde. Aber dann gibt es auch die Tage, an denen ich mit dieser Welle von Traurigkeit überwältigt werde. Besonders, wenn ich Dima sehe und sie über das Baby spricht, oder wenn ich Bilder von Ultraschalluntersuchungen sehe. Es ist, als ob diese Gefühle immer unter der Oberfläche schlummern und nur darauf warten, mich wieder zu überrollen.
Ich habe gelernt, dass es okay ist, beides gleichzeitig zu fühlen. Es ist okay, sich für jemand anderen zu freuen und gleichzeitig traurig zu sein. Es bedeutet nicht, dass ich meiner Schwester ihr Glück nicht gönne. Aber es bedeutet, dass ich meinen eigenen Schmerz nicht ignorieren darf.
Manchmal brauche ich einfach Abstand. Ich habe das Dima erklärt, und sie versteht es, glaube ich. Ich hoffe nur, dass unsere Beziehung nicht dauerhaft darunter leidet. Ich möchte für sie da sein, aber ich muss auch für mich selbst da sein.
Gibt es etwas, das dir in dieser schwierigen Zeit Trost oder Hoffnung gibt?
Nazli:
Es gibt Momente, in denen ich Hoffnung spüre, ja. Wir haben verschiedene Optionen, wie künstliche Befruchtung, in Erwägung gezogen, und ich versuche, mich darauf zu konzentrieren, dass es vielleicht doch noch eine Möglichkeit für uns gibt. Aber gleichzeitig bereite ich mich darauf vor, dass es nicht klappen könnte. Das ist ein schwerer Balanceakt – Hoffnung zu haben, ohne sich in dieser Hoffnung zu verlieren.
Was mir wirklich Trost gibt, ist die Unterstützung meines Mannes. Wir sind in dieser Sache zusammen, und das hilft mir, nicht das Gefühl zu haben, dass ich alleine kämpfe. Ich habe auch begonnen, mich mit anderen Frauen auszutauschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, und das hat mir gezeigt, dass ich nicht allein bin. Das Gefühl, verstanden zu werden, ist unheimlich wertvoll in dieser Zeit.
Wie siehst du die Zukunft? Hast du einen Weg gefunden, mit der Situation umzugehen?
Nazli:
Ich muss lernen, mit der Möglichkeit zu leben, dass mein Leben anders verlaufen könnte, als ich es mir immer vorgestellt habe. Es ist ein schmerzhafter Weg, aber ich glaube, dass es auch Wege gibt, glücklich zu sein, selbst wenn sie anders aussehen, als ich es geplant hatte.
Was meine Beziehung zu Dima betrifft, hoffe ich, dass die Zeit uns hilft. Vielleicht wird es leichter, wenn das Baby da ist, und vielleicht finde ich einen Weg, mich besser mit der Situation abzufinden. Ich weiß, dass es nicht fair ist, meinen Schmerz über ihr Glück zu stellen. Aber ich hoffe, dass sie auch versteht, dass ich Zeit brauche, um diesen Schmerz zu verarbeiten.
Nazli, vielen Dank, dass du so offen über deine Gefühle und deine Situation gesprochen hast.
Nazli:
Gern. Es ist nicht einfach, darüber zu sprechen, aber ich glaube, es ist wichtig, dass solche Geschichten erzählt werden. Es gibt so viele Frauen, die ähnliche Kämpfe durchmachen, und ich hoffe, dass sie sich dadurch weniger allein fühlen.
Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:
Nazli verliert mehr, als es scheint.
Nazli reagiert sehr tapfer, dafür, dass ihr das Leben gerade sprichwörtlich den Boden unter den Füßen wegzieht. Das erklärt auch die Tiefe ihres Schmerzes.
Zum einen wird ihre jüngere Schwester Mutter – ein Wunder des Lebens, das gefeiert wird. Doch für Nazli ist es ein bittersüßer Moment, denn sie selbst kämpft seit Jahren gegen die Unfruchtbarkeit. Während Dimas Bauch wächst, wächst in Nazli die Leere.
Was verliert sie? Mehr, als es auf den ersten Blick scheint. Sie verliert nicht nur den Traum von eigenen Kindern, sondern auch einen Teil ihrer Identität. Wer jahrelang mit der Vorstellung lebt, Mutter zu werden, wer sich in Gedanken schon in dieser Rolle sieht, fühlt sich ohne diese Perspektive oft haltlos. Die Zukunft, die sie sich ausgemalt hat – mit Windeln, Kinderlachen und Familienfesten – ist plötzlich unscharf, verschwommen, vielleicht sogar unmöglich.
Doch es ist nicht nur die eigene Trauer, die schwer wiegt. Es ist auch das Gefühl, nicht richtig trauern zu dürfen. Unfruchtbarkeit ist kein offen beklagter Verlust. Es gibt keine Rituale, keine Beileidsbekundungen, keine gesellschaftliche Anerkennung für diesen Schmerz. Im Gegenteil: Oft wird er übergangen oder heruntergespielt. „Sei doch froh, dass du noch dein Leben für dich hast.“ „Es gibt doch andere Wege, Kinder zu bekommen.“ „Vielleicht klappt es ja doch noch.“ Gute Ratschläge, aber kein Trost.
Gleichzeitig verliert Nazli auch ein Stück unbeschwerte Nähe zu ihrer Schwester. Die Schwangerschaft, die eigentlich Freude bringen sollte, schafft eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen. Dima will Nazli nicht verletzen, also spricht sie weniger über ihre Vorfreude. Nazli wiederum kann sich nicht so freuen, wie sie es sich wünschen würde. In der Luft hängt eine unausgesprochene Wahrheit: Ihr Glück erinnert Nazli an ihr eigenes Unglück.
Und das heißt, dass Nazli gerade an allen Fronten nur verliert: Sie verliert die Nähe zu ihren Eltern, die Vertrautheit zu ihrer Schwester, die Unbeschwertheit in der Familie, und die eigene Zukunft.
Es ist wichtig, den Blick auf das zu richten, was sie gewinnt. Vielleicht nicht sofort, vielleicht nicht offensichtlich – aber doch auf eine tiefere Weise. Sie gewinnt eine neue Perspektive auf sich selbst, auf ihre Beziehungen, auf das Leben. Sie erkennt, dass es möglich ist, gegensätzliche Gefühle in sich zu tragen: Freude für einen geliebten Menschen und Trauer für sich selbst. Sie lernt, dass echte Liebe nicht daran zerbricht, wenn man ehrlich ist – dass sie sogar wächst, wenn man sich verletzlich zeigt. Denn es war kein Fehler, mit der Schwester über ihre Gefühle zu sprechen. Die wären ohnehin kaum zu verbergen gewesen. Und ihr Mann? Er ist der Gewinn dieser Geschichte, weil er sie so gut trägt, wie er es kann. Liebe Nazli, Glück kann viele Formen haben. Vielleicht wirst du niemals eigene Kinder haben. Vielleicht aber doch. Vielleicht wirst du eine andere Rolle im Leben eines Kindes spielen – als Tante, als Mentorin, als Bezugsperson. Vielleicht wird dein Lebensweg anders verlaufen, als du es dir erträumt hat, aber das bedeutet nicht, dass er nicht dennoch erfüllt sein kann. Das Leben ist bunt, und es bietet viele Chancen auf Glück – ich bin mir sicher, du wirst deine finden.
Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.