Psychologie

„Ich habe den Familienfrieden nicht gestört – ich habe nur aufgehört, ihn auf meine Kosten zu bewahren.”

Erzähl mir dein Leben:

„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.



„Alle machen mit.“


Theresia galt immer als das schwierige Kind in ihrer Familie. Nun wurde sie von ihrem Bruder aus der Familie ausgegrenzt und die ganze Familie macht mit. Ihre Eltern weisen jede Schuld und jede Verantwortung von sich und scheinen sich in diesem Konflikt sehr wohl zu fühlen.




Redaktion:
Theresia, du wohnst direkt neben deinen Eltern – und trotzdem hast du von der Hochzeit deines Bruders aus dem Internet erfahren. Wie fühlt sich so etwas an?

Theresia
Wie ein Schlag in die Magengrube. Ich wusste nicht mal, dass er heiratet. Meine Tochter hat es zufällig im Internet gesehen – mit Bildern von meinen Eltern, meiner Verwandtschaft, einem großen Fest. Und ich war nicht eingeladen. Nicht ich, nicht mein Mann, nicht meine Kinder.

Redaktion:
Gab es einen Streit vorher?

Theresia
Ja, wir hatten uns gestritten – wobei „Streit“ fast zu viel gesagt ist. Mein Bruder hatte mir und meinem Mann erzählt, dass er das Dach des Ferienhauses unserer Eltern für 40.000 Euro renovieren will. Wir dachten, das Haus gehöre dann quasi ihm. Aus Rücksicht sind wir nicht mehr hingefahren. Später stellte sich heraus: Das war gar nicht wahr. Als wir ihn darauf ansprachen, stritt er alles ab – obwohl er es uns beiden separat erzählt hatte. „Er lasse sich das nicht nachsagen“, meinte er. Meine Eltern wollten sich nicht festlegen, wem sie glauben. Mein Mann war fassungslos, dass es so etwas überhaupt gibt.

Redaktion:
Wie war das Verhältnis zu deinem Bruder vorher?


Weitere Themen:

Theresia
Nicht besonders eng. Ich war immer das „schwierige“ Kind, er der Liebling. Wenn er was wollte, wurde es gemacht. Ich bin immer hinterhergelaufen, wollte dazugehören, gefallen. Habe mich angestrengt, um zu genügen. Er hat in der Zeit sogar mit mir zusammengearbeitet, Aufträge von mir vermittelt bekommen – davon gelebt. Nach der Hochzeit habe ich die Zusammenarbeit beendet, dann war sofort Funkstille. Er war beleidigt, verständnislos – und hat den Kontakt abgebrochen. Für mich war das eher eine Erleichterung.

Redaktion:
Deine Eltern leben direkt nebenan. Wie war deren Reaktion?

Theresia
Sie haben mich über die Hochzeit nicht einmal informiert. Nichts gesagt. Und sind zur Feier gegangen. Das hat richtig wehgetan. Dieses Schweigen. Diese Normalität, mit der man mich übergeht. Es ist nicht der Ausschluss an sich – es ist die Selbstverständlichkeit, mit der er geschieht. Als mein Bruder aber meine Aufträge verlor, wurde ich konfrontiert, als sei ich die Böse, die ihm einfach so alle Aufträge weggenommen habe.

Redaktion:
Gab es nochmal Kontakt danach?

Theresia
Ein Jahr später feierte seine Frau ihren 40. Geburtstag im Haus meiner Eltern. Meine Tochter saß in unserem Garten – und hörte alles. Sie ist seitdem mit meiner Familie durch. Meine Mutter fand das alles gar nicht schlimm – sie sei von ihrer Schwiegertochter gebeten worden, die Feier zu veranstalten und habe halt zugesagt, um ihr zu helfen. Würde sie auch für mich tun. Das ist das Gleiche, wie mit meinem Vater: mein Bruder erhält von ihm erhebliche monatliche Zuwendungen. Und auch er sagt, er würde das gleiche für mich tun, wenn ich darum bäte. Aber das geht für mich nicht, nach der Geschichte. Meine Eltern sind stur und wollen das Verhältnis zu meinen Kindern irgendwie erzwingen. Meine Tochter verweigert aber eine Aussprache und als meine Mutter sie konfrontierte, ging mein Mann dazwischen und hat meinen Eltern Hausverbot erteilt. Ich fühle mich nicht mehr zugehörig.

Redaktion:
Und jetzt soll der 80. Geburtstag Ihrer Mutter gefeiert werden.

Theresia
Ja. Ich habe gesagt, dass ich unter diesen Umständen nicht mit allen feiern kann. Das ist für mich undenkbar. Sie hat es akzeptiert und wollte dann mit uns separat feiern – was ich auch okay finde. Aber jetzt soll ich auch noch den Termin organisieren. Und das mache ich nicht.

Redaktion:
Warum nicht?

Frau M.:
Weil ich nicht mehr zuständig bin. Das ist kein Fest – das ist ein weiteres „Mach du mal“, das mich wieder zurück in eine Rolle schieben will, aus der ich längst rausgewachsen bist. Dabei fühle ich innerlich- nicht ich habe den Familienfrieden gestört – ich habe nur aufgehört, ihn allein zu tragen. Alles ging ja auf meine Kosten – ich musste immer Verständnis zeigen, obwohl ich verletzt wurde. Ich musste mich um meinen Bruder kümmern, der immer versagte. Und das ist keine gute Rolle, ich steige also aus. Ich habe ihr gesagt, dass wir dabei sind, wenn sie einen Termin vorschlägt. Ich brauche weder Harmonie, noch Verständnis. Irgendwie bin ich dem Ganzen entwachsen. Es hat zwar gedauert, aber jetzt ist es auch gut. Dann sollen sie doch alle miteinander glücklich werden und ich werde es ebenfalls. Nur nicht zusammen, sondern jeder für sich. In meiner Familie gibt es so eine Dynamik nicht – bei meinem Bruder sehe ich jedoch, dass sich vieles wiederholt. Er hat jetzt seine zweite Ehe, lebt im Streit mit seiner ersten Frau – alles eher ungut. Vielleicht ist der Abstand das Beste, was mir passieren konnte. So habe ich die Chance, mein Leben frei zu wählen. Ich würde nur niemals wieder neben meine Eltern ziehen und überlege tatsächlich, vielleicht umzuziehen. Wenn es sich ergibt, wird es geschehen. Warten wir ab.

Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:

“Familien brauchen keine perfekten Menschen. Sie brauchen aufrichtige.”

Was du beschreibst, klingt sehr typisch für Familiendynamiken mit einer klaren Rollenverteilung: Dein Bruder als das „goldene Kind“ wird unterstützt, gefeiert, finanziell versorgt, auch wenn sein Verhalten grenzüberschreitend ist. Du als „Sündenbock“ wirst übergangen, angezweifelt, und deine Loyalität wird nicht gesehen. Diese Rollenverteilung ist meist emotional vererbt – sie hat nichts mit tatsächlichem Verhalten zu tun, sondern mit unbewussten Familienmustern. Sie dient dazu, ein fragiles Familiensystem stabil zu halten: einer „glänzt“, einer trägt den „Schmerz“. Wahrscheinlich war einer deiner Eltern in einem ähnlichen System und es gab eine Schwester oder einen Bruder, der „gut“ war und einen, der immer „schlecht“ war. Die Lüge über die Dachsanierung ist mehr als nur ein Missverständnis. Es geht hier nicht nur um „Er hat gesagt“ vs. „Er hat nicht gesagt“, sondern um Vertrauen, das missbraucht wurde, Verantwortung, die du übernommen hast (ihr seid nicht mehr ins Ferienhaus gefahren – aus Rücksicht) und Verletzung, weil eure Rücksicht dann als Dummheit oder sogar Schwäche behandelt wurde. Dass er es abstreitet, statt sich zu entschuldigen, und deine Eltern neutral bleiben, obwohl du nicht die Einzige warst, die das gehört hat, ist doppelt verletzend. Es ist eine Form von Gaslighting – man stellt deine Wahrnehmung in Frage, obwohl du sie ganz klar erlebt hast. Dann kam die Hochzeit und der Geburtstag. Diese Feiern sind wie Symbole für deinen Ausschluss aus dem Familiensystem: Du wirst nicht eingeladen, deine Eltern sagen nichts, obwohl es nebenan ist. Das fühlt sich nicht nur wie ein Ausschluss an – es ist einer. Und das ist krass. Denn es ist nicht nur dein Bruder, der dich ausschließt, sondern auch deine Eltern, die es tolerieren – vielleicht sogar mittragen.

Hier geht es um Rollen, die über Jahrzehnte hinweg still verteilt und selten hinterfragt wurden. Ein “goldenes Kind”, ein “Sündenbock”. Eltern, die sich nicht entscheiden wollen – und damit aktiv zur Aufrechterhaltung des Ungleichgewichts beitragen.

Was ich an dir bewundere: Du ziehst eine Grenze, ohne die Tür zuzuschlagen. Du sagst: „Ich bin da – aber nicht mehr verfügbar für das alte Spiel.“ Und das ist nicht verletzend. Das ist reif.

In meiner Arbeit habe ich oft gesagt: “Die wichtigste elterliche Aufgabe besteht nicht darin, die Familie zusammenzuhalten – sondern Beziehungen auf Augenhöhe zu ermöglichen.

Wenn Erwachsene Angst davor haben, Stellung zu beziehen, weil sie glauben, damit den Familienfrieden zu gefährden, übersehen sie oft eines: Kinder – auch erwachsene Kinder – brauchen keine Neutralität. Sie brauchen Echtheit. Eine Mutter darf sagen: „Ich glaube dir. Ich sehe deinen Schmerz.“ Und ein Vater darf sagen: „Ich habe einen Fehler gemacht.“ Das ist nicht schwach – das ist stark. Und manchmal ist das größte Geschenk, das wir unseren Familien machen können, die Verweigerung der alten Rolle. Denn erst wenn einer aussteigt, beginnt Veränderung überhaupt erst möglich zu werden. Du kannst die anderen nicht ändern – in deiner Ursprungsfamilie gab es ja auch nie ein richtiges „wir“. Es gab Gegner.

Du bist nicht das Problem, sondern der Beweis, dass man auch anders leben kann.



Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.

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