„Er sagte, er habe sich in meine Tochter verliebt.“
Erzähl mir dein Leben:
„Erzähl mir dein Leben“ ist der Ort, an dem Menschen ihre ganz persönliche Geschichte teilen. Ob große Herausforderungen, kleine Freuden, unerwartete Wendungen oder mutige Entscheidungen – hier findet jede Lebensgeschichte ihren Raum. Durch das Erzählen entdecken wir uns selbst und können auch anderen helfen.
“Er hat sie aufgezogen!”
Brigitte lebte glücklich mit ihrem zweiten Mann zusammen. Das dachte sie jedenfalls. Dann gestand er ihr eines Tages, dass er sich in ihre Tochter verliebt habe, die er mit aufgezogen hat.
Redaktion:
Brigitte, du warst viele Jahre verheiratet, hattest ein gemeinsames Zuhause – und dann sagte dein Mann, er habe sich in deine Tochter verliebt.
Brigitte:
Ja. Ich dachte erst, ich hätte mich verhört. Oder er macht einen schlechten Witz. Es war ein Nachmittag wie jeder andere. Wir saßen in der Küche, und er sagte: „Ich muss dir etwas sagen. Ich glaube, ich habe mich in deine Tochter verliebt.“ Ich war wie erstarrt. Also, ich habe den Satz zwar gehört, aber er kam nicht durch in mein Gehirn. Es schallte in meinen Ohren und ich dachte, das kann doch nicht sein. Ich habe ihn nur angestarrt. Er hatte sogar diese Dreistigkeit, mir direkt in die Augen zu sehen. Irgendwie bedauernd, aber auch dreist. Im Nachhinein würde ich es dreist nennen.
Redaktion:
War das ein Schock oder eher die Bestätigung eines Gefühls? Hattest du vorher eine Ahnung?
Brigitte
Nein. Niemals. Rückblickend gab es Momente, die mir heute auffallen – kleine Blicke, zu viel Aufmerksamkeit, aber ich hätte niemals gedacht, dass es so weit geht. Ich hatte eher das Gefühl, dass sie sich manchmal nicht verstehen. Und plötzlich war da diese angebliche Liebe von seiner Seite.
Redaktion:
Wie alt ist deine Tochter?
Brigitte:
21. Sie ist aus meiner ersten Ehe. Er hat sie großgezogen, seit sie acht war. Sie hat ihn lange wie einen Vater gesehen. Und ich glaube, das hat sich bei ihr nie geändert – sie war völlig geschockt, als ich ihr davon erzählt habe. Also restlos. Und das war für mich auch schlimm – zu sehen, wir ihr Urvertrauen in den Mann zerbröselte, den sie als Vater sah.
Redaktion:
Wie hat deine Tochter reagiert?
Brigitte:
Sie hat sich sofort von ihm distanziert. Sie hat geweint, war wütend – auf ihn, auf sich, auf mich. Wir haben dann sehr offen gesprochen. Ich habe ihr gesagt: „Du hast nichts falsch gemacht. Es ist nicht deine Schuld, wenn jemand in dich etwas hineinprojiziert.“
Das war mir wichtig. Dass sie nicht das Gefühl bekommt, sie hätte etwas ausgelöst. Sie hat sich nie auf irgendwas eingelassen – das möchte ich betonen. Für sie war es ihr Vater, das muss man sich ja auch erstmal vorstellen. Es war eine Art “Schutzraum”, den er kaputt gemacht hat.
Redaktion:
Und wie ging es dann weiter zwischen dir und deinem Mann?
Brigitte:
Ich konnte das nicht mehr. Nicht in meinem Haus. Nicht mit diesem Wissen. Ich habe auch gemerkt, dass er die Verantwortung abwälzen wollte – so nach dem Motto: „Man kann ja nichts für Gefühle.“ Doch, kann man. Vor allem für das, was man damit macht.
Redaktion:
Wie lebt es sich mit so einer Geschichte?
Brigitte:
Ich muss sagen, dass ich extrem wütend war und dass diese Wut mich auch getragen hat. Ich frage mich oft: Was habe ich übersehen? Und dann antworte ich mir aber auch: “Nichts!”. Es gibt Tabus, und die gibt es nicht ohne Grund. So etwas ist einfach vollkommen außerhalb aller denkbaren Möglichkeiten. Und deshalb werfe ich mir nichts vor. Meinem Ex aber eine Menge. Ich will mit ihm nichts mehr zu tun haben. Mein Freundeskreis steht vollkommen hinter mir und ich habe gehört, er jammere herum, dass er alles verloren habe. Er hat sogar versucht, zu meiner Tochter Kontakt per Whatsapp aufzunehmen und ihr seine Liebe zu gestehen. Sie hat ihn blockiert. Ekelig.
Aber gleichzeitig bin ich auch stolz. Stolz, dass ich nicht die Augen verschlossen habe. Dass ich mich klar abgegrenzt habe. Für meine Tochter. Für mich.
Redaktion:
Was würdest du anderen raten, die in eine ähnliche Lage kommen?
Brigitte:
Ich glaube, das passiert so schnell keiner anderen. Aber ich habe auch gelernt, dass das Unmögliche geschehen kann. Handelt. Steht zu eurem Kind. Macht keine Kompromisse. Wer Tabus übertritt, ist kein Partner. Vertrauen zu verlieren ist schmerzhaft – aber sich selbst zu verlieren, ist schlimmer.
Der Kommentar von Nina, unserem Selbsthilfe-Coach:
„Wenn ein Erwachsener ein Kind begehrt, verliert er nicht nur die Würde des Kindes – sondern auch seine eigene.“
Was Brigitte erlebt hat, ist eine Grenzverletzung, wie sie fundamentaler kaum sein könnte. Es geht hier nicht um eine „verbotene Liebe“, wie manche es vielleicht romantisieren möchten. Es geht um eine Verletzung eines Vertrauensraums, der nicht nur rechtlich, sondern vor allem emotional heilig ist.
Ihr Mann hat nicht einfach „Gefühle entwickelt“. Er hat in einen Bereich vorgedrungen, der für ein Kind – und auch für eine junge Erwachsene – identitätsstiftend war:
Die Vaterfigur.
Der Beschützer.
Der sichere Rahmen in einer Patchwork-Familie.
Solche Gefühle mögen in Einzelfällen auftauchen. Aber der entscheidende Punkt ist nicht ihr Entstehen – sondern wie man damit umgeht.
Ein reifer Mensch erkennt: „Das ist ein innerer Irrweg, keine Realität, der ich folgen darf.“ Ein unreifer Mensch macht daraus ein Geständnis – gibt dadurch die Verantwortung ab und zerstört damit zwei Leben auf einmal.
Brigitte hat in einer kaum vorstellbaren Situation etwas geschafft, das viele nicht können: Sie hat nicht gezögert. Sie hat sich und ihre Tochter geschützt, ohne in Selbstzweifel zu verfallen. Und sie hat sich nicht vom Schuldumkehrspiel ihres Mannes blenden lassen. Und dabei hat sie eine Kraft genutzt, die gerade bei Frauen oft schambehaftet ist: die Kraft der Wut. Und deshalb brauchen wir sie: es ist eine Art “heiler Zorn”, der uns die Kraft gibt, über uns hinauszuwachsen und die Situation von allem schlechten zu bereinigen. Wut gibt Kraft. Und die hat Brigitte gebraucht.
Was bleibt, ist die Frage nach dem „Wie konnte das passieren?“.
Die Antwort ist nie einfach. Aber sie beginnt dort, wo Menschen ihre emotionalen Grenzen nicht reflektieren, wo Nähe mit Besitz verwechselt wird, und wo Erwachsene ihre Verantwortung auf andere abwälzen. Liebe ist nämlich ein ganz zartes Gefühl. Ich würde in diesem Zusammenhang eher von Begehren sprechen. Und zwar in einer verwirrten, grenzverletzenden Form, die oft mit dem Wort „Liebe“ bemäntelt wird – aber nichts mit echter, reifer Liebe zu tun hat.
Liebe sieht den anderen als eigenständiges Wesen.
Begehren sieht ihn als Projektionsfläche.
Ein Mensch, der sich in die Tochter seiner Partnerin „verliebt“, verliebt sich oft nicht in die echte Person, sondern in etwas, das sie für ihn repräsentiert:
- Jugend
- Unschuld
- Bewunderung
- einen Teil, den er bei sich selbst vermisst
Es ist häufig eine Form von emotionalem Hunger, der sich tarnt als große, tiefe Verbindung – in Wahrheit aber etwas Grenzverletzendes sucht: Nähe, Macht, Kontrolle oder Selbstbestätigung. Woran erkennt man den Unterschied? Liebe respektiert Tabus. Sie kennt Grenzen und stellt das Wohl des anderen über das eigene Bedürfnis. Begehren ignoriert Grenzen. Es will haben, was es nicht haben darf – und nennt es dann „Liebe“, um sich selbst zu rechtfertigen. Und was sagt das über den Mann? Ein Mann, der sich so „verliebt“, zeigt keine romantische Tiefe – er zeigt emotionale Unreife. Er handelt nicht verantwortungsvoll, sondern egozentrisch – und verletzt dabei zwei Menschen zugleich: Die Frau, mit der er lebt, und das Mädchen oder die junge Frau, die ihm vertraut hat.
Das ist nicht romantisch.
Das ist tragisch.
Und es braucht klare Konsequenz, nicht Verständnis für seine „Gefühle“.
Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Egal, ob du selbst schreibst oder liest – „Erzähl mir dein Leben“ verbindet uns alle durch das, was uns am meisten ausmacht: unsere Erfahrungen. Du möchtest deine Geschichte erzählen? Dann schreib uns eine Mail an: redaktion@minerva-vision.de.