Kolumne

Einschulung

… dieses Mal ohne „mit“ Hund.

So gesehen … | Die Kolumne von Anna Maria Ram.

Erinnerst du dich noch an deinen ersten Schultag? Die Schmetterlinge im Bauch vor lauter Aufregung und die bereits verzehrte Ahoi-Brause aus der üppig bepackten, selbst geklöppelten Schultüte?

Kannst du noch, wenn du die Augen schließt und einmal tief einatmest, die exotische Mischung aus überfälligem Käse, preisreduziertem Aftershave und Capri-Sonne-Kirschgeschmack, diese besondere Turnhallen-Aula-Duftnote, riechen? Hörst du dabei ganz entfernt das multikulturelle Stimmgewirr, das sich wie ein unaufhaltsamer Soundteppich durch die Menge gräbt und die sich darin einmischenden verzerrten Gesangsversuche anderer Klassen, oder die Pädagogik-Nationalhymne Nummer eins: „Aramsamsam“ (Herkunft unbekannt, Schreibweise ebenso, Dichter vermutlich auf einer Marsmission verschollen)?

Wenn doch alles nur so herzlich nostalgisch und einfach wäre wie in einer ARD-Vormittags-Soap – dann wäre ich vermutlich arbeitslos, oder diejenige, die mit dem Kissen um halb neun auf der Fensterbank Falschparker denunziert, bevor sie die Kippe im abgestandenen Bier vom Vortag ertränkt.

Montag morgens, erster Schultag, High Noon der Eltern-Taxi-Parade, in unserem Randbezirk einer Großstadt.

Wer sich bisher mit dem Gedanken trägt, einen Neuwagen in unermesslichen Größen und im Farbspektrum wegen akuter Epilepsiegefahr verbotener Lackierung mit abstrakt verformten Rückspiegelanhängern zuzulegen, der stelle sich nicht etwa im nächsten Autohaus vor, sondern positioniere sich einfach zur Einschulung unserer Fünftklässler vor dem Schultor. Strategisch günstig, wie ein Großteil unserer Elternschaft, mit möglichst allen Verwandten, ja, auch der Großschwägerin achten Grades aus Weitfortistan, gerne bitte auch mitten in die Rettungsgasse, oder wahlweise mit einem Fuß auf die Mitte des leider schlecht zu sehenden, in neongelb gehaltenen Zebrastreifens. Um möglichst sinnvoll den Verkehrsfluss der zur Arbeit aufbrechenden übrigen Zivilisten nachhaltig verzögern zu können, empfiehlt sich das bewährte Kinderwagen-neben-der-Bordsteinkante-abstellen oder auch die Schultüten mit der zur Entnahme gedachten Öffnung direkt vor die Windschutzscheibe eines der ausparkenden Autos zu halten. Nur so stellt sich natürlich sicher, dass die Designer-Tüte inklusive mit Edding aufgemaltem Gucci-Logo richtig zur Geltung kommt. Solltest du dennoch Gefahr laufen, in der Menge der Scout-Ranzen-Pilgermasse unterzugehen, dürfte sich eine Bluetoothbox mit akustisch fragwürdiger Dezibelfrequenz und ein darauf abgespieltes, landestypisches Volkslied als gutes Kontrastprogramm zur Dauerschleife „Aramsamsam“ in der Turnhalle anbieten.

Beim Betreten der Halle zögere bitte nicht, dich durch gesellschaftliche Etikette wie ein freundliches Fragen nach der Sitzordnung aufhalten zu lassen, immerhin geht es um deinen Jeremy-Antoine-Korbinian oder die kleine Chantal-Marie-Culotte-Blue. Die Kinder stehen im Vordergrund an diesem einzigartigen Tag! Kreativ werden ist angesagt. Zögere nicht, die überdimensionierte, mit Panzertape befestigte, voll bekleidete Barbie-Schultüte zum vollen Einsatz zu bringen und die ordentlich in Reih und Glied wartenden Mit-Eltern dezent zur Seite zu fegen, um deinem Jackson-Phil-Marlon einen adäquaten Platz in der ersten Reihe zu sichern. Vergiss anschließend auf keinen Fall die stundenlange Foto-Session, bei der du den besten Winkel direkt auf der Bühne, vor der Schulleitung aufsuchen, um die Einschulung deiner Gemma-Princess-Josefine in ewiger Erinnerung zu halten. Und zwar für jeden.

Beginnt die Moderation des Festaktes, lass dich in deinen Telefon-Geschäften bitte nicht abhalten, nutze den einzigartigen Empfang und ignoriere die damit verbundene Rückkopplung vor den Monitorboxen der Schulanlage. Sicher haben die übrigen Eltern Verständnis und ertragen den hochfrequenten Pfeifton so lange, wie du vor der Empore auf und ab flanierst, man ist ja unter sich.

Unterstütze die nun liebevoll gestalteten Darbietungen anderer Klassen gern durch verbessernde Zwischenrufe, asynchrone Beifallsattacken oder das ausgiebige, verstörend röchelnde Niesen und Husten in ruhigeren Phasen des Bühnenprogramms. Du wirst somit sicherlich schnell Anschluss an die neue Elternschaft bekommen, ob du willst oder nicht.

Ein schöner Abschluss bietet sich dann, wenn dein Danny-Horatio-Liam endlich aufgerufen und zu seiner neuen Lehrkraft gebracht wird. Erwartungsvoll und mit Krokodilstränen in den Augen erhebst du dich mit deiner kleinen Sophie-Ganasch-Petunia und schreitest ehrfürchtig auf die in nachhaltig eingefärbte Second-Hand-Blazer gekleideten Lehrpersonen zu. Bitte begleite diesen Gang möglichst so weit, bis du die Falten auf der Stirn von Lehrerin Kritzelblitz erkennen oder den gefärbten Ansatz des Wimpernkranzes von Lehrer Brabbelplautz ausmachen kannst. Hier stehst du richtig: mittendrin, statt nur dabei! Und ja, du darfst ungefragt die Schultüten der Nachbarkinder auf eventuelle Allergene hin untersuchen und öffnen, wer kann denn schon wissen, was Familie Stumpelrilzchen ihrem Ferdinand-Jerome da eingetütet hat? Du willst ja schließlich nur helfen, und gesunde Ernährung wird großgeschrieben.

Das Gruppenfoto vor dem magischerweise bereits während der Einschulungsfeier verputzten Buffet ist ebenfalls ein Meilenstein edukativer Ersterfahrungen. Von der Üppigkeit der Backwaren zeugen nunmehr die Einzelverpackungen der Mini-Marmorküchlein und der eigenständig kurz vor Feierbeginn eingekauften belgischen Waffeln mit Hirse-Safran-Teig im Tapioka-Mantel an nachhaltigem Mandelsirup-Ersatz.

Ignoriere an dieser Stelle, beim gemütlichen Streit mit deinem Nachbarn um die eingebeulte Barbie-Schultüte deiner Felizitas-Chayenne, den einfahrenden Rettungswagen, der sich mit vollem Einsatzgeräusch durch die wartenden, essenden, fotografierenden Eltern zu mähen versucht. Sicherlich einfach nur eine nette Aktion der lokalen Rettungswache zum Präventionsunterricht. Anschaulich auch die in Fötusstellung auf dem Turnhallenboden kauernde Lehrerin Kritzelblitz, die anschließend, nach mehrfachen Aufstehversuchen, im Rollstuhl zum zwei Straßen weiter geparkten Rettungswagen verfrachtet werden kann. Hier bekommst du eben noch etwas geboten, du und dein Kind, das ist Unterhaltung – DAS ist Einschulung.

Und ich kann dich beruhigen – von meinem mit Schwimmweste und Hausnotrufknopf gesicherten Platz im Chemieraum neben dem Feuerlöscher hatte ich einen unterhaltsamen Blick auf die Szenerie und freue mich im nächsten Jahr auf ein weiteres Mal, wenn es wieder heißt: Einschulung, die im alten Rom, im Kolosseum, sicherlich für euphorischen Beifall gesorgt und jeden Gladiator vor Neid hätte erblassen lassen!

Nimm es mit Humor, sonst nimmt er dich 😊
In diesem Sinne: Einen schönen Start ins Schulleben!


Anna Maria Ram arbeitet als Pädagogin im hessischen Schuldienst. Dabei begleiten sie phasenweise ihre Deutschen Boxer, alle aus dem Tierschutz, in Klassen mit besonderen Ansprüchen und Lernschwierigkeiten. Anna Maria ist ebenfalls Buchautorin. Ihr Buch „Die anderen sind eh schlauer als uns!“ erscheint im Minerva Verlag. Für das Magazin „HundeWelt“ schreibt sie regelmäßig ihre eigene Kolumne. Hier auf Minerva VISION liegt ihr Schwerpunkt auf den Skurilitäten des Alltags.


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